Tartakower und der "Russenspiegel"

von ChessBase
15.09.2009 – Vor 80 Jahren veröffentlichte Savielly Tartakower in der Wochenschrift „Denken und Raten“ unter dem Titel "Der Russenspiegel" einen Artikel zur damals aktuellen Entwicklung des Schachs, wobei dem großen Meister mit der spitzen Feder das "Russenvolk" besonders am Herzen lag. Tartakower selbst wurde als Sohn jüdischer Eltern in Russland geboren, allerdings eher zufällig. Sein Vater war Österreicher, seine Mutter Polin. Beide Eltern wurden bei einem Pogrom ermordet, als Tartakower 12 Jahre alt war. Ihren Sohn hatte das Paar durch Taufe vor diesem Schicksal bewahrt. Im ersten Weltkrieg dient Taratakower in der östereichisch-ungarischen k.u.k-Armee, nimmt später die polnische Staatsbürgerschaft an und vertritt sein Heimatland sechsmal auf Schacholympiaden. Später übersiedelt er nach Frankreich. 1953, drei Jahre vor seinem Tod, gewinnt er die französische Landesmeisterschaft. Noch berühmter als seine Partien, sind seine "Tartakowerismen", wie "Der vorletzte Fehler gewinnt". Frank Große begleitet Savielly Tartakower bei seinem Streifzug durch die russische Schachgeschichte. Der Russenspiegel...

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„Der Russenspiegel“
Von Frank Große

Vor genau 80 Jahren veröffentlichte der polnisch-französische Schachmeister Savielly Grigoriewitsch Tartakower in Scherls Wochenschrift „Denken und Raten“ (1) unter obiger Überschrift einen Artikel, der sich mit der Entwicklung des Schachs im Jahre 1929 auseinandersetzte. Tartakower wurde am 22. Februar 1887 in Russland geboren (Seine jüdischen Eltern wurden 1911 bei einem zaristischen Pogrom ermordet, konnten ihn aber vor dem Schicksal bewahren, indem er bei seiner Geburt vorsorglich christlich getauft wurde.) und war als Schachschriftsteller im Laufe seines Lebens für 30 Zeitungen tätig.

Begünstigt wurde dies mit Sicherheit durch seine wechselnden Lebensstandorte, bei denen er auch vermutlich vier Mal die Nationalität änderte. Tartakower studierte nach seinem Abiturabschluss in der Schweiz die Rechtswissenschaften in Wien, die er mit dem Grad eines Doktors absolvierte. Im ersten Weltkrieg wurde er von der österreichisch-ungarischen Armee rekrutiert und siedelte anschließend nach Paris über, wo er den Großteil seines Lebens als Schachprofi und Autor lebte. Dennoch nahm er 1918 nach der Unabhängigkeit Polens deren Staatsbürgerschaft an und vertrat diese bei sechs Schacholympiaden, wobei die Goldmedaille bei der Hamburger Olympiade 1930 der größte Triumph war. Obwohl er bereits 1924 Frankreich beim berühmten New Yorker Turnier repräsentierte, dauerte es noch bis 1950, bis er seine Wahlheimat an den Brettern vertrat. Drei Jahre vor seinem Tode (1956) konnte er die Französische Meisterschaft gewinnen. „Die hypermoderne Schachpartie“ ist sein Paradebuch, das ihn auch aufgrund seiner geflügelten Reime, den sogenannten ‚Tartakowerismen‘ - z.B. „Der vorletzte Fehler gewinnt.“ – bis heute unvergessen bleiben lässt.


Globetrotter Tartakower nachdenklich (2)

Zurück zum Jahre 1929, das Tartakower wie folgt resümiert: „… so erkennt man, daß in strategischer Beziehung dem Verwicklungsgrundsatz gehuldigt wurde, in eröffnungstheoretischer Beziehung die offenen Spiele häufiger auftraten, und endlich in persönlicher Beziehung eine Anzahl neuer, junger und vielversprechender Talente in fast allen Ländern aufgetaucht sind. Dabei scheint das Russenvolk auf die von ihm in den letzten Jahren eroberte Schachhegemonie keineswegs verzichten zu wollen: Mit vollen Händen spendet es der übrigen Welt neue analytische sowie ideelle Schachwerte.“ Tartakower holt weit aus, in dem bis in das Jahre 1924 zurückschaut, dem Jahr wo die ‚Meraner Variante‘ (1. d4 d5 2. c4 c6 3. Sf3 Sf6 4. e3 e6 5. Sc3 Sbd7 6. Ld3 dxc4 7. Lxc4 b5) von Rubinstein „geboren“ und in den nachfolgenden Jahren von Aljechin und Bogoljubow ausgebaut wurde. Den Bärenanteil an der theoretischen Entwicklung via Analysearbeit hatten aber die russischen Theoretiker Blumenfeld, Sozin und Freymann.


Benjamin Blumenfeld (3)

Große Hoffnungen setzte Tartakower in die Talente der jüngeren Vergangenheit und nennt Botwinnik und Panow in einem Zug, weist aber besonders auf den jugendlichen Moskauer Kan hin, der bei seiner ersten Teilnahme der Allrussischen Meisterschaft „fast die ganze Zeit an der Spitze stand und nur ganz am Schluß den zäheren sowie erfahrenen Meistern Verlinsky und Freymann den Vortritt überlassen mußte“. Ilia Abramovich Kan nahm insgesamt an zehn sowjetischen Meisterschaften teil und konnte bei seiner Premiere in Odessa, was Tartakower nicht wissen konnte, seinen größten Triumph feiern. In den Moskauer Meisterschaften spielte er in den 30er Jahren eine bedeutende Rolle und kämpfte fortwährend in der Spitzengruppe. 1950 bekam der den Titel eines Internationalen Meisters verliehen. Michail Botwinnik, der spätere Weltmeister (1948-1957, 1958-1960, 1961-1963) nahm 18-jährig an der 6. Allrussischen Meisterschaft teil und musste ein Jahr vor seinem Durchbruch teilweise noch Lehrgeld zahlen, wie die nachfolgende Kurzniederlage gegen Kan beweist. Während Botwinnik mit dem sechsten Platz vorlieb nehmen musste, konnte Kan sich „Bronze“ sichern. Zwei Jahre später konnte Botwinnik zum ersten Mal den Meistertitel erringen und Kan ‚überholen‘ …



Ilia Abramovich Kan (4) Michail Botwinnik, 1927 (5)


Kan, Ilia Abramovich – Botwinnik, Michail [C20]
Allrussisches Championat Odessa, 12.09.1929
[Originalkommentar: Tartakower[1]]

Partie zum Durchklicken...

Abgelehntes Evansgambit. Gespielt im Allrussischen Championat zu Odessa am 12. September 1929. 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Lc5 4.b4 Lb6 Ob die Annahme des Evansgambit durch 4... Lxb4 5. c3, La5 usw. zweckmäßiger ist, mag dahingestellt bleiben. 5.a4 a6 6.Sc3 Zielbewußter und üblicher ist hier Cordels Zug 6. Lb2, doch kommt durch den Textzug das in der Vornotiz erwähnte allrussische "Nitschewo"-Prinzip zur Geltung! 6...Sf6 Gegensprung. Solider war wohl 6... d6. 7.Sd5 Sxe4 Wie man sieht, streben beide Partner nach Verwicklungen. Der Eröffnungskampf ist urplötzlich sehr akut geworden. 8.0–0 0–0 Verfehlt, da zunächst das Schwergewicht der Kampfhandlungen in der Mitte lag. In diesem Sinne war wohl 8... d6 oder auch der Präventivrückzug 8... Sf6 geboten. 9.d3! Sf6 Wohl erzwungen, da 9... Sd6 wegen 10. Lg5 De8 11. a5 fatal wäre. Nun aber gibt der folgende Fesselungszug von Weiß dem ganzen weiteren Spielverlauf sein Gepräge: 10.Lg5 d6


Stellung nach 10... d6

11.Sd2! Drohung: 12. Se4 mit Überdruck auf den unglücklichen Springer f6. 11...Lg4 Hierauf macht Weiß kurzen Prozess. Besser war jedenfalls 11... Lf5, doch folgt dann am einfachsten 12. Se4 Lxe4 13. de, drohend 14. Df3, und Schwarz hat nach wie vor mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. 12.Lxf6 Dc8 13.Sxb6 Überzeugend genug. Ein anderes, zum Siege führendes Strategem wäre übrigens 13. De1 gf 14. b5. 13...cxb6 14.f3 Le6 15.Lh4 Sxb4 Verzweifelt fandet Schwarz nach Kompensationsgütern für die verlorene Figur, doch naht bereits sein Tod. 16.Le7 Dc5+ 17.Kh1 Tfe8 18.Se4 Dc6 19.Lxd6 1–0

Schon damals wie heute waren die russischen Meister auf der ganzen Welt verstreut und ‚heimisch‘. Die Frage ob diesen ein eigener Stil anzumerken sei, beantwortet Tartakower wie folgt: „Sicherlich, und zwar ist es jene Breite der Auffassung sowie fatalistische Hinnahme kommender Schachereignisse, die auch im Leben durch das berühmte russischen ‚Nitschewo‘-Prinzip charakterisiert wird und ins Deutsche am treffendsten durch den Satz ‚Es wird schon gehen!‘ übersetzt wird.“


Jewgeni Snosko-Borowski (6)

Ein Vertreter dieses Prinzips war wahrscheinlich Jewgeni Snosko-Borowski, der bis zu seiner Emigration 1920 nach Frankreich, wo er auch die Staatsbürgerschaft annahm und sich dort ‚Eugene‘ nannte, einer der stärksten Spieler Russlands gewesen ist. Bezeichnend sind neben seinen zumeist mittleren Plätzen in den großen Turnieren Siege in Einzelpartien über Capablanca, Rubinstein oder Euwe. Ein Beispiel seiner Umsetzung des ‚Nitschewo‘-Prinzips nachfolgend:

Lazard, Frederic - Snosko-Borowski, Jewgeni [A00]
Pariser Championat, 03.12.1929
[Originalkommentar: Tartakower[1]]

Partie zum Durchklicken...

Gespielt im Pariser Championat am 3. Dezember 1929. 1.e4 e5 Es lebe das offene Spiel! 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 d6 5.c3 Am solidesten ist hier 5. 0–0. Die folgende Antwort von Schwarz führt jenes berühmt-berüchtigte "Siesta-Gambit" herbei, dem bereits auch das "Denken und Raten" wertvolle Untersuchungen gewidmet hat. 5...f5! 6.d3 Schärfer sind die Widerlegungsversuche 6. exf (wie in der bekannten Partie Steiner - Capablanca, Budapest 1928) bzw. 6. d4 (wie in der Kurzschlußpartie Reti - Capablanca, Berlin 1928). 6...Sf6 7.Lg5 Besser als 7. Sbd2, was in einer Partie Thomas - Snosko-Borowski, Paris 1929, geschah und zum baldigen Überhandnehmen der schwarzen Initiative führte. 7...h6 Durch diesen Zug, der die Königsstellung von Schwarz schwächt, und nur mit der optimistischen Folge: 8. Lxf6? Dxf6 rechnet, kommt das in der Vornotiz erwähnte allrussische "Nitschewo"-Prinzip zur Geltung. - Gediegen war 7... Le7. 8.Lc1! fxe4 9.dxe4 Sxe4 Zu abenteuerlich. Neuerlich rechnet Schwarz nur mit der für ihn günstigen Folge: 10. Dd5 Sf6 11. Lxc6+ bc 12. Dxc6+ Ld7 usw., statt auch die geniale Textantwort zu berücksichtigen: 10.Sxe5! Dh4!


Stellung nach 10...Dh4


Nun zeigt sich Schwarz ebenfalls auf der Höhe der Situation, indem er zu einer gewalttätigen Gegenaktion Zuflucht nimmt. Verfehlt wäre nämlich 10... de wegen 11. Dh5+ (die Schwächung des 7. Zuges von Schwarz macht sich bemerkbar!) 11... Ke7 12. Lxc6 bc 13. Dxe5+ Kf7 14. Dxe4 mit behauptetem Vorteil von Weiß. 11.g3 Intuitiv und schwach. Großzügig und stark war statt dessen 11. Dd5!, z.B. 11... dxe (oder gar 11... Dxf2+ 12. Kd1 Dxg2? 13. Lxc6+ bc 14. Df7+ Kd8 15. Sxc6#) 12. Lxc6+ bc 13. Dxc6+ Kf7 14. g3. (Nun geht's, nachdem das Feld e4 unter Kontrolle geriet.) 14... Df6 15. Dxe4, und der Mehrbauer von Weiß läßt sich behaupten. 11...Sxg3! Ein Räumungsopfer. 12.fxg3? Kurzsichtig, da nunmehr das Gegenschach auf e4 tödlich wirkt. Noch immer war 12. Dd5 geboten, und zwar mit der Folge: 12... De4+ 13. Dxe4 Sxe4 14. Sxc6 Sc5! (14... Ld7? 15. 0–0! bc 16. Te1 d5 17. f3 mit Figurbeute durch Weiß) 15. Lc2 bc, und der Vorteil von Schwarz ist noch lange nicht entscheidend. 12...De4+ 13.Kf2 dxe5 14.Te1 Um eine Nuance besser war 14. Le3, doch müßte Weiß auch dann gegen die Übermacht kämpfen. 14...Lc5+ 15.Le3 0–0+ Weiß gibt auf, denn Material sowie Königsverlust ist unabwendbar. 0–1

Das russische Schach kann auf eine lange Historie zurückblicken, denn bereits im Mittelalter genoss das Spiel, trotz der Verbote die die Kirche erließ, in gebildeten Kreisen große Beliebtheit. Ausländische Reisende verwiesen in späteren Jahrhunderten in ihren Memoiren mehrfach, dass das edle Spiel in allen Bevölkerungsschichten stark verbreitet war. „So schreibt zum Beispiel ein Zeitgenosse König Ludwigs XIII. von Frankreich, dass es unter den Mitgliedern der russischen Gesandtschaft , die 1635 nach Paris kam, mehrere Schachfreunde gab‚ die so gut spielten, dass die französischen Spieler dagegen lauter Schüler waren.‘“, weiß Snosko-Borowski zu berichten (7).

Aber dennoch dauerte die Einbindung ins gesellschaftliche Leben und erst Ende des 18. Jahrhunderts wurde in Petersburg der erste Schachklub gegründet, der aber rasch wieder aufgelöst wurde. Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb das Spiel zumeist ein Zeitvertrieb in Familienkreisen. Auch das Auftauchen der Meister Petrow und Jänisch änderte daran nichts, sodass letzterer aufgrund seiner Publikationen in französischer und deutscher Sprache über die russischen Landesgrenzen hinweg größeren Bekanntheitsgrad erlangte.

Der bedeutendste Aufschwung fällt in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts, als mit Tschigorin, Schiffers, Ascharin und Alapin junge, talentierte Spieler auftauchten, aus denen Tschigorin durch eine Reihe von Siegen in Turnieren und Wettkämpfen den Titel des ersten russischen Meisters erwerben konnte. 1881 nahm er zum ersten Mal bei einem internationalen Turnier teil und belegte beim Meisterturnier von Berlin den geteilten dritten Platz. Das bedeutete den Aufschwung zur Internationalität des russischen Schachs, das von Snosko-Borowski voller Huldigung beschrieben wurde: „Das Schachspiel ist zwar international, aber jedes Volk gibt ihm sein eigenartiges Gepräge; und bei Tschigorin, obwohl einer stark ausgesprochenen Persönlichkeit, traten die Eigentümlichkeiten des russischen Volkscharakters ganz besonders hervor. Eine ungemein elegante Spielweise, das Streben nach schönen, verwickelten, an versteckten Wendungen reichen Kombinationen, das Verlangen, um jeden Preis einen starken, gefährlichen Angriff zu erlangen, dabei eine vollkommene Verachtung der für das Turnierresultat so wichtigen Remisen: entspricht das nicht dem russischen Charakter, der oft die glänzendsten Anlagen mit Mangel an praktischem Sinne verbindet?“

Tartakower erfreut sich ebenfalls am russischen Treiben auf den 64 Feldern und ahnt noch nicht, dass die Russische Schachschule, deren Fundament die akribische Wissenschaft sein würde, bereits in den Startlöchern stand und auf der Suche nach Identifikationsfiguren in (west)europäischen Gefilden ist: „Zum Schluß sei noch rühmend vermerkt, daß das Russenschach eines Tschigorin, Aljechin und anderer dem westeuropäischen Hang nach Verwissenschaftlichung sowie dem nordamerikanischen Streben nach Mechanisierung des Schachkampfes eine würdige Abfuhr gegeben hat. Im Zeichen der Schachphantasie möge nun in West-(Zentral)-Europa ein neuer genialer Schachmeister auftauchen!“ 1935 entthronte der Niederländer Max Euwe Alexander Aljechin und durchbrach kurzzeitig die russische Weltmeisterdynastie – aber das ist ein anderer Part Schachgeschichte …

Quellen:
(1) Denken und Raten 02/1930, 12. Januar 1930
(2) scacchi.files.wordpress.com
(3) prochessro.files.wordpress.com
(4) inforchess.com
(5) Shakhmatny Listok 1927
(6) www.tabladeflandes.com
(7) Emanuel Lasker „Der internationale Schachkongreß zu St. Petersburg 1909“, Auflage 2009
 

 

 


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