ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024
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Von Dagobert Kohlmeyer
Arkadij Naiditsch begeisterte
Sonntag, 17. Juli. Die Spannung im vollen Saal war mit Händen zu greifen. Arkadij
Naiditsch lag mit einem halben Punkt in Führung und hatte damit die besten Chancen
auf den Gesamtsieg. Gefährlich werden konnten ihm nur sein direkter Kontrahent
Peter Swidler, dessen Landsmann Wladimir Kramnik oder der Holländer Loek van
Wely, die in Lauerstellung lagen und bei einer Niederlage von Naiditsch noch
vorbeiziehen konnten. Aber Arkadij gab sich mit Schwarz keine Blöße mehr, so
dass Swidler seine Gewinnversuche schon früh einstellte.
Am Nachbartisch passierte einige Zeit später Unglaubliches. Weltmeister Kramnik
verlor in einem Turmendspiel zwei Bauern und musste sich dem Franzosen Etienne
Bacrot trotz verzweifelter Gegenwehr nach fünf Stunden geschlagen geben. Es
war Kramniks zweite Niederlage im Turnier und der Seriensieger von Dortmund
damit aus dem Rennen um einen Preisrang. Loek van Wely beendete seine Partie
gegen den Dänen Peter Nielsen unentschieden, so dass er Arkadi Naiditsch auch
nicht mehr gefährlich werden konnte. Um 17 Uhr war die Sensation perfekt, jetzt
ging es nur noch um die nächsten Plätze, die sich am Ende vier Spieler mit je
5 Punkten in dieser Reihenfolge teilten: Topalow, Bacrot, Van Wely und Swidler.
Teilnehmer und Gäste des Sparkassen Chess-Meetings waren sich einig: Dortmund
war in diesem Jahr eine Reise wert. Was den Jahrgang 2005 von früheren unterschied,
waren die vielen Überraschungen, die während der neun Turniertage im Schauspielhaus
passierten. Die gute Mischung aus etablierten Stars und Großmeistern, die an
die Tür zur Weltspitze klopften, machte den großen Reiz der Veranstaltung aus
und brachte viele unerwartete Ergebnisse: Da war die unglaubliche Vorstellung
des Dortmunders Arkadij Naiditsch, der das Turnier seines Lebens spielte. Oder
die Niederlagen Kramniks gegen Sutowski und Bacrot. Auch die beiden Ausrutscher
des Weltranglisten-Zweiten Weselin Topalow zählten zu den Überraschungen.
Arkadijs Sturmlauf
Held des Turniers war Arkadij Naiditsch. Der ehrgeizige Großmeister hat mit
seinen 19 Jahren schon viel erreicht. Einen weiteren riesigen Schritt nach vorn
tat er bei diesem Turnier. Am Abend der dritten Runde sorgte er für den ersten
großen Paukenschlag, als er Peter Leko bezwang. Mit den weißen Steinen brachte
er den Vizeweltmeister aus Ungarn in einer Sizilianischen Partie derart in Bedrängnis,
dass dieser trotz harter Gegenwehr im 59. Zug aufgeben musste. Auf einmal lag
Arkadi gemeinsam mit Loek van Wely und Peter Heine Nielsen an der Tabellenspitze.
Naiditsch, der aus Riga stammt, lebt seit 1996 mit seiner Familie in Dortmund.
Seine Schwestern Irina, Jewgenija und Maria spielen auch Schach. Alle drei Mädchen
kämpften erfolgreich im A-Open, das im Rathaus ausgetragen wurde.
Arkadi Naiditsch und seine Schwestern
Veranstaltungsleiter Gerd Kolbe nennt Arkadij Naiditsch gern "unser Dortmunder
Eigengewächs". Auch Stefan Koth, Turnierdirektor bei den Schachtagen, erinnert
sich gern, wie alles begann: "Nachdem das Talent des Jungen frühzeitig
sichtbar war, wurde er systematisch von uns gefördert. Zuerst von den Schachfreunden
Brackel, später kam die Unterstützung durch die Dortmunder Schachschule e.V.
hinzu." Stefan Koth hat ihm auch einen deutschen Pass besorgt. Wie man
sehen kann, zahlte sich die Investition aus.
Im Hauptturnier der Schachtage spielte Naiditsch schon zum dritten Mal, und
das mit wachsendem Erfolg. Voriges Jahr war er in dem Weltklassefeld bereits
Fünfter. Von der Europameisterschaft in Warschau kehrte der Wahl-Dortmunder
kurz vor dem diesjährigen Chess-Meeting mit dem besten Ergebnis aller deutschen
Teilnehmer zurück. Das Turnier der Kategorie 19 aber war ein anderes Kaliber,
das ihm viel abverlangte. Auf aufmerksame Beobachter, vor allem die Journalisten
im Pressezentrum, wirkte Arkadij sehr angespannt. Einige Tage lang war er -
sicher wegen des hoch gesteckten Ziels und des greifbar nahen Erfolgs - nicht
sehr gesprächig. Nachdem er aber als Sieger feststand, wirkte Arkadij wieder
entspannter und gab bereitwillig Auskunft über seine Sicht der Dinge.
Favoriten lauerten
In der ersten Turnierwoche dominierten nicht die großen Stars das Geschehen,
sondern drei Spieler, die man kaum so weit vorn erwartet hatte. Wer zu Beginn
auf die Außenseiter Arkadi Naiditsch, Loek van Wely und Peter Heine Nielsen
setzte, konnte viel Geld verdienen.
"Das tut dem Turnierverlauf richtig gut", waren sich Experten und
Zuschauer einig. Klar war auch, dass Wladimir Kramnik, Peter Leko und Weselin
Topalow nach dem Ruhetag noch etwas mehr von ihrer Klasse zeigen mussten, wenn
sie das Blatt zu ihren Gunsten wenden wollten.
Eine der positiven Überraschungen dieser Schachtage war in der ersten Hälfte
Peter Heine Nielsen aus Dänemark. Der 32-jährige Großmeister kommt aus Aarhus,
der zweitgrößten Stadt des Landes. Mit acht Jahren erlernte Peter das Schachspiel,
seit dem zehnten Lebensjahr ist er aktiv. In Dortmund wurde er vom Internationalen
Meister Karsten Rasmussen begleitet, der ihn seit einem Jahr sekundiert. Rasmussen
wurde im A-Open Zweiter. Die Zusammenarbeit trägt gute Früchte, denn Nielsen
war nach vier Runden noch unbesiegt. Das konnte nur noch Peter Swidler aus St.
Petersburg von sich sagen, der bis dahin immer Remis spielte.
Peter Heine Nielsen
Die Organisatoren waren sehr froh über die gute Mischung aus Supergroßmeistern
und hungrigen Wölfen, die den Verlauf des Chess-Meetings 2005 so unberechenbar
und damit hochinteressant machten. Wie immer tippten wir im Pressezentrum vor
jeder Partie die Ergebnisse. Euer Schach-Reporter aus Berlin, zum 16. Mal in
Dortmund dabei, lag noch nie so oft daneben wie dieses Jahr, Zeichen dafür,
wie spannend und unberechenbar in 2005 alles war.
Für Sofia Leko gibt es nur einen Favoriten
Beim Frühstück im Spielerhotel Park Inn waren Peter Leko und seine Frau Sofia
in der Regel gut gelaunt, denn der Ungar kam beim Chess-Meeting nach verhaltenem
Beginn besser in Schwung. Seine Niederlage aus der dritten Runde gegen Arkadij
Naiditsch machte er zwei Tage später durch einen Schwarz-Sieg über Peter Heine
Nielsen wett. Für den Dänen begann dann eine lange Durststrecke im Turnier.
Mit Beginn der zweiten Halbzeit im Schauspielhaus führte Leko gemeinsam mit
Naiditsch und Van Wely die Tabelle an. Kramnik, Adams und Topalow lagen zu diesem
Zeitpunkt einen halben bzw. einen Zähler zurück, was Peter gute Chancen eröffnete.
Nach dem Ruhetag traf der Ungar mit Weiß auf den Franzosen Etienne Bacrot -
Remis. Das versetzte seinen Träumen vom dritten Sieg in Dortmund noch keinen
zu gossen Dämpfer, aber die Runde 7, als er gegen Swidler als Schwarzer den
falschen Gewinnplan wählte und mit fliegenden Fahnen unterging. Tags zuvor hatte
Seriensieger Kramnik gegen Arkadi Naiditsch die schwarzen Steine. Es war ein
packendes Duell, in dem Kramnik zwar einen Turm mehr hatte, aber Naiditsch fand
ein rettendes Dauerschach zum Remis. Er blieb in der Tabelle mit vorn.
Spagat zum Fußball
Gerd Kolbe im Westfalenstadion
Das Westfalenstadion ist Dortmunds Fußballtempel. Ein australisches TV-Team
drehte dort während der Schachtage unter der Regie von Gerd Kolbe. Der 60-jährige
ist WM-Beauftragter der Stadt. Dafür gab er seine Stelle als Stadtsprecher auf,
die Vorbereitung des großen Fußballfestes 2006 bringt genug Arbeit mit sich.
Eines aber lässt sich Kolbe nicht nehmen - die Veranstaltungsleitung des Sparkassen
Chess-Meetings: "Die Liebe zwischen Fußball und Schach ist bei mir gleichmäßig
verteilt," erklärt der Diplomverwaltungswirt. Davor war er begeisterter
Leichtathlet, sprang immerhin 1.85 m hoch.
Gerd Kolbe besitzt das größte BVB-Archiv. Der frühere Stadionsprecher sammelt
seit 1976 alles, was mit Borussia Dortmund zu tun hat. Mittlerweile sind es
fast 40 000 Exponate. An seinem Buch "Westfalenstadion Dortmund, die Geschichte
einer Fußball-Bühne" arbeitete er nur ein Jahr. "Ich habe fast alle
Dinge im Kopf gehabt und musste nicht mehr ergänzend recherchieren."
Die Australier filmten die Rote Erde, dann jeden Winkel des Westfalenstadions,
wo gerade ein Brasilianer Fußballtricks für einen Werbespot zeigt. Kolbe kennt
unendlich viele Sport-Geschichten aus beiden Arenen, die er dem erstaunten Redakteur
von "Down Under" in den Notizblock diktierte.
Das WM-Büro im Rathaus besteht nur aus drei Personen, die eine Menge bewältigen
müssen. "Wir wollen die Leute in der Region sensibilisieren und ihre Vorfreude
auf das Fußballfest wecken, um gute Gastgeber zu sein. Dazu gehört die Übernachtungsfrage.
Dortmund hat nur 5 250 Hotelbetten, zu den Spielen kommen aber 40 bis 50 000
Gäste von weit her. Darum brauchen wir viele Privatquartiere."
Sehr ernst nehmen die WM-Planer das Thema Sicherheit. Nach den Anschlägen von
Madrid, London und den Fan-Krawallen in Slowenien ist es für Kolbe drängender
denn je. "Wir gehen akribisch vor und werden keine Lücken zulassen. Es
beginnt beim Einlass. Die Karten-Abreißer sind passé, an den Drehkreuzen erfolgt
eine elektronische Prüfung, so dass Ticketfälscher nicht den Hauch einer Chance
haben."
Um 15 Uhr stand Gerd Kolbe dann wieder auf der Bühne des Schauspielhauses, wo
er Schachstars und Zuschauer begrüßte. Ob Weltmeister Wladimir Kramnik mit Weiß
den fliegenden Holländer Loek van Wely stoppen würde, war eine der spannenden
Fragen des 7. Spieltages. Er schaffte es nicht - Van Wely blieb weiter vorn.
Zu ihm konnte jedoch Arkadi Naiditsch aufschließen, der als Schwarzer Peter
Nielsen im Turmendspiel keine Chance ließ.
Etienne Bacrot und sein Vater Stephane
Etienne Bacrot hatte zu Beginn des Chess-Meetings nicht den gewünschten Erfolg.
Dann wurde es immer besser. Nach zwei Auftaktniederlagen im Schauspielhaus fing
er sich wieder und kämpfte wie die anderen Großmeister des hinteren Tabellendrittels
um einen bessere Platzierung. Zur sechsten Runde, es war der französische Nationalfeiertag,
bekam er Besuch von seinem Vater Stephane. Der 47-jährige Ingenieur wollte den
Sohn bei seinem bisher schwersten Turnier unterstützen. Das Vorhaben glückte,
tags darauf bezwang der Filius immerhin Michael Adams. Später erbeutete er noch
den Skalp von Kramnik. Etienne war 1997 mit 14 Jahren jüngster Großmeister der
Welt und ist heute Neunter der internationalen Rangliste. Seine Schwester Severine
(20) hat ein anderes Talent. Ihre ganze Liebe gilt dem Klavierspiel.
In Erinnerung bleiben wird auch die couragierte Vorstellung des fliegenden Holländers
Lok van Wely, der bei seiner Premiere in Dortmund ohne Furcht und Tadel spielte.
"King Loek" bekam in den letzten Runden Unterstützung von seinem Sekundanten
Wladimir Chuchelow, einem russischen Großmeister, der heute in Belgien wohnt.
Beim Frühstück im Spielerhotel Park Inn - "Römischer Kaiser" wurden
immer die letzten strategischen Feinheiten besprochen. Van Welys reizende Frau
Marion, mit ihr ist der Großmeister aus Tilburg seit einem Jahr verheiratet,
spielt übrigens auch Schach und trug nicht wenig zu seinem erfolgreichen Abschneiden
bei. Marion schaute oft bei uns im Pressezentrum vorbei, und fast jedes Mal
wurde ein "Fototermin" daraus. Sieht man sich die Bilder an, erkennt
man, dass es auch ihr Spaß gemacht hat.
Frühstück zu dritt
Spannung pur
Am Ende kam noch einmal prominenter Besuch ins Schauspielhaus. Professor Eckhard
Freise aus Münster, der erste Jauch-Millionär, ließ es sich nicht nehmen, die
internationalen Schachtage zu besuchen. Da der 60-jährige Historiker selbst
ein starker Schachspieler ist, bat Großmeister Helmut Pfleger ihn wie schon
in früheren Jahren hinter die Bühne, wo Freise gemeinsam mit dem Kommentator
die Zuschauer im Saale mit geistreichen Bemerkungen über die laufenden Partien
und das Spiel der Könige erfreute.
Peter Heine Nielsen, der so erfolgreich ins Turnier gestartet war, erlebte am
Ende einen sportlichen Einbruch. Der dänische Großmeister tröstete sich mit
der Lektüre des druckfrischen sechsten Harry-Potter-Bandes. Schon in der Nacht
zum Samstag hatte der 1.98-Meter-Mann aus Aarhus wie viele Dortmunder vor der
Meyerschen Buchhandlung am Westenhellweg angestanden, um die englische Ausgabe
zu erhaschen. Die ersten Seiten von "Harry Potter and the Half-Blood Prince"
las er noch vor seiner Partie gegen Kramnik. Doch der Zauber des Buchs half
ihm nicht, dem Weltmeister am Brett standzuhalten.
Harry-Potter-Fan Peter Nielsen
Danny King präsentiert sein Buch
Und noch eine Buchpremiere gab es in Dortmund. Am Finaltag signierte der englische
Großmeister Daniel King sein neues Werk mit dem Titel "Test und Training".
Da der 41-jährige Londoner perfekt Deutsch spricht, liegt das Buch auch in unserer
Sprache vor.
In der Schlussrunde rang Weselin Topalow Peter Leko nach einer Energieleistung
in 106 Zügen nieder und rettete damit noch den zweiten Platz nach Feinwertung.
Die Partie dauerte so lange, dass Organisatoren und Spieler auf die beiden Großmeister
mit der Siegerehrung im Rathaus fast eine Stunde warten mussten. Lohn der Kampfgeistes
war der zweite Platz für Topalow, der damit erfolgreichster Turnierspieler des
Jahres bleibt. Und Bacrot sicherte sich durch seinen Sieg über Kramnik noch
den dritten Platz. Wer hätte diesen Ausgang vorher vermutet? Dortmund 2005,
das war wirklich ein denkwürdiger Jahrgang!
"Es war das Turnier meines Lebens"
Flash-Interview mit Arkadi
Naiditsch
Arkadi Naiditsch mit der Trophäe
Arkadij Naiditsch ist nicht nur der erste deutsche, sondern mit 19 Jahren auch
der jüngste Gewinner der Schachtage. Wir baten den glücklichen Sieger unmittelbar
nach seinem letzten Zug auf ein Wort. Hier die Gedanken des jungen Schachprofis,
der seit 1996 mit seiner Familie in Dortmund lebt:
"Natürlich bin ich sehr zufrieden über meine Leistung in diesem Turnier.
Vor dem Chess-Meeting hatte ich mir nur vorgenommen, gutes Schach zu spielen,
aber nicht im entferntesten daran gedacht, dass ich so erfolgreich sein werde.
Nach dem gelungenen Auftakt gegen Sutowski und dem Sieg in der dritten Runde
gegen Leko war ich in der richtigen Spiellaune."
Welchen Stellenwert haben die diesjährigen Schachtage in deiner noch jungen
Karriere, und welche Partien waren die Highlights?
Es war ohne Zweifel das Turnier meines Lebens. Die schwierigste Partie hatte
ich gegen Wladimir Kramnik. Dort musste ich einzige Züge finden, um meine schlechtere
Stellung ins Remis zu retten. Das beste Spiel habe ich gegen Peter Leko gezeigt.
Das war wirklich eine sehr gute Partie. Ich freue mich auch, mit Schwarz gegen
Peter Swidler bestanden zu haben, weil er mich früher schon ein paar Mal geschlagen
hat.
Was für weitere Pläne gibt es?
Erst einmal möchte ich den Erfolg ein paar Tage lang genießen. Da ich dieses
Top-Ergebnis nicht erwartet hatte, ist meine Freude jetzt umso größer. Im August
spiele ich beim Schnellturnier in Mainz und ab Herbst für den TSV Bindlach (Bayern)
in der Schach-Bundesliga.