Vor 50 Jahren - Schach erobert den Weltraum

von Dagobert Kohlmeyer
05.06.2020 – Vor 50 Jahren eroberte Schach den Weltraum. Die Kosmonauten von Sojus 9 spielten am 9. Juni 1970 eine Partie gegen das Kontrollzentrum. Einer der beiden Kosmonauten, Vitali Sewastjanow, wurde später sogar der Präsident des Sowjetischen Schachverbandes.

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In der langen Geschichte des Schachs gab es am 9. Juni 1970 ein bis dato utopisches Ereignis. Zum ersten Mal wurde eine Partie zwischen einem Raumschiff und der Erde ausgetragen. Unser altehrwürdiges Spiel hatte damit auch den Weltraum erobert. Die sowjetischen Kosmonauten Vitali Sewastjanow und Andrijan Nikolajew spielten an diesem Tag vom Orbit aus eine Schachpartie mit der Bodenstation in Baikonur. Ihre Gegner waren Nikolai Kamanin und Viktor Gorbatko. Vier Vertreter des riesigen Schachvolkes der Sowjetunion hatten damit die Grenzen des Königreichs Schach in kosmische Weiten verlegt.

Das Raumschiff Sojus 9 war am 1. Juni 1970 gestartet. Es handelte sich um den ersten Nachtstart der bemannten Raumfahrt. Der Flugkörper hatte die Erde bereits 140mal umrundet, als die beiden Kosmonauten von der Bodenstation den Schach-Fehdehandschuh zugeworfen bekamen. Die Partie dauerte etwa sechs Stunden. In dieser Zeit umkreiste das Raumschiff die Erde viermal. Die Züge wurden per Funk übermittelt. Wenn sich Sojus 9 im Funkschatten des Leitzentrums befand, gab es kurze Unterbrechungen.

Die Kosmonauten in der Sojus-Kapsel führten die weißen Steine. Der Ingenieur Klewzow hatte extra ein Schachspiel für die besondere Partie entwickelt, damit die Figuren nicht schwerelos durch die Luft schwebten. Er bastelte eine Art Steckschach, denn Magnete am Fuß der Figuren kamen nicht in Frage. Dadurch wären die empfindlichen Messinstrumente an Bord zu sehr beeinträchtigt worden.

Am 19. Flugtag hatten die beiden Kosmonauten den alten Dauerrekord von 1965 gebrochen, es wurde die Landung des Sojus-Raumschiffes eingeleitet. Der Rekord von Sojus 9 war der letzte, der in einem Raumschiff aufgestellt wurde, das nicht an eine Raumstation koppelte. Da die Flugbahn über den Aralsee führte, mussten sich dort zusätzliche Rettungskräfte auf Schiffen und in Hubschraubern bereithalten. Die Landung erfolgte am 19. Juni um die Mittagszeit völlig problemlos. Eine sowjetische Radarstation hatte die Landekapsel geortet, später waren Hubschrauber in Sichtkontakt, noch während die Kapsel am Fallschirm niederging. Bereits eine Minute nach der Landung waren Bergungsmannschaften an der Kapsel.

Die von ihrer Mission sehr ermüdeten Kosmonauten wurden nach Moskau gebracht, wo sie sich erst einmal zwei Wochen erholen mussten. Beide Raumfahrer hatten im Orbit einige Zeit, die für den Ausgleichssport reserviert war, für die wissenschaftliche Arbeit geopfert. Die Reaktion ihrer Körper zeigte, wie wichtig sportliche Belastung in der Schwerelosigkeit ist. - Fünf Jahre später startete Vitali Sewastjanow, der insgesamt zweimal im Weltall war, 1975 gemeinsam mit Pjotr Klimuk in Sojus 18 zu einem zweimonatigen Aufenthalt in der Raumstation Saljut 4.

Zurück zur historischen Schachpartie vor einem halben Jahrhundert. Es war ein Angenommenes Damengambit, das nach 35 Zügen remis endete. Im Spielverlauf hatten die Kosmonauten in der Raumstation Vorteile, riskierten aber nicht zu viel. So konnten sie zum Beispiel im 23. und im 31. Zug stärker spielen, aber die beiden hatten im All ganz sicher noch andere Dinge zu tun, als lange über die optimale Fortsetzung nachzudenken

Später wurden alle Teilnehmer an der denkwürdigen Partie zu Ehrenmitgliedern des Zentralen Schachklubs der Sowjetunion in Moskau ernannt. Vitali Sewastjanow wurde dann sogar zweimal an die Spitze des UdSSR-Schachverbandes gewählt. Der Kosmonaut war von 1977 bis 1986 und noch einmal von 1988 bis 1989 Präsident der sowjetischen Schachföderation, also leitete deren Geschicke in turbulenten Zeiten mehr als ein Jahrzehnt lang. In diese Periode fallen auch drei WM-Kämpfe von Karpow und Kasparow sowie der heikle Abbruch des 1. Matchs der beiden K. im Februar 1985 in Moskau. Auf die damalige Entscheidung von FIDE-Präsident Campomanes, die von „höherer Stelle“ in Moskau verordnet wurde, hatte Sewastjanow allerdings wenig Einfluss. Hier ein Foto von der historischen Pressekonferenz am 15. Februar 1985, auf der die Beendigung des Matchs verkündet wurde.

Vitali Sewastjanow, Juri Awerbach, Anatoli Karpow

Dass Vitali Sewastjanow eng mit dem 12. Weltmeister Anatoli Karpow befreundet war, ist kein Geheimnis. Das nächste Foto zeigt den Kosmonauten als Trauzeuge bei Karpows erster Eheschließung in Leningrad. Aus Karpows erster Ehe stammt ein Sohn, der 1979 geboren wurde. Mit seiner zweiten Frau Natalja hat Karpow eine Tochter (*1999).

Irina und Anatoli Karpow, Sewastjanow

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Der hochdekorierte Sewastjanow wurde wie die meisten Kosmonauten als Held der Sowjetunion ausgezeichnet, und er war Träger des Leninordens. Von 1993 bis 2007 saß er auch als Abgeordneter in der Duma, praktisch einige Zeit zusammen mit Karpow. Vitali Sewastjanow starb am 6. April 2010. Als Kosmonaut war er im Grunde einer von vielen, aber als Schachspieler gemeinsam mit Nikolajew der Erste, der vom Weltall aus eine Partie mit der Erde Partie spielte! Dies wird von ihm, zumindest unter den Schachinteressenten, wohl am meisten in Erinnerung bleiben.

Hier ist die erste Partie zwischen Himmel und Erde.

Sojus 9 - Erde
Damengambit D20, 9. Juni 1970

1.d4 d5 2.c4 dxc4 3.e3 e5 4.Lxc4 exd4 5.exd4 Sc6 6.Le3 Ld6 7.Sc3 Sf6 8.Sf3 0-0 9.0-0 Lg4 10.h3 Lf5 11.Sh4 Dd7 12.Df3

 

Weiß geht zu aktiven Handlungen über. 12…Se7 In Frage kam hier 12…Le6. 13.g4 Lg6 (13...Le6 14.d5? Sexd5 15.Sxd5 Sxd5 16.Lxd5 Lxd5 17.Dxd5 Lh2+!) 14.Tae1 Kh8 15.Lg5 Seg8 16.Sg2 Tae8 17.Le3 Lb4 18.a3 Lxc3 19.bxc3 Le4 20.Dg3 c6 21.f3 Ld5 22.Ld3 b5? Ein unvorsichtiger Zug, der eine Figur kosten kann.

 

23.Dh4? Weiß verpasst die Gewinnmöglichkeit 23.g5! Sh5 24.Dg4! Dxg4 25.hxg4 Sg3 26.Tf2, und der Springer auf g3 ist gefangen. 23...g6 24.Sf4 Stärker ist 24.Lf4!, um den Läufer nach e5 zu spielen. 24...Lc4 25.Lxc4 bxc4 26.Ld2 Eine gute Idee wäre 26.d5!, um das Feld d4 für den Läufer freizumachen. 26...Txe1 27.Txe1 Sd5 28.g5 Dd6 29.Sxd5 cxd5 30.Lf4 Dd8 31.Le5+ f6 32.gxf6 Sxf6 33.Lxf6+ Die Vereinfachungen führen zum Remis. Mit 33.Tb1! konnte Weiß stärker spielen, aber die beiden hatten im All sicher noch andere Dinge zu tun, als lange über die optimale Fortsetzung nachzudenken. 33...Txf6 34.Te8+ Dxe8 35.Dxf6+ Kg8 Remis.

 

Auch die amerikanischen Raumfahrer sind inzwischen vom Schachvirus befallen. Vier Jahrzehnte später als ihre russischen Kollegen spielten die NASA-Astronauten Gregory Harold Johnson und Gregory Chamitoff im Mai 2011 gegen ein Team auf der Erde.

Zum Nachspielen:

 

 


Dagobert Kohlmeyer gehört zu den bekanntesten deutschen Schachreportern. Über 35 Jahre berichtet der Berliner bereits in Wort und Bild von Schacholympiaden, Weltmeisterschaften und hochkarätigen Turnieren.

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