Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Westdeutschen Allgemeinen
Zeitung:
Meilenstein San Luis
Von Gerd Niewerth
Essen. Millionen Schachspieler in aller Welt schauen gebannt nach San Luis.
In der argentinischen Provinzhauptstadt beginnt an diesem Mittwoch das
Weltmeisterschafts-Turnier, das als Meilenstein in die Geschichte des
Schachsports eingehen könnte. "San Luis ist ganz klar das wichtigste
Schachturnier seit Jahrzehnten", urteilt Raj Tischbierek, Chefredakteur des
renommierten Magazins "Schach".
Der Berliner Großmeister, der für Kreuzberg in der Bundesliga spielt, geht
davon aus, dass der mit einer Million US-Dollar dotierte Wettkampf die
Weichen für die lang ersehnte Wiedervereinigung der Schachwelt stellen wird.
Seitdem der geniale russische Schachweltmeister Garri Kasparow dem
Weltverband "Fide" vor zwölf Jahren den Rücken kehrte, herrschen in der Welt
des Spitzenschachs ähnlich chaotische Zustände wie im Boxsport. Zurzeit gibt
es neben Wladimir Kramnik (Russland), dem Weltmeister im klassischen Schach,
noch Fide-Weltmeister Rustam Kasimdschanow (Usbekistan), der allerdings auf
Platz 34 der Weltrangliste abgerutscht ist.
Das besondere an dem argentinischen Turnier ist die exquisite Besetzung des
achtköpfigen Feldes. Es garantiert, dass der Sieger als unumstrittener
Kramnik-Herausforderer anzutreten vermag. Als Top-Favoriten gelten der Inder
Vishy Anand (36) und der Bulgare Weselin Topalow (30), die gemeinsam die
Weltrangliste anführen. Chancenreicher Außenseiter ist der Ranglistendritte
Peter Leko (26) aus Ungarn, der Schachspielern im Ruhrgebiet als
Doppelsieger von Dortmund (1999/2000) ein Begriff ist. Ebenso spannend ist
die Frage, wie die einzige Frau abschneiden wird. Die Ungarin Judith Polgár
(29) gehört zu den Top 10 und ist deshalb in der Männerdomäne Schach eine
Ausnahmeerscheinung.
"Sie ist eine Killerin, die das Matt zwanzig Züge im voraus riecht", rühmt
der englische Großmeister Nigel Short ihre kombinatorischen Finessen. Kein
Wunder, dass Polgár sowohl Garri Kasparow als auch Wladimir Kramnik bezwang.
Weitere Teilnehmer des Super-Turniers sind Rustam Kasimdschwanow, Michael
Adams (Großbritannien), Peter Swidler (Russland) und Alexander Morosewitsch
(Russland).
Sobald der Sieger am 15. Oktober feststeht, können aus Sicht von
Kramnik-Manager Carsten Hensel (Dortmund) schon die Verhandlungen für das
Vereinigungs-Finale um die Krone im Schachsport beginnen. "Kramnik hat
mehrfach bestätigt, dass er gegen den Sieger von San Luis antreten wird",
betont Hensel. "Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, wird das Match schon in
der zweiten Hälfte 2006 steigen." Dann muss der Ranglistenfünfte Kramnik
zeigen, was sein WM-Titel tatsächlich Wert ist. Denn nur mit viel Glück
verteidigte er im letzten Jahr in Brissago den Titel gegen Leko. "Kramniks
Sieg gegen Kasparow war historisch, aber das ist fünf Jahre her", sagt Raj
Tischbierek. "Seitdem vermisse ich bei Kramnik Top-Ergebnisse in
Top-Turnieren".