Schachspieler und Musiker

von Martin Schaffeld
09.05.2017 – "Das Schachspiel hat wie die Musik und die Liebe, die Fähigkeit, den Menschen glücklich zu machen," wusste schon Siegbert Tarrasch. Zwischen Schach und Musik besteht eine enge Verbindung und mancher herausragende Schachspieler war und ist auch ein großer Musikliebhaber.

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Mehrwert Musik

Viele Top-Großmeister wie Aronian, Smyslow, Taimanov, Philidor oder Sutovsky haben auch eine Musikausbildung genossen. Hat diese künstlerische Grundlage einen entscheidenden Einfluss auf die Schachkarriere von Profis? Oder ist es lediglich purer Zufall? Mehr …

Wladimir Kramnik ist nur ein Name, der den Schachfans beim Kontext Musik in den Kopf steigt. Die Mutter des Ex-Weltmeisters ist Musiklehrerin und war Teil einer intellektuellen Künstlerfamilie: Sein Vater ist Maler und Bildhauer. Dieses Elternhaus in Tuapse (am Schwarzen Meer) hat Kramnik bis in die Gegenwart hinein geprägt.

"Die meisten meiner Freunde sind Sportler oder Musiker", betont Kramnik. "Am liebsten sind mir diejenigen, mit denen ich nicht über Schach sprechen kann. Ich habe aber festgestellt, dass fast alle Musiker auch Schach spielen – da gibt es offenbar einen Zusammenhang."

Gehirne von Berufsmusikern

Wie kann diese Verbindung aussehen? Forscher der Uni Jena haben gemeinsam mit Gottfried Schlaug von der Harvard Medical School in Boston herausgefunden, dass sich die Gehirne von Berufsmusikern auffällig von denen der Nichtmusiker unterscheiden. Bereiche, die für das Hören, das räumliche Sehen und das Umsetzen von Bewegung zuständig sind, waren bei Musikern deutlich vergrößert. Mutmaßlich, weil sie in ihrem Spiel nicht nur vorausdenken und die passenden Bewegungen zur Musik ausführen müssen, sondern gleichzeitig auch überprüfen sollen, ob sie richtig gespielt haben. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass bei der Verarbeitung von Musik sogar das Broca-Areal beteiligt ist – eines der beiden Sprachzentren. Und das wiederum hat Auswirkungen auf die kognitive und emotionale Entwicklung.

"Es ist eigenartig, aber aus neurowissenschaftlicher Sicht spricht alles dafür, dass die nutzloseste Leistung, zu der Menschen befähigt sind – und das ist unzweifelhaft das unbekümmerte, absichtslose Singen – den größten Nutzeffekt für die Entwicklung von Kindergehirnen hat", erklärt Professor Gerald Hüther, Leiter der Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Uni Göttingen und Mannheim/Heidelberg, auf BR.de.

Genre bestimmt die Gehirnhälfte

Ob und wie sich das Muster der Hirnaktivität auch zwischen verschiedenen Musikstilen unterscheidet, hat im August 2013 ein Forscherteam um den Studienleiter Vinoo Alluri von der Uni Iyväskylä in Finnland untersucht: Für ihre Studie spielten sie Probanden diverse Musikstücke vor, darunter Passagen aus einem Vivaldi-Konzert, ein Jazzstück von Miles Davis, Blues, einen argentinischen Tango und einen Beatles-Song. Während die Teilnehmer der Musik lauschten, maßen die Forscher ihre Hirnaktivität via funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT).

Erwartungsgemäß gab es einige Areale, die von allen Musikarten aktiviert wurden: Bereiche in der Hörrinde, im Emotionen verarbeitenden limbischen System und im motorischen Cortex. Aber es gab auch Unterschiede. Besonders komplexe Musikstücke lösten eine höhere Aktivität im rechten Schläfenlappen aus. Und bei Liedern mit Text verschob sich die Aktivität von der linken überwiegend in die rechte Hirnhälfte. Mithilfe der Schnittbilder des menschlichen Gehirns zeigt sich, dass in Musikerhirnen die Verbindung zwischen rechter und linker Gehirnhälfte, das sogenannte Corpus callosum, deutlich kräftiger ausgebildet ist. Und es ist mehr graue Substanz in Regionen vorhanden, die für die Motorik, die auditive und die räumlich-visuelle Wahrnehmung zuständig sind.

Das räumliche Vorstellungsvermögen benötigen auch Schachprofis bei der Variantenberechnung. Kramniks Landsmann und Trainer, Ex-Weltmeister Michail Botwinnik, meinte einmal, die Kunst des Schachspiels stünde der Musik in Nichts nach. Eine Einschätzung, die auch die Gesellschaft teilte: Sowohl schachliche als auch musikalische Bildung genoss in gewissen bürgerlich-intellektuellen Kreisen ein hohes Ansehen, weshalb die Eltern sie ihren Kindern eben zukommen ließen. Entsprechend kamen viele starke Schachspieler eben aus Elternhäusern, in denen auch die Musik als Hobby oder gar Beruf gepflegt wurde. In der Tat ist Botvinniks einstiger Schüler Kramnik nicht der einzige Super-Großmeister, der solch einen Hintergrund hat.

"Ich habe die Musik zugunsten des Schachspielens aufgegeben", sagte der Armenier Levon Aronian. "In meiner Kindheit habe ich Klavier und Schach gelernt, aber wegen des Fahrzeitaufwandes musste ich mich entscheiden. Also habe ich nur ein Jahr Musik gelernt, obwohl es trotzdem die Liebe meines Lebens war." Auch Aronian gilt als künstlerischer Virtuose am Schachbrett, der WM-Kandidat kombiniert innovative Ideen mit präziser Technik.

Heinz von Loesch, Professor der Musikwissenschaften an der TU Berlin fasst den Zusammenhang der Virtuosität in der Musik und anderen Bereichen wie folgt zusammen: "Die Assoziation mit dem Technischen, genauer gesagt, mit der Beherrschung des Technischen, ist nicht nur für den Virtuositätsbegriff in der Musik grundlegend, sie ist grundlegend für den Virtuositätsbegriff überhaupt. Sie ist gemeint, wenn wir von Virtuosität in der Malerei und Verskunst sprechen, von jener der Akrobaten und Jongleure, von der Virtuosität im Schach wie in der politischen Diplomatie."

Portisch "sang" ein Remisangebot

Der holländische WM-Schiedsrichter Geurt Gijssen erzählte dem deutschen Großmeister Helmut Pfleger einmal folgende Anekdote: Beim WM-Kampf Karpow-Kasparow 1987 in Sevilla übermittelte Karpows Sekundant, der ungarische Großmeister und vorzügliche Sänger Lajos Portisch, telefonisch eine Remisofferte in der Hängepartie. So weit, so gut – doch wie sollte die Gegenseite absolut sicher sein, dass Portisch wirklich Portisch war? Und so bat man ihn, am Telefon eine seiner Lieblingsarien zu singen. Dies tat Portisch, also konnte das Remisangebot unbesorgt an Kasparow weitergeleitet werden – diesmal ohne Gesang.

Der französische Komponist André Danican Philidor sowie die beiden russischen Schach-Legenden Mark Taimanow und Vassily Smyslov waren sogar hauptberufliche Musiker. Konzertpianist Taimanov war bereits im Alter von elf Jahren im Film "The Beethoven Concerto" ein Kinderstar, er gab im Laufe der Jahre über 1.000 Klavierkonzerte weltweit. Laut Pfleger kommentierte Taimanov dies mit einem Augenzwinkern: "Wenn ich Schach spielte, waren das Ferien von der Musik. Wenn ich Musik machte, waren das Ferien vom Schach. So war mein ganzes Leben eine einzige Ferienzeit."

Mutter Musiklehrerin

Ex-Weltmeister Smyslov war ausgebildeter Opernsänger. Als lyrischer Bariton hatte er in Russland Schallplatten und CDs mit Opernarien und klassischen Romanzen aufnehmen lassen. Bis zu seinem 80. Lebensjahr gab er Konzerte. Smyslovs Mutter war ebenfalls Musiklehrerin und hatte ihn als Kind in diese Richtung entscheidend geprägt. "Mein Schachstudium war immer begleitet von der Liebe zur Musik. Aus diesem Grund habe ich Schach auch immer als Kunst verstanden – neben den Anteilen von Wissenschaft und Sport", sagte Smyslow einmal. "Ich denke zwar nicht, dass Musik meinen Schachstil beeinflusst hat. Aber ich bin davon überzeugt, dass meine Hingabe zur Musik und zum Schachspiel eng zusammenhängen."

 

Tarrasch, Tal & Co. sind sich einig

Der alte deutsche Schachmeister Siegbert Tarrasch brachte diese enge Korrespondenz schon vor einem Jahrhundert auf den Punkt: "Das Schachspiel hat wie die Musik und die Liebe, die Fähigkeit, den Menschen glücklich zu machen." Magnus Carlsen hat sich vielleicht eher mit dem WM-Titel 2013 glücklich gemacht. Das ehemalige Wunderkind nennt man "Mozart des Schachs" – nach dem klassischen Komponisten. Carlsens Vorgänger Michail Tal sagte einmal, dass die großen Schach-Talente seiner Zeit (Tal dachte an Kasparov) nicht klassischen, sondern eher moderneren Komponisten wie Prokofiev oder Shostakovich ähneln.

Fazit

Dass Spitzengroßmeister so häufig auch eine musikalische Ausbildung genossen haben, ist nicht mit Zufall zu erklären. Es ist offensichtlich, dass viele der alten und neuen Meister eine umfassende Bildung in vielen intellektuell fordernden Disziplinen wie Musik, Mathematik, Kunst oder Literatur genossen haben. Die intensive Beschäftigung mit Musik hat wissenschaftlich belegt einen großen Einfluss auf Hirnstruktur und -aktivität wie z. B. die Bildung der grauen Substanz. Die kognitive und emotionale Entwicklung der beiden Sprachzentren durch Musik komplettiert die Fähigkeiten eines leistungsstarken Gehirns, das den Schlüssel zur Schachweltspitze darstellen kann.

 


Martin Schaffeld (Jahrgang 1971, verheiratet/zwei Töchter) lebt in Langenfeld bei Düsseldorf und arbeitet seit seinem Sportpublizistik-Studium als freier Journalist und Online-Redakteur.

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