"Für den punktehungrigen Vereinsspieler"

von ChessBase
22.04.2015 – 90% aller Partien werden durch Taktik entschieden. Was lernen wir daraus? Dass taktische Fähigkeiten für jeden Schachspieler sehr wichtig sind - wenn man es milde formulieren will. Oder dass man hier ganz effektiv etwas für die eigene DWZ tun kann. Sebastian Vigl ist im ChessBase Shop auf einen erstklassigen Taktiktrainer mit einem überraschenden Konzept gestoßen. Mehr...

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Rustam Kasimdzhanov - Power of Tactics - A World Champion's Guide for a Club Player

Rezension von Sebastian Vigl (Berlin)

Aufgrund der hohen Komplexität des Schachspiels und des dafür nötigen zeitintensiven Studiums finden Produkte, die ein einfaches und simples System zur Erhöhung der Spielstärke anbieten, guten Absatz. Hinter diesen vereinfachten Rezepten verbergen sich oft fragwürdige Herangehensweisen, die anscheinend nur innerhalb einer gezielten Auswahl an Beispielen belegt werden können. Wenn nun aber der ehemalige FIDE-Weltmeister Rustam Kasimdzhanov, den ich als Autor aufgrund seiner nüchternen und stets möglichst objektiven Einschätzungen schätzen gelernt habe, eine Methode präsentiert, die die taktische Meisterschaft eines Spielers durch Fokussierung auf lediglich drei Grundmotive verbessern soll, weckt dies meine Neugierde: Mittels einer Analyse vieler Partien, die sowohl auf Vereinslevel als auch auf Großmeisterebene gespielt wurden, kam Herr Kasimdzhanov zum Schluss, dass am Ausgang dieser Partien zu einem größten Teil die taktischen Motive

1. Fesselung,
2. Doppelangriff und
3. Grundreihenschwäche

entscheidend beteiligt waren. Im Umkehrschluss soll ein intensives Studium dieser drei Elemente zu einer besseren Punktausbeute am Brett führen. Es handelt sich somit nicht um eine DVD für Schachanfänger, die sich mit den einfachsten taktischen Motiven vertraut machen wollen, sondern für den punktehungrigen Vereinsspieler, der aus den taktischen Verwirrungen seiner Partien als Sieger hervorgehen will.

Über die Arbeit mit dieser DVD

Kasimdzhanov trägt in gut verständlichem Englisch vor und nimmt erfreulicherweise oft Blickkontakt mit der Kamera/ dem Rezipienten auf, so dass das Gefühl entsteht, man hätte tatsächlich eine Privatstunde beim Großmeister gebucht. Wer bereits einige Übung damit hat, taktische Probleme am Bildschirm zu lösen, der kann dem Vortrag folgen, indem er sich durch Pausieren des Videos Zeit zum Lösen der Aufgaben verschafft. Einfach beim ChessBase-Reader im Menüpunkt „Ansicht“ die Fensterfläche „Notation“ aufrufen und dort den Reiter „Training“ wählen, und gleich ist ersichtlich, welche Partei am Zug ist. Da das nächste entscheidende Spiel im Verein oder bei einem Turnier am Brett und nicht am Bildschirm ausgetragen werden wird, ist das parallele Aufbauen der Stellung am Brett bei kniffligen Aufgaben dennoch ratsam.

Beispielvideo


Fesselung – das Spiel mit der optischen Illusion

Schach ist ein visuelles Spiel. Nicht selten beurteilen wir Stellungen nach optischen Gesichtspunkten und finden zum Beispiel, dass eine Stellung unserer bisherigen Erfahrung nach „gut aussieht“ und erliegen dabei bisweilen einer optischen Illusion. Eine Fesselung zum Beispiel vermag unsere Sinne zu täuschen: Eine gefesselte Figur ist nicht mehr mobil und vermag, ihre Fähigkeiten zum Beispiel als Deckungsfigur nicht mehr zu erledigen. Ihre scheinbare Aktivität ist eine Illusion, so kann zum Beispiel der von ihr nur scheinbar gedeckte Stein hängen und erobert werden. Eine Figur, die sich nicht rechtzeitig aus einer Fesselung befreien kann, läuft bekannter weise zudem Gefahr, plötzlich von Angreifern umzingelt und später erobert zu werden. Kasimdzhanov führt sachlich durch die magische Welt der Fesselung und zeigt, wie selbst Großmeister ihrer Täuschung erliegen, wenn sie sich als trickreiche Falle in deren Variantenberechnung einschleicht.

Während das taktische Handwerkzeug, eine Fesselung aufzubauen und auszunutzen, den meisten Vereinsspielern bekannt sein dürfte, stellt das kunstfertige Entfesseln für viele sicherlich eine Fertigkeit dar, die es mit dieser DVD besonders zu studieren gilt. Während der Arbeit mit dieser DVD wurde ich zufällig Zeuge eines anschaulichen Beispiels, das sich während der Berliner Stadtmeisterschaft zugetragen hat:

Entfesselung...

Ein anderes wichtiges Verfahren veranschaulicht das folgende Beispiel, das in der DVD vorgestellt wird:

Fesselung...

Der Doppelangriff – der Chuck Norris unter den Taktiken?

Beim Doppelangriff erleben wir das Prinzip der zwei Schwächen in seiner taktischen Ausprägung. Die Schwächen sind hierbei taktischer Natur, bestehen zum Beispiel aus hängenden Figuren, ungeschützten Königen oder einer Drohung. Nun ist der richtige Stein von Nöten, der möglichst viele wunde Punkte gleichzeitig aufs Korn nimmt. Ein Spezialfall für Typen wie Chuck Norris?

Der Doppelangriff ist auf dem Schachbrett jedoch nicht Superhelden vorbehalten, jede Figur kann einen solchen ausführen, angefangen bei den Bauern und selbst dem König. Und sehr oft ist ein effektiver Doppelangriff das Ergebnis nicht der Superkräfte eines Einzelnen, sondern dem Teamgeist der Figuren zu verdanken: Eine Figur lenkt zum Beispiel eine feindliche Kraft zum Beispiel auf ein bestimmtes Feld und diese wird dort Opfer eines Doppelangriffes einer zweiten Figur. Die Ratschläge des ehemaligen FIDE-Weltmeisters von 2004 sind so elementar wie einfach, wenn man nicht wüsste, wie oft, gerade in hitzigen Schlagabtäuschen, diese nicht beherzigt werden: „Lasst eure Figuren nicht hängen und wenn immer ihr eine feindliche hängen seht, sucht nach taktischen Möglichkeiten, diese zu gewinnen!“ Ein erfolgreicher Taktikfuchs wird laut Kasimdzhanov nur der, der seinen Figuren auch etwas zutraut, wofür bisweilen eine gesunde Portion optimistischer Vorstellungsgabe von Nöten ist, wie das folgende Beispiel belegen kann:

Doppelangriff...

Wer dem optimistischen Konzept zunächst wenig abgewinnen kann, der kann seine analytische Stärke weiter ausbauen. Die wichtigste Fähigkeit ist hierbei, taktische Schwächen des Gegners zu erkennen. Sind diese genau bestimmt, ergibt sich das Anbringen eines entscheidenden taktischen Schlags oft von alleine.

Die Grundreihenschwäche – der eingemauerte König

Last but not least: Die Grundreihenschwäche. Die Eröffnungszüge sind abgespult, die Könige rochiert, die Stellung öffnet sich und plötzlich kommen die feindlichen Schwerfiguren in Berührung mit der Grundreihe. Nun stellt sich die Frage: Kann der Monarch eventuellen Schachgeboten auf der Grundreihe entkommen, oder wird ihm seine eigene Festung zum Verhängnis? Nicht nur auf Vereinsebene stellt die Grundreihenschwäche ein wichtiges Element dar, mit dem der Gegner entscheidend drohen oder sofort das Spiel für sich entscheiden kann.

Besonders beeindruckend fand ich das in diesem Zusammenhang vorgetragene Konzept der „zweiten Berechnungswelle“, das für alle taktische Berechnungen gilt: Liegt ein Motiv in der Luft, von dem man zum Beispiel dank des Studiums dieser DVD Witterung aufgenommen hat, das sich aber mit den ersten, etwas ungestümen Berechnungen nicht fassen lässt, so empfiehlt Kasimdzhanov, nicht aufzugeben, sondern das Motiv mit einer zweiten, das ganze Brett umfassenden Sondierung zu bergen. Anschaulich hierfür das folgende Beispiel:

Grundreihe...

Fazit

Rustam Kasimdzhanovs „Power of Tactics“: Ein taktischer Trimm-Dich-Pfad für den Vereinsspieler. Zu drei verschiedene Themen wird jeweils ein Parcours von 4 bis 6 Videos angeboten, deren Schwierigkeitsgrad stets ansteigt. Die ersten Übungen dürften jedem durchschnittlichen Vereinsspieler leicht fallen und sollten genutzt werden, um erst einmal warm zu werden, um seine Nervenfortsätze schon mal zu dehnen und elastisch zu machen für die Stellungen aus der Großmeisterpraxis. Kasimdzhanovs Ansatz, sich auf drei der wichtigsten taktischen Motive zu konzentrieren, scheint gut durchdacht zu sein. Nach Studium dieses Lehrmediums sind einem diese vertrauter und zudem hat man seine Variantenberechnung geübt und dies mit einem großartigen Coach an seiner Seite, der einem einen Einblick in die Gedankengänge eines Spitzengroßmeisters gewährt hat. Besonders empfehlenswert für alle, die schon lange mal wieder was „für die Taktik machen“ wollten und auch besonders für jene, die sich für taktisch nicht so begabt halten und so den regelmäßigen Blick in eine Taktikfibel scheuen. Wie sagt Herr Tarrasch so schön in seinem Klassiker „Das Schachspiel“: Die taktische Motive muss man halt „sehen können“.

Man sieht oft etwas hundertmal, tausendmal,
ehe man es zum ersten Male wirklich sieht.
Christian Morgenstern (1871 - 1914)

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