Ist Schach bloß ein Spiel? Oder Sport - oder doch
eher Kunst? Während da die Meinungen auseinandergehen, demonstriert ein
Leitender Oberstaatsanwalt im Ruhestand, DR. HANS ELLINGER (68) aus
Tübingen, dass man sich mit Schach auch hoch wissenschaftlich beschäftigen
kann. Seit bald anderhalb Jahrzehnten gibt der Jurist eine gelehrte Reihe
zum schlauen Spiel heraus; der Autor DR. RENÉ GRALLA hat sich die Highlights
im Interview für die Tageszeitung "Neues Deutschland" vorstellen lassen.
ND: Regelmäßig veröffentlichen Sie "Tübinger
Beiträge zum Thema Schach". Wie hat das Projekt angefangen?
HANS
ELLINGER: Ich bin nicht nur Aktiver am Brett und trage den Titel eines
FIDE-Meisters, sondern ich bin auch Schachbuchfan und -sammler. Insbesondere
interessiere ich mich für die Historie unseres Spiels, und so habe ich
irgendwann Anfang der 90-er Jahre entdeckt, dass es zur Frühgeschichte des
Schachs eine Untersuchung gab, von der nur noch eine maschinengeschriebene
Fassung in einer Bibliothek im niederländischen Den Haag existierte. Autor
war der Tübinger Professor Paul Thieme, und weil wir damals in derselben
Stadt lebten, gelang es mir, Kontakt mit ihm aufzunehmen und ihn davon zu
überzeugen, sein Werk 1994 neu herauszubringen. Das war gleichzeitig der
Start meiner Reihe, die bis heute acht Bände umfasst; momentan ist die
neunte Folge in Vorbereitung.
ND: Zwei Schulen streiten darüber, wann und wo
Schach erfunden worden ist: vor gut 2200 Jahren in China, während der
kriegerischen Epoche der Streitenden Reiche, oder im fünften
nachchristlichen Jahrhundert in Indien.
ELLINGER: Paul Thieme war ausgewiesener Indologe.
Indem er Parallelen zwischen der Aufstellung der alten indischen Heere und
der Positionierung der verschiedenen Schachfiguren im Spiel herausgearbeitet
hat, begründete er die These, dass Schach aus Indien stammt. Ergänzend
berief er sich auf die Ergebnisse vergleichender Sprachforschung.
ND: Besonders bemerkenswert ist Ihre 1996
erschienene dritte Edition, Titel: "Schach unterm Hakenkreuz". Darin
untersucht der Autor Ralf Woelk die politischen Einflüsse auf das
Schachspiel im Dritten Reich.
ELLINGER: Entsprechend interessiert reagierte das
Fachpublikum: Das Buch war kurze Zeit nach seinem Erscheinen vergriffen.
ND: Seltsam eigentlich, dass die
Nationalsozialisten ein Spiel, bei dem sich die Teilnehmer meist anschweigen
und das kaum zu Fanfarenaufmärschen passt, für ihre Propaganda vereinnahmen
wollten.
ELLINGER: Vor 1933 gab es in Deutschland
bürgerlich-nationale Schachvereine, zwei Verbände aus dem Lager der
Arbeiterbewegung sowie mehrere katholische Schachbünde. Nach Hitlers
Machtergreifung wurde auch das Schachleben gleichgeschaltet, im sogenannten
"Großdeutschen Schachbund" (GSB). Die Arbeiterschachorganisationen wurden
verboten und zerschlagen. Gleichzeitig dekretierte der neue "Bundesleiter"
des GSB, Otto Zander: "Juden können wir zu unserer Arbeit nicht gebrauchen,
sie haben aus unseren Vereinen zu verschwinden."
ND: Emanuel Lasker, der bisher einzige
Schachweltmeister, den Deutschland gestellt hat, musste zusammen mit seiner
Frau Martha emigrieren ...
ELLINGER: ... sie fanden Zuflucht zunächst in der
Sowjetunion, wo Emanuel Lasker im Moskauer Turnier 1935 sogar noch den
dritten Platz erreichte. Ende Oktober 1937 siedelte das Ehepaar in die USA
über; während Laskers Schwester Theophila in ein Konzentrationslager
verschleppt und dort vermutlich umgebracht wurde.
ND: Theophila Lasker teilte dieses Schicksal mit
unzähligen jüdischen Leidensgefährten ...
ELLINGER: ... der polnische Problemkomponist,
Vize-Amateur-Weltmeister von 1928 und Schachmäzen David Przepiorka starb
1940 in einem KZ. Der gebürtige Pole und spätere niederländische
Staatsbürger Salo Landau wurde 1943 im KZ Dachau ermordet. Opfer des
Holocaust wurden auch die ungarischen Brüder Andreas und Lajos Steiner;
Andreas Steiner hatte zum Kader der ungarischen Nationalmannschaft auf
mehreren Olympiaden gehört. Die Brüder kamen 1944 um, als sie deutschen und
ungarischen Faschisten in die Hände fielen. Diese Namen stehen für
Millionen, die irgendwann verschwanden, wie der zweimalige jüdische Meister
von Deutschland, Fajarowicz.
ND:
Wie ist es den Nationalsozialisten gelungen, das Schachspiel ideologisch zu
kapern und für die eigene Propaganda zu missbrauchen?
ELLINGER: NS-Funktionäre riefen Schach zum
"geistigen Kampfsport der Deutschen" aus. Exemplarisch ist die Antrittsrede
des Regierungspräsidenten Wallroth, als er 1933 Schirmherr über den
Niederelbischen Schachbund wurde: "Schachspielen heißt kämpfen bis zur
Niederringung des Gegners, da gibt es keine Kompromisse, nur Sieg und
Untergang. Im Schach geht's nach dem Führerprinzip, alles folgt dem Wink des
Führers."
ND: Ralf Woelk weist unter anderem nach, dass der
seinerzeit amtierende Weltmeister Alexander Aljechin, der während der
Kriegsjahre 1941 bis 1943 zuerst in Krakau und dann in Prag wohnte, mit den
Nationalsozialisten kooperierte, um seinen Lebensunterhalt zu sichern ...
ELLINGER: ... der hat sich sogar in einer
Artikelserie sehr abfällig geäußert über das so genannte "jüdische" Schach,
das angeblich "opportunistisch" und "allein auf materiellen Gewinn" fixiert
sei. Dem stellte Aljechin das "arische" Schach gegenüber, das er als "mutig
und entschlossen" und "von Anfang an auf Sieg und Angriff" ausgerichtet
feierte.
Verdiente sein Geld mit Schach während der
Kriegsjahre 1941 - 1943 im nationalsozialistischen Deutschland, bevor er
sich 1943 nach Madrid absetzte:
Weltmeister Alexander Aljechin (im Bild sitzend dritter von links im Kreise
vom Mitstreitern während des "Europa-Turniers" 1941 in München).
ND: Die Nationalsozialisten haben eine eigene
Spielvariante namens "Wehrschach" kreiert. Denn sie warfen dem
traditionellen Schach vor, dass es zu abstrakt sei und nichts mit der
modernen Kriegsführung zu tun habe; deswegen tauge es nicht zur
Wehrerziehung.
ELLINGER:
Das "Wehrschach" wurde ausgetragen auf einem elf mal elf Felder großen
Spielplan, der Geländemarken enthielt wie Seengebiete und einen Fluss. Zum
Einsatz kamen statt der herkömmlichen Figuren nun Artillerie, Panzer und
Infanterie sowie Jagd- und Kampfflieger. Diese Einheiten mussten versuchen,
eine Hauptfigur auszuschalten. "Tak-Tik", wie das Spiel auch hieß, wurde von
der Wehrmacht an die Soldaten verteilt; allerdings sind das wohl nicht mehr
als rund 25.000 Exemplare gewesen.
ND: Womit beschäftigt sich Band 9 Ihrer Tübinger
Schachbeiträge, dessen Veröffentlichung in Kürze zu erwarten ist?
ELLINGER: Der zweite Weltmeister der
Schachgeschichte, der bereits erwähnte Emanuel Lasker, und sein Bruder
Berthold haben 1925 ein Drama geschrieben: "Vom Menschen die Geschichte".
Das komplexe Theaterstück sollte Laskers philosophische Überlegungen auf die
Bühne bringen. Emanuel Lasker hatte nämlich ein philosophisches Konzept
entwickelt, das er "Machologie" nannte; er wollte allgemeine Prinzipien aus
dem Schachspiel abstrahieren und auf die Lebenswirklichkeit übertragen. Das
Werk der Lasker-Brüder war fast vollständig verschollen, bis auf die Kopie
eines einzigen Pflichtexemplars aus einer Universitätsbibliothek. Und die
wird jetzt vom Lasker-Experten und Walter Jens-Schüler Tim Hagemann, der in
Tübingen Rhetorik lehrt, für eine neue Edition aufgearbeitet. Tim Hagemann
präsentiert das Buch demnächst im Rahmen einer Lesung in den Räumen der
Berliner Emanuel-Lasker-Gesellschaft.
ND: Abgesehen von der stark nachgefragten
Publikation "Schach unterm Hakenkreuz" werden sich Ihre Auflagen, da es sich
um eine wissenschaftliche Reihe handelt, wohl im überschaubaren Rahmen
bewegen ...
ELLINGER: ... die Auflagen sind stets minimal,
zwischen 200 und 400 Exemplaren. Ich versende die Bücher direkt an
Interessenten; jede Edition finanziere ich aus eigenen Mitteln vor, und
jedes Mal gehe ich mit einem finanziellen Minus aus der Sache raus. Das ist
eben meine idealistische Seite, die mich antreibt.
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Anfragen zu den "Tübinger Beiträgen zum Thema
Schach" direkt an den Herausgeber: <drhansellinger@aol.com>
Leserbrief:
»Schach und Faschismus« ist sicher eines der
interessantesten Kapitel in der Geschichte des Brettspiels. Dankbarer Weise
macht das Interview mit Herrn Ellinger darauf aufmerksam. Das genannte Buch
von Ralf Woelk (»Schach unterm Hakenkreuz« ist zweifellos eines der besten
Beiträge zum Thema. Leider hat sich darin ein kleiner Fehler eingeschlichen,
der sich noch in dem Interview hartnäckig hält. Richtig ist zwar, dass der
jüdische Spieler Andreas (oder Endre) Steiner vermutlich von Faschisten
getötet wurde (1944 in Budapest). Auch sein Vater Bernat verlor sein Leben
in dem von Nationalsozialisten zusammen mit den ungarischen Pfeilkreuzern
ausgeübten Terror. Doch sein Bruder, der Internationale Meister Lajos
Steiner, überlebte und verstarb erst 1975 in Sydney.
Ansonsten wünsche ich der Arbeit von Herrn Ellinger
sowie der guten Schachberichterstattung des Neuen Deutschland weiterhin viel
Erfolg.
Mario Tal