"Schach war meine Tür in die Freiheit!"

von André Schulz
27.04.2016 – Schachgroßmeister Lev Alburt war einer von zahlreichen Bürgern, die zu Zeiten der Sowjetunion von den Segnungen des Kommunismus nicht recht überzeugt waren. Nachdem zuvor schon Großmeister wie Gennadi Sosonko oder Viktor Kortschnoj Auslandsaufenthalte zur Flucht genutzt hatten, entschloss sich auch Alburt zu diesem Schritt. Ein Europapokalspiel gegen die SG Solingen nutze Alburt, um sich abzusetzen. Mehr...

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Lev Alburt wurde am 21. August 1945 in Orenburg ("Оренбург") geboren, einem Ort im Südosten Russlands, nahe der Grenze zu Kasachstan gelegen. 1743 als russischer Außenposten an der damaligen Ostgrenze Russlands zum noch unerforschten Asien gegründet, kann sich heute niemand mehr den so deutsch klingenden Namen der Stadt erklären.

Alburts Familie siedelte nach Odessa um, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. In seinem Artikel für die US-Ausgabe (seit 2007) des eigentlich britischen Guardian beschreibt Alburt die oppositionelle Haltung zum Stalin-Regime, die er und seine Freunde schon als Kinder hatten und die späteren Hoffnungen auf eine Befreiung der unterdrückten Bevölkerung im kommunistisch regierten Russland, beziehungsweise Sowjetunion, als Reaktion des Westens auf die Besetzung Ungarns 1956 durch die Truppen des Warschauer Paktes. Die Befreiung kam nicht, aber der Traum von einem Leben in Freiheit, und hier in erster Linie in den USA, wurde weiter genährt. Zum Widerstandskämpfer fehlte ihm der Mut, so Alburt, aber immerhin schaffte er es, dem eigentlich erzwungenen Beitritt zur kommunistischen Jugendorganisation Komsomol ("Коммунистический союз молодёжи" = Kommunistischer Jugendverband) zu entgehen.

Alburt wurde ein starker Schachspieler. In der Mega Database stammen die ersten von ihm überlieferten Partien aus den Jahren 1965/66. Hier gelang ihm zum Beispiel ein Sieg über den älteren Lev Polugajevsky. In den Jahren 1972-1974 gewann Lev Alburt dreimal die Ukrainische Meisterschaft. 1976 erhielt er den Titel "Internationaler Meister", 1977 den Titel eines Internationalen Großmeisters. Seine Erfolge im Schach brachten ihm ein staatliches Stipendium ein und außerdem die Möglichkeit ins Ausland zu reisen, um dort an Schachturnieren teilzunehmen, zunächst nur in Ländern, die zum damaligen "Ostblock" gehörten. 1979 reiste er mit seiner Mannschaft "Burevestnik" jedoch zum Viertelfinale des Europapokals gegen das westdeutsche Spitzenteam SG Solingen in die Bundesrepublik Deutschland und nutzte seinen ersten Aufenthalt im Westen zur Flucht.

Nach der Landung seiner Aeroflot-Maschine in Frankfurt entfernte Alburt sich von seiner Delegation, nahm ein Taxi und nannte dem Fahrer "Köln, Polizeipräsidium" als Ziel. Dort stellte er sich den deutschen Behörden als "Überläufer". Schließlich bat er in der israelischen Botschaft um Asyl, entschloss sich dann aber, seinem früheren Trainer Michael Faynberg in die USA zu folgen. Mit 80 Dollar als einzigen Besitz erreichte er die USA und lebte für einige Monate bei Faynberg in New York, bevor er durch Erfolge bei Schachturnieren in der Lage war, für sich selber zu sorgen. Innerhalb kurzer Zeit stieg er zum besten Spieler der USA auf. 1985 erhielt er die US-Staatsbürgerschaft, spielte aber schon ab 1980 in der US-Mannschaft bei Schacholympiaden mit, insgesamt bei drei Olympiaden. 1984, 1985 und 1990 wurde Alburt US-Landesmeister. Von 1985-1988 gehörte er auch dem Präsidium des US-Schachverbandes an. "Schach war meine Tür zur Freiheit", betitelte Alburt seinen Rückblick im Guardian. Nach Alburts Flucht wurde in einem sowjetischen Buch über ein Schachturnier in Kiev, in dem Alburt Fünfter geworden war, sein Name übrigens vollständig getilgt.

Frederic Friedel interviewt Lev Alburt, 2003 in New York, beim Wettkampf Fritz gegen Kasparov

Lev Alburt war nicht der einzige Schachgroßmeister, der die UdSSR bei einem Auslandsaufenthalt verließ. Der prominenteste Schachspieler, der sich zu diesem Schritt entschloss, war sicher Viktor Kortschnoj. Er bat 1976 bei einem Aufenthalt in den Niederlanden um Asyl und bangte seitdem um sein Leben, denn er fürchtete, dass der KGB nun seinen Tod plante. 1974 hatte Kortschnoj das Kandidatenfinale gegen Karpov bestritten und 1978 qualifizierte er sich als Herausforderer von Karpov, der 1975 kampflos Weltmeister geworden war, weil Robert Fischer zur Titelverteidigung nicht antrat. Der Schach-WM-Kampf zwischen dem "Überläufer" und dem Sowjet-Weltmeister Karpov wurde zum Politikum. Michail Tal, Sekundant von Karpov, soll später erzählt haben, dass der KGB tatsächlich Kortschnojs Ermordung geplant hatte, falls dieser den WM-Kampf gegen Karpov gewonnen hätte. Nach einer Flucht wurde Kortschnoj von allen Spielern des Ostblocks boykottiert und erreichte erst 1983 ein Ende des Boykotts, als er sich bereit erklärte, den eigentlich schon kampflos gewonnenen Wettkampf gegen Garry Kasparov doch noch aufzunehmen.

1972 hatte auch Gennadi Sosonko einen Aufenthalt in Israel zur Flucht genutzt. Er ließ sich später in den Niederlanden nieder. Eine spektakuläre Flucht gelang 1980 Igor Ivanov, der bei einem Zwischenstopp seines Aeroflot-Fliegers das Flugzeug verließ und in Kanada um Asyl bat. Auch aus anderen kommunistisch regierten Ländern flohen Schachgroßmeister oder übersiedelten in den Westen: der Ungar Pal Benkö (1957 in die USA) und die Tschechen Ludek Pachmann (1972 in die BRD) und Vlastimil Hort (1985 in die BRD) sind bekannte Namen.

 

 

Artikel in The Guardian...

Wikipedia: List of sovjet defectors...

 

 


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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