Die Idee, ein Werk über die Schachweltmeister und die mit
ihnen verbundene Entwicklung des Schachspiels zu schreiben, muss Kasparov schon
lange bewegt haben, denn als die Welt am Sonntag 1996 einen Autor für ihre
Schachkolumne suchte und Kasparov ins Gespräch kam, war dieser gleich
interessiert und wartete mit genau dieser Idee auf: eine Übersicht über die
Weltmeister bzw. die inoffiziellen Vorweltmeister. Tatsächlich schrieb der
damalige Schachweltmeister 1996 und 1997 insgesamt 41 Kolumnen, die sich
inhaltlich mit den großen Spielern und deren Partien beschäftigten. Das war
gewissermaßen der Vorläufer des nun erschienenen Werkes, das am Ende
natürlich viel umfangreicher sein wird.
ChessBase hatte damals an der Kolumne mitgearbeitet, die parallel in der Welt am
Sonntag und der Los Angeles Times erschien. Meist war es so, dass irgendwann das
Faxgerät ansprang und die Papierrolle im Faxgerät - im letzten Jahrhundert
wurden die Faxgeräte noch mit Spezialpapier von Rollen gespeist - ein
ordentliche Anzahl von Umdrehungen hinlegen musste, bis der ganze Text
übermittelt war, den Kasparov auf der anderen Seite der Leitung in Moskau
eingespeist hatte. Am Ende der Prozedur stand auf dem Papier ein langer von
englischer Text in Kasparovs Handschrift. Bei ChessBase wurde der Text in
den Computer eingetippt und übersetzt.
In Band Eins der in der deutschen Version bei Edition Olms
erschienenen Ausgabe "Meine großen Vorkämpfer" gibt Kasparov in der Einleitung
einen Überblick über die bisherigen Weltmeister. Am Anfang steht Steinitz, am
Ende Kasparovs unmittelbarer Nachfolger Kramnik. Dort charakterisiert er die
Weltmeister in ihrer Persönlichkeit und ihrem Schachstil und stellt sie in einen
historischen Zusammenhang, als Vertreter ihrer Zeit. So ist Steinitz ein
Vorkämpfer der aufkommenden Wissenschaften zu Mitte des 19.Jahrhunderts. Lasker,
als Zeitgenosse von Freud, sieht er als Vertreter des psychologischen Schule.
Und Fischer ist jemand, der durch den Individualismus der Popkultur der
Sechziger Jahre geprägt war. Dass Kasparov sich selbst sich als Kind der
Perestroika versteht, ist bekannt. Sein Sieg über Karpov ist ein Sieg der
Perestroika und das Ende der Breschniev-Ära. Und Kramnik? Kramnik ist das Kind
der neuen pragmatischen und rein geschäftlich ausgerichteten neuen
Lebensphilosophie in Russland.
In der Folge stellte Kasparov zunächst Partien der
Vorweltmeister vor, die jeweils die besten Spieler ihrer Zeit waren. Am Anfang
stehen Greco und Philidor. Die erste kommentierte Partie im Buch ist dann die
16. Partie aus dem 4. Wettkampf zwischen McDonnel und La Bourdonnais,
London 1934. Schließlich geht es im Hauptteil des Buches um die ersten beiden
offiziellen Weltmeister im Schach, Wilhelm Steinitz und Emmanuel Lasker.
Insgesamt enthält der Band 73 kommentierte Partien bzw. Partiefragmente. Partie
73 stammt aus dem berühmten ersten Großmeisterturnier von Moskau 1925. Der große
Mann des Schachs in der frühen Sowjetunion, Ilyin-Genevsky wird von Lasker
zusammen gefaltet.
Was mir besonders an der Art der Kommentierung gefallen hat, ist die höfliche
Ehrfurcht und Achtung, mit der Kasparov sich den betrachteten Meistern nähert.
Obwohl er es sich angesichts des riesigen Unterschieds im Schachverständnis
manchmal vielleicht leisten könnte, verzichtet Kasparov auf jede Arroganz. So
heißt es z.B.: "Ich ziehe den Hut vor diesem großen Schachkünstler, doch richtig
ist der grobe Zug 17...Lg4!" Oder als heftiger gemeinte Kritik die milde
Äußerung: "Ein relativ ungewöhnliches Manöver." Neben eigenen Kommentaren fügt
Kasparov auch solche zeitgenössischer oder früherer Kommentatoren ein. Im
abschließenden Urteil über die Meister lässt er auch andere in Zitaten zu Wort
kommen. Und zwischen den Zügen oder als Einleitung zu den Partien gibt es genug
Platz für viele historische Einsprengsel, die Kasparov gerne nutzt. Kasparov ist
ein großer Erzähler.
Der eigentliche Wert des Buches liegt natürlich in seinen
schachlichen Kommentaren. Wie selbstverständlich und ganz nebenbei offenbart
Kasparov in den Anmerkungen und Varianten sein weltmeisterliches
Schachverständnis. Das ist wahrscheinlich viel ergiebiger und lehrreicher, als
wenn er eigene Partien kommentieren würde. "Meine großen Vorkämpfer" ist ein
Buch, dessen Anschaffung niemand bereuen wird, selbst wenn er sich für Schach
nur am Rande interessiert.
Eine der kommentierten Partien ist übrigens Steinitz -
Mongredian, London 1862. An die Erstveröffentlichung der Anmerkungen in der Welt
am Sonntag habe ich eine gute Erinnerung. Vor sieben Jahren, als Kasparov die
Partie den Lesern der Welt am Sonntag vorstellte, hatte er sie, wie alle anderen
auch, am Schluss mit einer Preisfrage verknüpft. Es ging um die beste
Verteidigung nach einem Turmeinschlag von Steinitz. Kasparov hatte schon einige
Varianten vorbereitet und war dann zum Turnier nach Las Palmas gefahren. Die
Antworten der Leser und die angegebenen Varianten gingen dann weit über das
hinaus, was Kasparov vorhergesehen hatte. Viele Leser hatten nämlich ihre
Fritz-Programme angeworfen und spannende Varianten entdeckt. Wir hatten die
Aufgabe, die Antworten auszuwerten und Kasparovs Lösung bekannt zu geben. Dessen
vorbereiteten Varianten sahen allerdings angesichts der eingegangnen Vorschläge
etwas dünn aus. Der Meister war in Las Palmas nicht zu erreichen. Schließlich
fanden wir eine Lösung, indem wir eine noch ausführlichere Lösung des
Weltmeisters für die folgende Ausgabe ankündigten. Tatsächlich hat er sich
danach noch einmal eingehend mit der Partie beschäftigt, zusammen mit seinem
"eisernen Freund Fritz", wie er ihn im Buch nennt.
Garri Kasparov: Meine großen Vorkämpfer, Edition Olms, 2003,
Euro: 29,95
ISBN 3-283-00470-6
André Schulz