60 Jahre Karpov

von ChessBase
23.05.2011 – Nachdem Fischer Weltmeister wurde, verschwand er von der Bildfläche. In Anatoli Karpov wuchs nun ein ernsthafter Rivale heran, der das Schach später ein Jahrzehnt lang dominieren würde. Es gab Verhandlungen mit Fischer, doch der Wettkampf fand zum Bedauern der Schachwelt nie statt. Nachdem Karpov den Titel 1975 kampflos erhielt, eilte er von Turnier zu Turnier und gewann diese zumeist. Erst mit Kasparov erwuchs dem amtierenden Weltmeister Mitte der 1980er Jahre jemand, der mithalten konnte. Fünf Jahr lang tobte die Schlacht zwischen den beiden besten Schachspielern der Welt und wurde nicht nur am Schachbrett geführt. Später besuchte Karpov seinen früheren Widersacher im Gefängnis. Die beiden "Ks" begruben das Kriegsbeil und zogen sogar bei der letzten FIDE-Wahl Schulter an Schulter in den Wahlkampf. Heute feiert Anatoli Karpov seinen 60sten Geburtstag. In der nächsten Saison können Karpov-Fans ihr Idol übrigens auch in der Bundesliga bewundern, wenn er für Aufsteiger Hockenheim ans Brett tritt. Dagobert Kohlmeyer würdigt den 12. Weltmeister. Mehr...

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Filigrane Schachzüge, Briefmarken und die große Politik
Anatoli Karpow feiert heute seinen 60. Geburtstag
Von Dagobert Kohlmeyer

Als er am 23. Mai 1951 in Slatoust, einer Stadt im südlichen Ural geboren wurde, ahnte niemand, dass dort eine der erstaunlichsten Schachkarrieren ihren Anfang nehmen würde. Der 12. Weltmeister Anatoli Karpow trug die Krone von 1975 bis 1985 und noch einmal den Titel des FIDE-Champions von 1993 bis 1999. Seine Zweikämpfe mit Garri Kasparow sind Legion. Karpows Schachstil gilt als universell, sehr filigran und weist kaum Schwächen auf. „Ich mag die Koordination meiner Figuren. Harmonie auf dem Brett geht vor Risiko. Ich spüre sehr gut, wenn in einer Stellung etwas nicht stimmt“, sagt er. Dieses außergewöhnlich tiefe Schachverständnis haben nur ganz wenige Großmeister.

Mit vier Jahren erlernte der kleine Anatoli von seinem Vater, einem Ingenieur, das königliche Spiel. Schon früh wurde die ungewöhnliche Begabung des Jungen erkannt und im Pionierpalast von Slatoust gefördert. Später spielte Anatoli auch in der Gebietshauptstadt Tscheljabinsk. Von dort stammt Großmeister Jewgeni Sweschnikow, der die Schachtheorie bereits in jungen Jahren durch eine populäre Variante der Sizilianischen Verteidigung bereicherte.

Von 1963-68 absolvierte Karpow die berühmte Schachschule Michail Botwinniks in Moskau. Der fünffache Weltmeister war eine absolute Autorität und lobte seinen Musterschüler selten, obwohl er natürlich merkte, dass Karpow „ein Talent ohnegleichen“ in die Wiege gelegt worden war.

Persönlich ging der Patriarch des sowjetischen Schachs daran, diesen Rohdiamanten zu schleifen, der später einmal die meisten Turniersiege in der Geschichte erringen sollte.

In Moskau spielte er beim Schachklub ZSKA, wo ihn Großmeister Jewgeni Wasjukow unter seine Fittiche nahm. Der heute 78-jährige Schachveteran erinnert sich: „Anatoli besetzte damals bei uns das Jugendbrett, und ich empfahl dem sowjetischen Schachverband, ihn zur Jugendweltmeisterschaft zu schicken. Das passierte dann auch.“


Karpow mit Leonid Stein

1969 wurde Karpow in Stockholm mit 10 Punkten aus 11 Partien Weltmeister U20, ein Jahr später erhielt er den Großmeistertitel. Als er 1971 mit 20 Jahren das Aljechin-Memorial in Moskau gewann, konnte selbst Botwinnik nicht mehr an sich halten: „Heute ist ein neuer Stern am Schachhimmel aufgegangen“, äußerte er voller Freude.

Und doch gibt es bei Karpow eine Besonderheit, an der kein Chronist vorbeikommt: In der gesamten Schachgeschichte ist er der einzige Weltmeister, dem die Krone ohne ein finales Match zufiel. Es war allerdings nicht seine Schuld. Nachdem er in harten Kandidaten-Duellen seine sowjetischen Landsleute Lew Polugajewski, Boris Spasski und Viktor Kortschnoi besiegt hatte, wurde er Herausforderer des amerikanischen Weltmeisters Bobby Fischer. Dieser weigerte sich jedoch, gegen Karpow zu spielen bzw. stellte viele unannehmbare Forderungen. So beharrte er zum Beispiel auf einer unbegrenzten Spieldauer bis zum 10. Sieg. Der Weltschachbund akzeptierte das nicht und setzte Fischer verschiedene Fristen. Als am 1. April 1975 das letzte Ultimatum verstrichen war, wurde der Amerikaner disqualifiziert. Der damalige FIDE-Präsident Max Euwe kam nach Moskau und hängte Karpow den Lorbeerkranz des Weltmeisters um.

In einem unserer Interviews fragte ich Karpow, ob er es bedauert, niemals mit Fischer gespielt zu haben. Die Antwort: „Fischer sollte es mehr bedauern als ich. Unser nicht gespieltes Match ist ein Versäumnis der Schachgeschichte. Ich habe alles dafür getan und mich dreimal heimlich mit Fischer getroffen: in Japan, in Spanien und in den USA.“


Kortschnoj-Karpov, Moskau 1974

In diesem Zusammenhang enthüllte Karpow vor ein paar Jahren folgendes pikante Detail: „Der 26. Juli 1976 war ein schwarzer Tag in der Geschichte des sowjetischen Schachs. Damals fand um 19 Uhr in Tokio mein erstes Gespräch mit Fischer statt. Zur gleichen Zeit, es war 10 Uhr in Mitteleuropa, bat der abtrünnige Viktor Kortschnoi in Amsterdam auf einer Polizeiwache um politisches Asyl und blieb im Westen. Die Mächtigen in Moskau waren schockiert.“

Karpow kehrte stets in seine Heimat zurück. Den Vorwurf, ein Karrierist gewesen zu sein, weist er von sich. Sicher war er bereits in jungen Jahren Parlaments-Abgeordneter und Ordensträger der UdSSR, … aber: „Ich trat erst mit 29 Jahren in die Partei ein. Da war ich schon zweimaliger Weltmeister. Kasparow hingegen ist bereits mit 18 Jahren KPdSU-Mitglied geworden. Doch darüber redet heute natürlich niemand mehr.“

Nachdem er den WM-Titel erhalten hatte, versprach Karpow, ein spielender Champion zu sein. Er hielt Wort und startete in unzähligen Turnieren. Bis zum heutigen Tag hat er über 160 Siege in internationalen Wettbewerben errungen und ist damit erfolgreichster Turnierspieler aller Zeiten.

Es ist unmöglich, die zahllosen Meriten Karpows nur annähernd aufzulisten. Zwischen 1976 und 1988 gewann er dreimal die UdSSR-Meisterschaft, das härteste Schachturnier der Welt. Er spielte von 1978 bis 1998 insgesamt zehn WM-Kämpfe. Seine Finalgegner hießen Viktor Kortschnoi, Garri Kasparow, Jan Timman, Gata Kamsky und Viswanathan Anand.


Prag 2002

Die Story der beiden K.

Mit seinem Landsmann Garri Kasparow trug Anatoli Karpow zwischen 1984 und 1990 insgesamt 144 WM-Partien aus.

Ein Marathon, bei dem sie sich nichts schenkten und der seinesgleichen in der Schachgeschichte sucht. Im September 2009 spielten K. und K. im spanischen Valencia ein Erinnerungsmatch zum 25. Jahrestag ihres ersten WM-Kampfes. Kasparow gewann deutlich, doch das Ergebnis war nicht wichtig.

Alle hatten wir unseren Spaß an dem Nostalgie-Event. Wladimir Kramnik charakterisierte die sehr unterschiedlichen Temperamente der zwei Schachgenies einmal so: „Kasparow kommt wie eine Lokomotive daher, Karpow wie ein Kunstradfahrer.“


Karpow bereitet sich aud Kasparow vor


Moskau 1985

Heute sind die beiden Exweltmeister keine Erzrivalen mehr. Karpow betont immer wieder: „Zwischen uns gab es stets diplomatische Beziehungen. Wir hatten zwar unterschiedliche Ansichten, doch haben uns immer als Schachspieler geachtet.“ Ende 2007 besuchte Karpow seinen früheren Gegner sogar im Gefängnis. Kasparow war bei einer Anti-Putin-Demonstration in Moskau verhaftet worden. Karpow sagte damals: „Ich wollte wissen, wie es ihm geht, denn ich konnte mir vorstellen, wie ekelhaft es ist, dort zu sein. Nachdem Kasparow wieder frei war, haben wir der Radiostation „Echo Moskaus“ gemeinsam ein großes Interview gegeben. Kasparow erklärte dort, er war erstaunt, dass ich ihn in der Haft besuchen wollte, weil das praktisch kein anderer versucht hat: kein Schachspieler oder politischer Anhänger von ihm.“


London 1986

Anatoli Karpow ist eine lebende Sportlegende, die in kein Schema passt. Wer ihn auf einen vorsichtigen Figurenkünstler reduzieren möchte, erfasst nur die halbe Persönlichkeit. Zu groß ist das Spektrum seiner anderen Beschäftigungen und Interessen. Seit Jahrzehnten leitet er den russischen Friedensfonds, ist seit langem UNICEF-Botschafter für sein Land und Osteuropa. Zu seinen großen Hobbies gehört das Briefmarkensammeln. Karpows Kollektion mit Sport- und Schachmotiven zählt zu den wertvollsten der Welt. Die kostbarsten Stücke hat er in einem Banksafe deponiert.

Im vergangenen Jahr war Karpow beim FIDE-Kongress Herausforderer des umstrittenen Präsidenten Kirsan Iljumschinow. Er unterlag dem Amtsinhaber bei den Wahlen am Rande der Schacholympiade in Chanty-Mansisk jedoch deutlich. Zuvor war er monatelang, auch mit starker Unterstützung Kasparows, in der Welt unterwegs, um für seine Pläne zu werben, die FIDE zu reformieren. Die beiden Schachstars kamen vor genau einem Jahr, im Mai 2010, auch in Berlin vorbei.

Kasparow hatte zuvor noch DSB-Präsident Robert von Weizsäcker überredet, für das Amt des ECU-Präsidenten zu kandidieren. Alle Bemühungen halfen nichts, gegen Karpow gab es viel Widerstand aus dem offiziellen Moskau, und das Netzwerk Iljumschinows erwies sich als zu stark. Die alte Führungsriege der FIDE war wie gewohnt nicht bereit, ihre Macht freiwillig abzugeben. Iljumschinow bot Karpow das Amt eines Vizepräsidenten der FIDE an, doch dieser lehnte dankend ab. Aber der nun 60-jährige Moskauer erklärte sich bereit, als Vertreter des Weltschachbundes bei internationalen Organisationen tätig zu sein. In der ECU machte der Bulgare Silvio Danailow das Rennen.

Erziehungsgambit

Karpow ist nach Beendigung seiner großen Schachkarriere auf vielen Feldern aktiv. Er engagiert sich für die Opfer der Atomkatastrophe von Tschernobyl sowie für kranke und notleidende Kinder. Hin und wieder spielt der Exweltmeister in einem Gefängnis oder Jugendwerkhof simultan. Das tut er schon seit 12 Jahren. So trat Anatoli im vergangenen Februar in Moschaisk, westlich von Moskau, gegen 20 straffällige Jugendliche an. Einer von ihnen schaffte ein Remis. Sie hatten sich wochenlang auf den großen Tag vorbereitet, Schachliteratur gewälzt usw. Auch wenn ihre Chancen gegen den 12. Weltmeister gering waren, für alle war allein die Teilnahme sehr wichtig.

Da Glücksspiele im Knast streng verboten sind, wird Schach dort immer populärer. Die Gefangenen spielen mehr untereinander. Mit den Besten der Gefangenen spielt Anatoli Karpow manchmal im Internet.  Bei seinem letzten Besuch in Moschaisk  regte er eine Meisterschaft der talentiertesten einsitzenden Jugendlichen aus ganz Russland an.

Schach kann für die Wiedereingliederung von Kriminellen oder Schwererziehbaren in die Gesellschaft sehr wichtig sein. Karpows Programm wird nach seinen Worten in vielen Ländern angewendet. Im brasilianischen Sao Paulo gibt es dank der Simultan-im-Knast-Methode schon 6.000 Schachspieler mehr. In Russland soll es kaum noch Vollzugsanstalten geben, in denen Großmeister noch nicht waren.

Der ruhelose Karpow ist etwa zwei Drittel des Jahres in der Welt unterwegs. Es gibt nur wenige bedeutende Länder, in denen er noch nicht gewesen ist. Schachschulen in etlichen Staaten tragen seinen Namen. Karpow bekommt so viele Einladungen, dass er nur einen Bruchteil von ihnen annehmen kann. „Ich habe bisher etwa 10 Millionen Flugkilometer absolviert. Das sind mehr, als ein Pilot in seinem ganzen Berufsleben schafft.“ Gern hätte Anatoli mehr Zeit für seine Familie oder seine Briefmarken. Unter anderem besitzt er sämtliche Schachmotive, die weltweit auf Postwertzeichen erschienen sind.

Wie verkraftet man über viele Jahre hinweg ein derartiges Arbeits- und Reisepensum?

„Es ist nicht so einfach. Aber der Schachsport lehrte mich, meine knappe Zeit genau einzuteilen und mit meinen Kräften zu haushalten. Natürlich spüre ich, dass es schwerer wird. Noch aber reicht meine Energie aus, um alle Aufgaben zu bewältigen.“ ´


Wie die Bank von England

Karpow hat auch zu Deutschland eine enge Beziehung. Sein erstes Turnier spielte er hierzulande schon 1977 in Bad Lauterberg. Es folgten Events in Hannover, etliche TV-Auftritte und Fernsehpartien, mehrmalige Starts bei den Dortmunder Schachtagen. Zum 125. Jubiläum des DSB in Leipzig hielt Karpow als Ehrengast eine Rede.

Kurz nach seinem 60. Geburtstag kommt er mit seiner Frau Natalja und seiner elfjährigen Tochter Sofia zu Besuch in den Süden Deutschlands. Karpows langjähriger Freund Dieter Auer verriet uns vorab einige Höhepunkte des Programms. So trägt sich der 12. Weltmeister am 17. Juni im Heidelberger Rathaus ins Goldene Buch der Stadt ein, danach gibt es eine Simultanveranstaltung.

Dieter Auer, der 1. Vorsitzende der Karpow-Schachakademie Rhein-Neckar, kennt den Exweltmeister seit mehr als 20 Jahren. Im Mai 1990 gab Anatoli Karpow ein Simultan in Speyer, seither stehen sie in ständigem Kontakt.

Was schätzen Sie an Anatoli Karpow besonders?

Es sind verschiedene Dinge. Zum einen ist es seine absolute Zuverlässigkeit. In all den Jahren hat er uns noch nie versetzt oder im Stich gelassen. Anatoli hat immer alle Treffen eingehalten. Nie ist auch nur ein Termin geplatzt. Da ist er wie die Bank von England. In seiner Art ist er sehr unkompliziert und kommt völlig ohne Starallüren aus. Das ist nicht nur meine Meinung. Karpow besucht unsere Rhein-Neckar-Region gern und oft, unsere Schachspieler profitieren sehr davon.“

Des Weiteren betonte der Vorsitzende von 1830 Hockenheim nicht ohne Stolz, dass Karpow ab dem Herbst das Team um Rainer Buhmann, das in die 1. Bundesliga aufgestiegen ist, verstärken wird. Er ist im Kader eingeplant, auch wenn er natürlich nicht in jeder Runde dabei sein kann. Bereits in der vergangenen Saison hatte der Moskauer für den Verein ein Spiel in der 2. Liga absolviert.

Am 20.-21. Juni gibt Karpow an der Akademie in Nußloch erneut einige Trainingseinheiten für den größten Teil unserer Schach-Nationalmannschaft. Zugesagt haben die Großmeister Arkadij Naiditsch, Georg Meier, Daniel Fridman, Rainer Buhmann, David Baramidze und Elisabeth Pähtz.

Vorher lässt sich der Jubilar erst einmal in Russland feiern. Der Festakt an seinem heutigen Ehrentag findet diesmal nicht im Moskauer Bolschoi-Theater statt wie vor zehn Jahren zu Karpows 50. Geburtstag (Dieter Auer war damals dabei), sondern in der Philharmonie von Sankt Petersburg. In der Stadt an der Newa hat Karpow vor etwa vierzig Jahren Ökonomie studiert und bis heute viele Freunde und Anhänger. Großmeister Semjon Furman war im damaligen Leningrad Karpows persönlicher Trainer und formte ihn zum Weltmeister.


Karpow mit Furman

Der Rest ist Schachgeschichte. 

 

 

 

 

 


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