„Die Schachwelt braucht den Wechsel an
der FIDE-Spitze“
Interview mit dem Präsidentschafts-Kandidaten Anatoli Karpow
Von Dagobert Kohlmeyer

Anatoli, wann haben Sie ernsthaft
beschlossen, als FIDE-Präsident zu kandidieren?
Ende des vergangenen Jahres habe ich mich
entschieden, den Kampf aufzunehmen. Danach suchte ich Mitstreiter und
informierte auch Garri Kasparow in Moskau über meine Pläne.

War er sogleich Feuer und Flamme?
Nein, nicht sofort. Wir mussten zunächst
viele Dinge erörtern, um zu erkennen, welch große Aufgabe da bevorsteht. Als
erstes diskutierten wir die Frage, was gerade in der Schachwelt passiert und was
getan werden muss, um die Situation zum Besseren zu verändern. Als wir
feststellten, dass unsere Positionen eng beieinander liegen, waren wir uns
einig, gemeinsam zu handeln.
Worin stimmen Sie besonders überein?
Vor allem in dem Wunsch, das Ansehen des
Schachs zu retten. Es geht um die Verbesserung seines Renommees als weltweites
Spiel und als Beruf. Deswegen beschlossen wir, alles zu tun, was möglich ist, um
die Führung des Weltschachbundes abzulösen und die Zügel selbst in die Hand zu
nehmen.
Vor 15 Jahren haben Sie selbst
Iljumschinow noch als FIDE-Präsidenten vorgeschlagen. Wie bewerten Sie heute
seine Amtsführung?
Sie war und ist enttäuschend. Aber nicht nur
er allein hat schlecht gearbeitet, seine ganze Mannschaft funktionierte nicht.
In all den Jahren gab es sehr viele Versprechen, doch getan wurde nur wenig. Und
sie haben gravierende Fehler gemacht. Das Schlimmste war dieses K.-o.-System zur
Ermittlung des Schachweltmeisters. Die FIDE-Führung hat viel zu lange daran
festgehalten. Erst spät haben sie begriffen, dass dieser Modus vollkommen
untauglich war und ihn wieder geändert. Das fragwürdige Reglement hat den
WM-Titel total entwertet.
Zurzeit durchlebt der russische
Schachverband seine größte Krise. Die Föderation ist in zwei Lager gespalten, in
Moskau herrscht Chaos. Wie konnte es dazu kommen?
Wir haben diese Situation deshalb, weil der
offizielle Bürokrat Arkadij Dworkowitsch die ganze Macht im Verband an sich
reißen will. Er versucht mit allen Mitteln, seinen Willen durchzusetzen, und sei
es durch die gewaltsame Durchsuchung des Zentralen Schachklubs. Ohne ihn hätten
wir diese Krise nicht. Er will das gesamte Schachleben in Russland von oben
diktieren.

Dworkowitsch agiert offenbar von einer
Position der Stärke aus, weil er enger Berater Medwedjews ist. Wie verhält sich
der russische Präsident Ihrer Meinung nach in diesem Konflikt?
Ich denke, dass der Präsident unseres Landes
einfach viele andere Aufgaben hat, die wichtiger sind, als einen Streit im
Schach zu schlichten. Ganz sicher versteht er nicht, was sein Gehilfe da
eigentlich tut. Der Präsident spricht immer davon, dass wir in Russland den
juristischen Nihilismus überwinden müssen. Sein Berater aber inszeniert solche
Dinge, die wir in der vergangenen Woche erlebt haben. Da fehlen mir die Worte.
Der russische Verband schwächelt auch
im Leistungsbereich. Bei Olympiaden und Weltmeisterschaften geben seine Spieler
nicht mehr den Ton an. Warum?
Es war natürlich ein großer Bruch in unserer
Schachtradition, dass beim WM-Match von Anand und Topalow in Sofia zum ersten
Mal seit dem legendären Duell Aljechin - Capablanca im Jahre 1927 kein
russischer oder sowjetischer Spieler am Tisch saß. Dieser Niedergang passierte
aber nicht an einem Tag, sondern kennzeichnet das gesetzmäßige Ende einer
falschen Entwicklung. Wir müssen wieder dahin kommen, dass Schach bei uns im
Land ein Massensport wie Fußball und Eishockey ist, so wie es früher der Fall
war. Das muss sehr schnell geschehen.

Und was muss sich im Weltmaßstab
ändern? Welche Dinge nehmen Sie als erste in Angriff, wenn sie denn
FIDE-Präsident werden?
Es ist eine Menge zu tun. Der
Massencharakter des Schachs soll erhöht und der Leistungssport verbessert
werden. Das sind die Schlüsselfragen. Und die materielle Grundlage der
Großmeister muss hergestellt werden. Es geht aber nicht nur um die sichere
Existenz der Schachprofis. Auch die Trainer und Schachlehrer müssen stabile
Lebensverhältnisse haben. Das alles sind ernsthafte Fragen, die gelöst werden
müssen.
Wie wollen Sie Sponsoren für die
großen Schachevents finden?
Wir haben viele Möglichkeiten und
Perspektiven, aber die potentiellen Geldgeber wollen natürlich erst einmal
wissen, ob es Veränderungen in der FIDE geben wird oder nicht. Private Sponsoren
können wir durchaus finden, doch es müssen auch welche für die internationale
Föderation sowie die nationalen Verbände gewonnen werden. Wichtig ist, die
Finanzen der FIDE in Ordnung zu bringen und zu ermitteln, wie viele Menschen auf
der Welt sich überhaupt für Schach interessieren. Iljumschinow und sein Team
können nicht mal sagen, wie viele organisierte Schachspieler es in Afrika, Asien
oder Amerika gibt. Selbst von Europa gibt es bei der FIDE keine genaue
Statistik, obwohl jeder Verband seine Zahlen veröffentlicht hat.
Sie haben die Kassenlage der FIDE hart
kritisiert. Was werfen Sie dem Weltverband konkret vor?
Es gibt eine Unstimmigkeit zwischen
Einnahmen und Ausgaben. Im Jahre 2008 hat der Weltverband etwas mehr als 1,8
Millionen Euro eingenommen. Das sind Erlöse aus Mitgliedsbeiträgen sowie
Gebühren für ELO-Rating und Titelverleihungen. Davon tauchen aber nur etwa 1,4
Millionen in den Ausgaben auf. Was ist mit dem anderen Geld passiert? Und wo
sind die Millionen, von denen Iljumschinow und seine Leute immer reden. Er will
viele Millionen Euro eigenes Geld ins Schach gepumpt haben. Wo sind sie
ausgewiesen? In den offiziellen Dokumenten der FIDE findet man sie jedenfalls
nicht. Ich weiß auch nicht, wo er sie hergenommen hat. Bekannt sind zum Beispiel
die Lizenzgebühren für die Ausrichtung der Olympiade in Dresden (Karpow nannte
die Zahl 460 000 – D.K.). Iljumschinows Gelder aber tauchen in den FIDE-Büchern
nirgends auf.
Welche Wahltaktik werden Sie Sie beim
FIDE-Kongress wählen? Iljumschinows Gegenkandidat Bessel Kok war 2006 in Turin
nicht bereit, Delegierte zu bestechen und hat die Wahl verloren. War das ein
Fehler?
Wir haben dazu eine klare Haltung. Sobald
man damit beginnt, Stimmen zu kaufen, verliert man jegliche Reputation. So etwas
ist unmöglich, das kann man vergessen. Damit würden wir uns auf das fragwürdige
Niveau der anderen Seite begeben.
Wladimir Kramnik und Alexandra Kostenjuk
unterstützen nicht Sie, sondern die Gegenpartei, vielleicht aus persönlichen
Motiven. Wie kommentieren Sie das?
Wenn sie nicht verstehen, dass unser Sport
vor dem totalen Zerfall steht und sich in einer schrecklichen Krise befindet,
dann ist das ihr Problem. Schließlich kommt das, was wir wollen, in erster Linie
ihnen zugute: die Einnahmen aus dem Schach zu erhöhen und die Beziehungen in der
Schachwelt zu verbessern. Wenn beide das nicht begreifen, muss man wohl an ihrer
Intelligenz zweifeln.
Wie hoch bewerten Sie Ihre Chancen, im
Herbst als FIDE-Präsident gewählt zu werden?
Ich bin sehr optimistisch. Im Moment habe
ich einen großen Vorsprung. Schon mehr als 30 Länder sagten mir schriftlich ihre
Unterstützung zu. Ich habe sie bereits in den Händen. Das gab es so lange
vorher, viereinhalb Monate vor der Abstimmung, noch nie. Weil mich meine
Jahrzehnte dauernde Schachkarriere in etwa 100 Länder führte, habe ich auch
viele Anhänger und Unterstützer in Nord- und Lateinamerika, Afrika oder der
arabischen Welt. In Europa gibt es 54 FIDE-Mitgliedsländer. Ich rechne bei der
Wahl mit mindestens 40 Stimmen allein von diesem Kontinent.
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Robert von Weizsäcker: „Wir bringen das Schach zu den Spielern“
Auch den DSB-Präsidenten und
ECU-Präsidentschaftskandidaten befragte Dagobert Kohlmeyer in Berlin über den
Wahlkampf und seine damit verbundenen Ziele. Mit den Großmeistern Nigel Short,
Johann Hjartarson und Ivan Sokolov hat der 55-jährige
Professor ausschließlich Spieler in seinem Wunschteam, mit denen die Europäische
Schachunion ECU von innen heraus reformiert werden soll.

Herr von Weizsäcker, die Wahl in
Chanty-Mansisk zu den Führungsgremien von FIDE und ECU wird sicher nicht leicht,
wenn man an die „Gewohnheiten“ früherer Abstimmungen denkt. Ist Ihnen davor
nicht bange?
Die Mentalitäten innerhalb Europas und erst
recht weltweit sind ja hochgradig verschieden. Was wir sehr schnell als
moralisch fraglich bis korrupt bezeichnen, sehen viele andere in Ost- und
Südeuropa oder Mittel- und Südamerika sowie in anderen Teilen der Welt gar nicht
so. Deshalb kann ich überhaupt nicht abschätzen, wie sich die in Chanty-Mansisk
Versammelten verhalten werden. Ob das Thema des Geldes bzw. der Korruption dort
einen großen Einfluss hat. Ich fürchte schon.
Sie sind Ökonom: Ist Geld nicht das
beste Schmiermittel?
Berechtigte Frage, aber wir lehnen das
natürlich ab. Unser Team will gewinnen, das ist klar. Allerdings nicht dadurch,
dass wir selbst anfangen zu schmieren. Dann brauchten wir erst gar nicht
anzutreten. Das einzige, was wir zur Wahl tun können, ist zu sagen: Wir sind
alle Vertreter des Sports, betreiben Schach jahrzehntelang und wissen, wovon wir
reden. Darüber hinaus haben wir alle auch noch Fähigkeiten außerhalb des Sports.
Diese versuchen wir zu bündeln, um von innen heraus etwas in der Föderation zu
ändern.
Mit welcher Absicht?
Das Schach auf diese Weise zu den Spielern
zurückzubringen. Wir wollen versuchen zu überzeugen, glaubwürdig zu sein und für
Transparenz zu sorgen. Dann müssen wir schauen, ob die Delegierten auf dem
Kongress das ebenso toll finden. Garantien gibt es nicht, denn es sind ja dort
keine Spieler, die uns wählen, sondern Funktionäre. Und viele von denen kleben
natürlich an ihren Sesseln. Nicht zuletzt deshalb trete ich auch zur ECU-Wahl
an, weil ich die deutsche Präsenz in den internationalen Verbänden verstärken
will.

Das ist löblich, aber einer bestimmten
Summe, so zeigte es die Vergangenheit, werden manche Delegierte einfach schwach
und in ihrem Wahlverhalten beeinflusst.
Die Gefahr besteht, doch wir haben die
besseren Argumente und hoffen, dass sie ein stärkeres Mittel als das Geld sind.
Viel liegt daran, wie fair sich die Delegierten gegenüber unseren Vorschlägen
verhalten. Wir haben überhaupt keine Sicherheit, aber dieses Risiko müssen wir
eingehen. Insgesamt denke ich, haben wir ganz gute Chancen.

Was dachten Sie, als Garri Kasparow
plötzlich anrief und Ihnen antrug, ECU-Präsident zu werden?
Das war schon ein besonderes Gefühl. Wir
kennen uns ja sehr lange. Ich bin ihm zum ersten Mal vor etwa 25 Jahren bei
einer Simultanveranstaltung begegnet. Zu Hause bei mir stehen seine Schachbücher
im Regal, und dann meldet er sich plötzlich bei mir. Es war schon ein spezieller
Moment.

Wie wollen Sie den Wahlkampf führen?
Der beginnt jetzt erst. Wir haben in Berlin
damit angefangen, alles zu besprechen. Jetzt formieren wir uns erst einmal. Vor
allem für die ECU-Kampagne. Aber wir sind ja mit der Karpow-Kampagne vernetzt.
Es wird mit Reisen und vielen Gesprächen verbunden sein. Wie Sie wissen, bin ich
beruflich sehr stark an der Technischen Universität in München engagiert. Das
bedeutet, ich muss vor allem die Zeit an unterrichtsfreien Tagen, an Wochenenden
oder auch im Urlaub dazu nutzen.