Schach im noblen Schaufenster
Impressionen vom „Tag des Schachs“ in Berlin
Von Harald Fietz
Vergangenes Jahr hatte der Deutsche Schachbund eine wirklich gute Idee: Der
letzte Samstag im August wurde zum „Tag des Schachs“ erklärt! Ein solcher
Fixpunkt im Kalenderjahr bringt zumindest zwei positive Effekte. Einerseits gibt
es einen Grund, die lokalen Medien neugierig zu machen, denn wer verpasst schon
gerne einen Gedenktag. Anderseits mobilisiert man – kurz nach den Sommerferien –
die eigenen Mitglieder vor der neuen Spielzeit zu einer gemeinsamen Aktion. Für
die zweite Auflage erkor man - auch das war kein schlechter Gedanke - das Motto
der Städtevergleiche. Nur wollten nicht alle ihre „Tradition“ aus dem Vorjahr
aufgeben. Dazu gehörten auch die Hauptstädter. Der Berliner Schachverband setzte
erneut auf die Triumphkarte eines Mannschaftsvergleichs „Alt gegen jung“. Die
Alterspanne zwischen dem ältesten Teilnehmer und dem jüngsten Figurenschieber
betrug fast 80 Jahre! Am Ende waren an für einen Schachwettkampf ungewöhnlicher
Stätte die Senioren mit 37:33 wiederum erfolgreich.
Unter der reibungslosen organisatorischen Federführung des Berliner Jugendwarts
Carsten Schmidt versammelten sich am 30. August Samstagmorgen um 10 Uhr, wenn
das Geschäftstreiben in Berliner Einkaufszentren erwacht, reichlich Recken
beider Generationsgruppen zum umkämpften, aber nie verbissenen Wettstreit. Aus
der westlichen City zwischen Bahnhof Zoo und Ku'damm war man an den zentralen
Ort im brodelnden Leben der Metropole, den Potsdamer Platz, gewechselt. Zu
Mauerzeiten ein öder Fleck im Niemandsland des "anti-kapitalistischen" Schutzwalls
ist es heute die Schnittstelle der Verkehrs- und Lebensströme im urbanen
Flickenteppich Berlin mit seinen 3,3 Millionen Einwohnern und seinen
Befindlichkeiten zwischen räumlich-umgrenzter Kiezidentität und weltläufiger
Offenheit.
Eigentlich wollten die Schachspieler Openair die Aufmerksamkeit auf sich lenken,
aber das wechselhafte Wetter machte dem einen Strich durch die Rechnung. Statt
des Marlene-Dietrich-Platzes, wo sonst die Leinwandprominenz zu den Berliner
Filmfestspielen über den roten Teppich defiliert, fanden die Denksportler gleich
nebenan bei der Marke mit dem guten Stern Aufnahme! Im Ausstellungsraum des vom
italienischen Stararchitekten Renzo Piano entworfenen 21-geschossigen
Hauptquartiers von DaimlerChrysler Services stehen nur Nobelkarossen in
Preiskassen ab einem guten Jahresgehalt aufwärts – also königlicher Sport
zwischen fürstlichen Preisen!
Und wie im Vorjahr schienen heuer beide
Zehn-Mann-Teams gewillt, mit viel Verve an die 15-Minuten-Partien zu gehen. Die
Senioren vertraten so prominente Namen wie der frühere Fernschach-Weltmeister
Fritz Baumbach (SC Friesen Lichtenberg), FM Harald Lieb (SK Zehlendorf), FM
Alexander Delander (SW Neukölln), der nie zu unterschätzende Berliner
Verbandspräsident Alfred Seppelt (Lasker Steglitz-Wilmersdorf) und sein früherer
DSB-Kollege Alfred Kinzel (Märkischer SV Neuruppin). Hinzu kamen verdiente
Mitglieder der Berliner Schachszene: Horst Bläsing (früher eine Stütze der 1.
Mannschaft von König Tegel), Dieter Lentschu (der frühere Berliner
Seniorenreferent und auch vom SC Friesen Lichtenberg), Eberhard Metzger (der
frühere Vorsitzende von Zitadelle Spandau), Hans Reimer (der 1. Vorsitzender von
Humboldt Wedding), Sigurd Krüger (Post Wedding) und Dr. Joachim Fechner
(Landesspielleiter und ebenfalls von Post Wedding). Auf Seiten der Jugendauswahl
formierten sich mit vielen Berliner Jugendmeistertiteln und Meriten bei
deutschen Meisterschaften dekorierte SpielerInnen. Von König Tegel kamen
Stefanie Schulz (Dritte der Deutschen U-18 2003), Alina Rath (die erst
15-jährige Berliner U-18 Meisterin 2003), Dimitry Suchin (Berliner U-18 Meister
2003), Miran Alic und Matthias Thiele (der Ergänzungsspieler des
Zweitbundesligisten mit 20 Jahren fast der Jugend entwachsen). Der SC Kreuzberg
war durch seine U-14 Champions vertreten: Atila Figura (Deutscher U-14 Meister
2003) und Ilja Brener (Dritter der deutschen U-14 Meisterschaft 2003). Jeweils
einen Spieler schickten Makkabi Berlin (den mit elf Jahren Jüngsten im Feld,
Georg Kachibadze, den Berliner U-12 Meister 2003), SK Zehlendorf (den ebenfalls
elfjährig Thomas Schrödter), Chemie Weißensee (den Berliner Jugendsprecher
Christian Laßan, den Berliner U-16 Meister 2003), Empor Berlin (den Neuzugang
für das Oberliga-Team Sergej Kolessov, den Berliner U-16 Meister 2002) und
Lasker Steglitz-Wilmersdorf (den im vergangenen Jahr aus der Schachjugend
verabschiedeten Fabian Gallien).
Gespielt wurden zunächst Mini-Matchs a zwei Partien (ältester gegen jüngster
Spieler, Zweitältester gegen Zweijüngster usw.) und dann fünf Runden im
Scheveninger System. Es ging also nicht um die höheren Weihen im Schach, sondern
um Werbung für das intelligenteste Brettspiel. Bezeichnend eine Episode aus der
Auftaktrunde. Der im kommenden Jahr sein zwanzigjährigen Jubiläums vollendende
Verbandspräsident Alfred Seppelt stand gegen Thomas Schrödter mit dem Rücken zur
Wand, aber in Zeitnot griff der Elfjährige mehrfach fehl, so dass der 74-Jährige
seinen letzten Bauern unterstützt von Kg2 bis h2 brachte. Doch der durch den
König in der e-Linie gedeckte Sf3 schlug diesen raus. Auf Seppelts Ausruf „Zeit“
mit Fingerzeig auf die Uhr konterte Schiedsrichter Carsten Schmidt trocken:
„Remis!“. Kein Widerspruch vom Verbandsboss, auch wenn die Senioren wussten,
dass sie zu Beginn vorlegen musste, weil die Jugendlichen in den letzten Runde
für gewöhnlich das bessere Stehvermögen haben. Anno 2002 gewannen die älteren
Semester 38,5:31,5, auch heuer behielt die Rentnertruppe mit 37:33 die Oberhand.
„Diese Senioren!“, stöhnte wohl schon zurecht bei Halbzeit der gebürtige
Berliner georgischer Herkunft Georg Kachibadze.
Trotz unbestrittener Verdienste aller Vorkämpfer stach einer heraus.
DSB-Ehrenpräsident Alfred Kinzel ließ es sich wiederum nicht nehmen, aus seinem
brandenburgischen Alterswohnsitz, der Fontane-Geburtsstadt Neuruppin, an seine
frühere Wirkungstätte zu kommen, und mit seiner Vitalität Spieler und Zuschauer
gleichermaßen zu faszinieren. Am 28. September vollendet er das 91. Lebensjahr,
und in punkto Kampfgeist und Fairness nimmt es der Veteran, der zwischen 1975
und 1983 als Chef die Geschicke des DSB leitete, mit jedem 30 Jahre jüngeren
Frühpensionär auf. Sein sportliches Ergebnis lag mit 4:3 Punkten im positiven
Bereich. Dabei sind die Heranwaschenden von heute zwar höflich, aber zugleich
immer am vollen Punkt interessiert. Zwei Beispiele unterstreichen, was es heißt,
Vorbild zu sein. In der ersten Partie saß der vom Weltschachverband zum „Ritter
der FIDE“ ernannte frühere Spieler des Berliner Traditionsvereins „1827
Eckbauer“ dem 21-jährigen Fabian Gallien gegenüber. Nach unorthodoxer Eröffnung
wechselte das Kampfglück – erst hatte Kinzel einen Mehrbauern, dann etablierte
der Oberliga-Spieler von Lasker Steglitz-Wilmersdorf einen Freibauern, den er
unaufmerksam einstellte. Nach einem weisen Remisangebot kam es in der vierten
Runde zu einem gerechten Ausgang.
Französisch [C00]
A. Kinzel – F. Gallien
Berlin (Tag des Schachs 2003)
1.e4 e6 2.d3 d5 3.Sd2 Sf6 4.g3 c5 5.e5 Sfd7 6.f4 Sc6 7.Sgf3 Le7 8.Lg2 Sb6 9.0–0
Ld7 10.c4 Sb4 11.De2 Lc6 12.a3 Sc2 13.Tb1 dxc4 14.Sxc4 Sxc4 15.Dxc2 Sb6 16.Le3
Tc8 17.Tbc1 Ld5 18.Sd2 0–0 19.Se4 Lxe4 20.Lxe4 g6 A tempo gespielt! 21.Lxb7 Tc7
22.Le4 Sd5 23.Lf2 Dd7 24.De2 Tfc8 25.Tc4 Sb6 26.Tc2 Db5 Nach einigem Überlegen
die Flucht nach vorne! 27.Tfc1 Sd7 28.Le3 Sb6 29.b4 Sd5 30.Lxd5 exd5 Weiß hatte
noch acht Minuten übrig und Schwarz nur vier Minuten! 31.Lxc5 Lxc5+ 32.Txc5 Txc5
33.Txc5 Txc5 34.bxc5 Dxc5+ 35.Kg2 Dxa3 36.Dc2 De7 37.Dc6 d4 38.De4 Dd7 39.h4 h5
40.Kf2 a5? 41.Da8+ Kg7 42.Dxa5 Dc6 43.Dd2 und Kinzel bot mit fünf gegen drei
Minuten großzügig Remis an. ½–½
Zum Abschluss des Schachtages begegneten sich zwei gegensätzliche Typen. Hier
der lebenserfahrene 90-Jährige, dort der 14-jährige aktuelle deutsche
Jugendmeister seiner Altersklasse, der in seinem Interesse vollständig auf das
königliche Spiel orientiert ist. Leicht warfen beide Spieler die Züge auf das
Brett, aber letztlich war es die durch die mehr als vierstündige Veranstaltung
herabgesetzte Reaktionszeit, die dem stets mit seiner Schiebermütze antretenden
Senior Aufmerksamkeit und Partie kostete. Im nächsten Jahr will er, der schon in
einer kurzen Ansprache zu Beginn den generationsverbindenden Gedanken der
Veranstaltung lobte, wieder dabei sein - wenn es die Gesundheit erlaubt.
Königsindisch [E87]
A. Figura – A. Kinzel
Berlin (Tag des Schachs 2003)
1.d4 Sf6 2.c4 d6 3.Sc3 g6 4.e4 Lg7 5.f3 Sbd7 6.Le3 e5 7.d5 0–0 8.Sh3 Sc5 9.Sf2
Sh5 10.b4 Sd7 11.Le2 Sf4 12.Lf1 f5 13.g3 Sh5 14.Ld2 f4 15.g4 Shf6 16.h4 h5 17.g5
Se8 18.Lh3 Sb6 19.Lxc8 Txc8 20.Db3 Kh7 21.c5 Sd7 22.Sd3 b6 Bisher wurde zügig
gespielt. Weiß blieben noch zehn Minuten, Schwarz zwölf Minuten übrig. 23.c6 Sb8
24.b5 a5 25.bxa6 Sxa6 26.a4 Sc5 27.Dc4 Ta8 28.Kd1 Ta5 29.Sb5 Da8? Mit einem
"Hey, habe ich überhaupt nicht gesehen!" registrierte der früher in der Berliner
Polizeiverwaltung tätige Kinzel locker seine Fahrlässigkeit. 30.Lxa5 Dxa5 31.Kc2
Tf7 32.Db4 Da6 33.Thd1 Lh8 34.a5 Sg7 35.Sc3 b5?! 36.Dxb5 Tf8 37.Sxc5 Dxb5
38.Sxb5 dxc5 39.Sxc7 Tc8 40.d6 1–0
Zum Nachspielen...
Was bleibt sonst haften? Viele Zuschauer riskierten an den Fensterscheiben einen
neugierigen Blick auf das Treiben im noblen Autosalon oder bestaunten als
Besucher der Luxuslimousinen überrascht den ungewöhnlichen Wettstreit. Die
Werbematerialien - insbesondere die aktuellen Postkarten und Flyer aus den
Reihen der Deutschen Schachjugend - sind pfiffiger als das Faltblatt aus dem
letzen Jahr. „Schach ist Treibstoff fürs Gehirn“ passte als Slogan genau in die
edle Wandelhalle chromblitzender Prestigeobjekte! Doch leider hat hier in Berlin
(wie vielleicht auch andernorts?) kaum jemand verstanden, dass Werbematerialen
auch unter das Volk gebracht werden müssen. Wie verdutzt wäre der Bürger erst,
wenn er diese Druckerzeugnisse mit kompetenten Erklärungen von freundlichen
SpielerInnen in die Hand gedrückt bekommt? Gerade nach der PISA-Studie und
angesichts steigender Lebenswartung muss Otto-Normalverbraucher von Angesicht zu
Angesicht im Dialog begeistert werden. Ein heiter-beschwingter Tag war es
trotzdem.
Schach zwischen Karossen - Fotogalerie:
Ein Duell, dass Vorzeichen für den gesamten Tagesverlauf setzte:
Ex-Fernschachweltmeister Fritz Baumbach behielt gegen den Berliner U-18 Meister
Dimitry Suchin die Oberhand.
FM Adolf Delander war zum zweiten Mal beim Tag des Schachs dabei.
Dr. Joachim Fechner versteht sich als Landesspielleiter nicht nur
auf das Verwalten sondern auch die Praxis am Brett.
Dieter Lentschu war früher für das Seniorenreferat beim Berliner Schachverband
zuständig.
Hans Reimer ist schon lange Jahre Vorsitzender von Humbolt Wedding.
Mit 74 Jahren will Alfred Seppelt 2004 nach 20 Jahren den Posten als Präsident
des Berliner Schachverbandes aufgeben.
Der „Ehrenritter der FIDE“ Alfred Kinzel zog wie im Vorjahr die faszinierten
Blicke von jung und alt auf sein Spiel.
Der deutsche U-14 Meister Atila Figura kannte in der Schlussrunde keine Gnade
mit Alfred Kinzel.
Ilja Brener vom SC Kreuzberg gilt als eines der größten Schachtalente
Deutschlands (im Hintergrund verfolgt seine Mutter das Spiel).
Georg Kachibadze hatte keinen leichten Stand gegen die Veteranen und stöhnte:
„Diese Senioren!“
Christian Laßan, der Sprecher der Berliner Schachjugend, verteidigte umsichtig
sein Brett.
Matthias Thiele, Ergänzungsspieler vom Zweitbundesligisten König Tegel, war
letztmals bei einem Jugendwettbewerb dabei.
Die 15-jährige Alina Rath von König Tegel ist bereits Berliner U-18 Meisterin.
Stefani Schulz ließ es sich - trotz einer Feier am Vorabend – nicht nehmen,
später für Alina Rath in den Generationenvergleich einzusteigen.
In der letzen Runde räumten Laßan und Krüger fast das gesamte Brett ab. Ein
italienischer Fußball-Coach hätte trefflich resümiert: „Habe fertig!“
Gruppenbild der Generationen: (von links) Hans Reimer, Eberhard Metzger, Fritz
Baumbach, Fabian Gallien, Christian Laßan, Atila Figura, Matthias Thiele, Alfred
Kinzel, Stefanie Schulz, Ilja Brener, Miran Alic, Thomas Schrödter, Dimitry
Suchin, Sigurd Krüger, Joachim Fechner, Alfred Seppelt, Adolf Delander, Horst
Bläsing und Dieter Lentschu.
Manche Heranwachsende – wie hier Miran Alic – wollten die weiblichen Besucher –
hier die 21-jährige Stephanie Rudolph von der TSG Oberschöneweide - nicht nur
durch intelligente Züge beeindrucken. Was die junge Dame wohl davon hält?
Fotos: Harald Fietz