Wijk aan Zee – Die Lebenden und die Toten
Von Dagobert Kohlmeyer
Seit 15 Jahren fahre ich als
Reporter nach Wijk aan Zee, und jedes Turnier hat seine eigene Spezifik. Vom
Jahrgang 2008 wird man ganz sicher auch in Erinnerung behalten, dass in der
Mitte des Corus-Events Bobby Fischer gestorben ist. Das Ableben des 11.
Weltmeisters der Schachgeschichte überschattete hier am Freitag alle anderen
Ereignisse auf den Brettern. Zu Beginn hatte die Turnierleitung um eine
Schweigeminute gebeten.
Es war ganz still in der De
Moriaan Halle, als mehr als 1000 Schachspieler vom Weltmeister bis zum jüngsten
Amateur im Open den amerikanischen Schachgenius ehrten.
Da geriet es fast zur
Nebensache, dass Magnus Carlsen am Ende der Runde 6 die alleinige Führung
übernahm, nachdem er in seiner ersten Partie gegen Judit Polgar überhaupt
gewonnen hatte. Hinterher zeigte er uns das Spiel am Demobrett im Pressezentrum.
Bemerkenswert war sicher noch,
dass Wladimir Kramnik den sonst so cleveren Levon Aronian sieben Stunden lang
knetete, bis er nach 110 Zügen das remisliche Turmendspiel doch noch gewonnen
hatte. Und dass Peter Leko gegen Veselin Topalow am Ende zweimal patzte und
seine Partie erst zum Remis und dann zum Verlust verdarb.
Die Gedanken der meisten
Teilnehmer und Turnierbeobachter aber waren woanders, was in den folgenden
Statements zum Ausdruck kommt.
Wahnsinn siegte über Genialität
Die niederländischen Zeitungen
sind an diesem Wochenende ebenfalls voll vom Thema Bobby Fischer. Jede geht auch
auf die Zerrissenheit seiner Persönlichkeit ein. „Das Blatt „De Volkskrant“
widmete ihm die Titelstory und schrieb: „Er wird nicht nur als Schachgenie in
die Geschichte eingehen, sondern auch als geistig kranker King Lear, der seinen
eigenen Mythos zerstörte.“
Eine ähnliche Meinung äußerte
Garri Kasparow bekanntlich schon vor vielen Jahren, als er erklärte: „Mit
seinem Re-Match gegen Spasski 1992 in Restjugoslawien, dessen Partien nicht die
frühere Qualität aufwiesen, hat Fischer seine eigene Legende vernichtet.“
Auch im niederländischen
„Handelsblatt“ prangten ein eindrucksvolles Foto Fischers und ein Bericht über
seinen Tod auf der ersten Seite.
Gefragtester Gesprächspartner
war hier der amtierende Weltmeister Vishy Anand, der Fischer vor zwei Jahren in
Reykjavik am Rande eines Turniers getroffen hat und jetzt erstmals Einzelheiten
darüber preisgab. Ich kam gerade hinzu, als Vishy seinem Landsmann Kumar (TV)
und dem spanischen Kollegen Leontxo Garcia Interviews gab. Hier der Extrakt:
Vishy Anand:
„Leider habe ich seine große Zeit nicht mitbekommen. Obwohl ich Bobbys
wunderbaren Partien erst viel später gesehen habe, kann ich mir gut die
Aufregung vorstellen, die sie damals verursachten. Es ist traurig, dass Fischer
so früh gestorben ist. Aber es ist auch deutlich, dass er in den letzten Jahren
kein glückliches Leben hatte. Eigentlich haben sich die Schachspieler schon 1972
von ihm verabschiedet. Ich bin froh, dass ich Bobby Fischer vor zwei Jahren in
Reykjavik begegnet bin. Er hat mich damals gefragt, warum ich immer noch das
herkömmliche Schach betreibe, dessen Theorie explodiert ist. Ich erwiderte, dass
Schach noch immer sehr lebendig ist. Die Antwort hat ihm nur mäßig gefallen.
Sehr nett war seine Reaktion, als wir gemeinsam eine Partie angesehen haben und
ich ihm erzählte, welche Züge der Computer am stärksten fand. ‚Das glaube ich
nicht, sagte Fischer spontan, das müssen wir selbst untersuchen!‘ So einem
Glauben an die menschliche Kraft über das digitale Monster begegnet man heute
nicht mehr oft. Bobby Fischer wird als Marylin des Schachs in unserer Erinnerung
bleiben. Die Welt hat von der Monroe auch nur die schönen und nicht die dunklen
Seiten im Gedächtnis behalten“.
Peter Leko:
„Über Bobbys Tod bin ich sehr traurig. Zweimal hatte ich Gelegenheit, ihn zu
treffen. Das war 1998 und 1999 in Ungarn. Beeindruckt war ich vor allem von
seinem riesigen Schachverständnis. Wie er analysierte, das war unglaublich. Auch
lange nach seiner Karriere blitzte noch immer seine große Klasse auf. Bobby
Fischer war einer der größten Schachspieler.“
Fischers Zeitgenossen und ein Versäumnis der Geschichte
In der Ehrengruppe
spielen hier in der De Moriaan Halle seit dem heutigen Samstag vier Großmeister,
die in Wijk aan Zee früher sehr erfolgreich waren und das Turnier mehrmals
gewonnen haben. Sie waren alle erschüttert von der Hiobsbotschaft und gaben nur
kurze Statements ab. Der Gesprächigste von ihnen war noch der aus Serbien
stammende und in Spanien lebende Ljubo Ljubojevic.
Ljubomir Ljubojevic:
Damals...
und heute
Ich bin froh, dass unser
Turnier erst heute anfängt. Gestern, als die betrübliche Nachricht kam, hätte
mich nicht konzentrieren können. Bobby Fischer war ein Gigant. Er stand zwischen
den Fronten und hat die Schachwelt polarisiert wie kein Zweiter. Die Jahre 1968
– 72 als Fischer alles gewann, sind für mich die schönsten der Schachgeschichte.
Eine Todsünde, dass diese Periode nicht länger gedauert hat.“
Lajos Portisch:
„Ein großer Schock. Der beste Spieler der Schachgeschichte ist von uns
gegangen“.
Viktor Kortschnoi:
„Ein Schachgenie ist gestorben. Das ist ein Verlust für die Menschheit“
Jan Timman:
Bobby Fischer war ein großer Schachspieler und ein Beispiel für viele. Sein Buch
„Meine 60 denkwürdigsten Partien“ hatte großen Einfluss auf mich. Es ist
bedauerlich, dass er die Schachwelt nach 1972 verlassen hat.“
Gennadi Sosonko:
Ich sah das Genie Bobby Fischer in den 1990er Jahren einmal in Budapest, als er
dort im Exil lebte. Aber ich möchte keine Details verraten. Denn wer weiß,
vielleicht kontrolliert Bobby auch vom Himmel aus, was ich jetzt sage.
Die Jungen unter den
Schachstars sind hier in Wijk aan Zee weniger erschüttert. Kein Wunder, für sie
ist Bobby Fischer wohl mehr ein Schatten der Vergangenheit.
Loek van Wely
(geb. 1972) erklärte lakonisch: „Ich kenne Fischers Heldentaten und Partien,
aber erinnere mich auch an seine unschönen antisemitische Äußerungen.
Sehr gern hätten wir natürlich
die Meinung eine Reaktion von Boris Spasski gehabt, der durch Reykjavik
1972 gemeinsam mit Fischer Schachgeschichte geschrieben hat. Aber der
Wahlfranzose war nicht in der Stimmung, irgendeinen Kommentar abzugeben. Seine
Frau Marina, die ich nach mehreren Anrufen in Paris schließlich erreichte, bat
um Verständnis, dass ihr Mann sich so kurz nach Fischers Tod nicht äußern
wollte. Aus früheren Interviews kennen wir aber Boris‘ Haltung zu Bobby Fischer,
die immer von großem Respekt geprägt war. Spasskis wichtigste Aussagen, haben
sich mir für immer eingeprägt:
„Bobby hatte eine reine keusche
Beziehung zum Schach. Er verehrte das Spiel wie einen Gott. Und er war unser
erster Gewerkschaftsführer. Dank Fischer sind die Honorare der Schachspieler bei
WM-Kämpfen und Turnieren in den vergangenen Jahrzehnten bedeutend gestiegen.“
Anatoli Karpow,
der 1975 am grünen Tisch Weltmeister geworden war, weil Fischer nicht antrat,
hat es immer wieder bedauert, dass dieses Match nicht zustande kam. Mehrmals
hatten sich die beiden Mitte der 1970er Jahre zu Geheimverhandlungen getroffen,
aber alle Bemühungen, selbst ein 5-Millionen-Dollar-Angebot des philippinischen
Präsidenten Marcos, scheiterten an Fischers Extra-Forderungen. „Unser nicht
gespieltes WM-Duell war ein Versäumnis der Schachgeschichte“ erklärte uns Karpow
in einem früheren Interview.
Piet Zwart: „Corus bleibt Corus“
44 Jahre lang war er Spiritus Rector und Seele des Hochofenturniers in Beverwijk
bzw. später in Wijk aan Zee. Dann war’s genug. Piet Zwart, heute 83 Jahre alt,
hat aber noch immer enge Verbindung zu seinem Kind, dem Schachfestival an der
holländischen Nordseeküste.
1999 übergab der frühere
Kettenraucher den Staffelstab des Turnierdirektors an Jeroen van den Berg.
Dieser baute zusammen mit Dolf Vos und anderen Mitstreitern das Turnier an der
holländischen Nordseeküste zu dem aus, was es heute ist – die beliebteste und
stärkste Schachveranstaltung weltweit zu Beginn jedes Jahres. Im letzten
Jahrzehnt kamen, wie früher ihre Vorgänger auch, die Koryphäen des Weltschachs,
von Karpow und Kasparow bis Kramnik, Anand, Iwantschuk, Topalow oder Leko. Immer
war Corus auch eine Talenteschmiede, man sehe nur, wie großartig Carlsen oder
Radjabow derzeit hier aufspielen. Als Knaben sammelten sie mit 13 oder 14 Jahren
im C-Turnier erste Meriten (Peter Leko sahen wir 1994 an gleicher Stelle auch
schon) und sind heute dabei, die Etablierten im A-Wettbewerb von ihren
Positionen zu verdrängen. Bei den Damen gaben und geben Großmeisterinnen wie
Alexandra Kostenjuk, Koneru Humpy oder Hou Yifan zum wiederholten Male im
holländischen Schachmekka ihre Visitenkarte ab. Nicht zu vergessen die First
Lady des Schachs, Judit Polgar. Die zweifache Mutter liegt derzeit im A-Turnier
in der Tabellenmitte. 2003 hat sie hier in Wijk aan Zee hinter Anand den zweiten
Platz belegt. (Das Wetter mag widrig sein – es stört aber keinen.)
Piet Zwart hat auf Anraten der
Ärzte vor kurzem mit dem Rauchen aufgehört. „Meine Lunge macht das nicht mehr
mit, ich muss zusätzlichen Sauerstoff bekommen“ sagt der Schachveteran. Aber
noch immer zieht er in seinem Verein in Beverwijk hin und wieder die Figuren.
Als die Nachricht von Bobby
Fischers Tod hier die Runde machte, fragten wir den früheren Turnierleiter,
warum der Amerikaner nie in Wijk aan Zee spielte. Piet Zwart: „Die Antwort ist
ganz einfach. Wir hatten damals noch nicht die notwendigen finanziellen Mittel.
Solche Gagen, wie Fischer sie verlangte, konnten wir nicht zahlen. Hinzu kamen
seine extravaganten Wünsche in puncto Spielbedingungen. Deshalb wurde aus einem
Start Fischers in Wijk aan Zee nichts. Sicher schade, aber nun nicht mehr zu
ändern.“
Dass die Zukunft des Corus
Turniers auch weiterhin gesichert ist, freut keinen mehr als Piet Zwart. Bis
2013 hat der neue Eigentümer, die mächtige indische Stahlfirma Tata Steel die
Mittel erst einmal bewilligt. Der Name des Events soll aber, wie zu hören war, „Corus“
bleiben.
Text
und Fotos: Dagobert Kohlmeyer