20.09.2022 – Die Debatte um die Betrugsvorwürfe gegen Hans Niemann hält an und wurde durch Weltmeister Magnus Carlsen, der in der 6. Runde des Julius Bär Generation Cups nach 1.d4 Sf6 2.c4 lieber aufgab, als gegen Niemann zu spielen, neu angefacht. Professor Dr. Kenneth Regan, ein Experte für die Aufdeckung von Computerbetrug im Schach, hat alle Partien, die Niemann in den letzten zwei Jahren online und offline gespielt hat, einer statistischen Analyse unterzogen. Wie er das gemacht hat und zu welchen Ergebnissen er gekommen ist, verrät er in einem Interview mit Albert Silver.
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Die Schachwelt diskutiert weiter erbittert darüber, ob Hans Niemann seine zahlreichen Erfolge Computerbetrug verdankt, oder ob die diesbezüglichen Vorwürfe gegen ihn zu Unrecht erhoben wurden. Die einen fragen sich, warum ein "Betrüger" in einem Turnier wie der Meltwater Chess Championship spielen darf, andere machen Carlsen Vorwürfe und beklagen einen Mangel an gesicherten Fakten, die ein fundiertes Urteil erlauben würden.
Amateure haben ihre eigenen Urteile gefällt: Sie haben Tabellen erstellt, in denen sie die Ergebnisse von Hans Niemann bei Turnieren, die live übertragen wurden, mit seinen Ergebnissen bei Turnieren, die nicht übertragen wurden, verglichen haben, andere haben Elo-Tabellen mit schönen Glockenkurven erstellt, und wieder andere haben seine Partien bei Turnieren wie dem Capablanca Memorial (das er gewonnen hat) durch Engines analysieren lassen, um seine Schuld zweifelsfrei zu beweisen. Wie ein Großmeister mir unter vier Augen verriet: "Das Capablanca-Video ist ziemlich belastend."
Das Problem dabei ist, dass diesen Untersuchungen wissenschaftliche Strenge und Tiefe fehlt, um stichhaltige Erklärungen zu liefern. Andererseits ist in Ermangelung besserer Informationsquellen alles möglich.
Wer ist Professor Kenneth Regan?
Ken Regan war eher als Schachspieler bekannt, bevor er Akademiker wurde. Er wurde bereits als Jugendlicher IM und qualifizierte sich sogar für die US-Meisterschaft. Aber wie er sagt, hatte er trotz seines Talents und seiner Freude am Spiel nie vor, eine Schachkarriere einzuschlagen, sondern hat stattdessen Mathematik studiert und in Oxford mit einer Doktorarbeit über Komplexitätstheorie promoviert.
2006, während der berüchtigten "Toiletgate"-Kontroverse beim WM-Kampf zwischen Vladimir Kramnik und Veselin Topalov, wurde er hinzugezogen, um sich als Experte zu den Betrugsvorwürfen zu äußern, die das Topalov-Team gegen Vladimir Kramnik vorgebracht hatte.
Der Vorwurf lautete, dass Kramniks Züge in der zweiten Partie zu mehr als 80% mit den Vorschlägen der damals besten Engine der Welt, Rybka, übereinstimmten, ein unrealistisch hoher Wert. Dr. Regan bestätigte diese Übereinstimmung, aber entkräftete die Betrugsvorwürfe. Er wies nach, dass viele der Züge, die mit der Engine übereinstimmten, forciert waren, und dass die Zahl der Züge, die mit der Engine übereinstimmten, wenn man diese forcierten Züge nicht berücksichtigte, tatsächlich ziemlich normal war.
Durch seine gründlichen und rigorosen Analysen rückte Regan sofort als neuer Top-Experte ins Rampenlicht, auch wenn viele die Tiefe seiner Untersuchungen nicht verstanden oder akzeptierten. Seitdem berät er der FIDE bei der Untersuchung von Betrugsvorwürfen, wie sie zum Beispiel gegen Sébastien Feller und Igor Rausis erhoben wurden, oder bei der generellen Kontrolle wichtiger Turniere.
Regan hat in einer Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten, die auf seiner Homepage zugänglich sind, statistische Methoden zum Nachweis von Betrug entwickelt.
Das Interview
Dr. Ken Regan war so freundlich, einem Interview zuzustimmen, in dem er nicht nur erklärt, wie seine Methoden funktionieren, sondern auch die detaillierte Arbeit erläutert, die er in der Carlsen-Niemann-Affäre geleistet hat, und welche Schlussfolgerungen er daraus gezogen hat.
Dies ist eine leicht gekürzte Version des vollständigen Interviews, das man weiter unten im Artikel findet.
Sind die Ergebnisse in Partien, die übertragen wurden, verdächtiger?
In dem Interview habe ich bestimmte Punkte, die online diskutiert wurden, angesprochen, z. B., ob es einen Unterschied zwischen Partien gibt, die übertragen wurden und Partien, die nicht übertragen wurden.
"Was ich damit sagen will, um zu erklären, dass ich mir nicht die Zeit nehmen muss, die Turniere einzeln zu untersuchen, um zu sehen, welche übertragen wurden und welche nicht, ist, dass, wenn es irgendeine Verzerrung in meinen Daten gibt, diese in Richtung der übertragenen Partien geht (d.h. davon werden mehr analysiert, weil sie verfügbar sind), aber dennoch zeige ich etwas völlig Normales."
Über die Qualität seines Systems
"Mein System verwendet bewusst kein spezifisches Schachwissen, sondern basiert auf den quantitativen Daten aus den Bewertungen der Züge durch den Computer, die in eine Nutzenfunktion umgewandelt werden, die dann in ein analytisches Vorhersagemodell eingespeist wird, das im Großen und Ganzen ähnlich funktioniert wie die analytischen Vorhersagemodelle der Wirtschaftswissenschaftler, die auf Nutzenfunktionen basieren."
Screenshot des Computers von Dr. Ken Regan, der eine Auswertung der Partien zeigt
Regan erwähnt auch, dass das System in der Lage ist, Spieler hervorzuheben, die besser als andere darin sind, ihre Gegner zu Fehlern zu verleiten. Zu nennen sind hier Mikhail Tal und Alexey Shirov.
Über das Ergebnis im Capablanca Memorial
Das Capablanca Memorial wird sehr ausführlich besprochen, einschließlich einer Aufschlüsselung von Niemanns Fehlerquote, der Fehlerquoten seiner Gegner und wie gut seine Gegner gegen ihn gespielt haben.
Wie sich zeigt, hat Niemann bei der Zuggenauigkeit fast genau die von ihm erwartete Leistung erbracht, allerdings haben seine Gegner gegen ihn unterdurchschnittlich abgeschnitten. Die 0,152 auf der rechten Seite in Blau ist die Fehlerquote seiner Konkurrenten.
Die Wahrscheinlichkeit eines Wunders bei Schachergebnissen
"Littlewoods Law besagt, dass, wenn man eine Million Ereignisse beobachtet, eines davon mit einer Wahrscheinlichkeit von einer Million zu eins eintritt. Wenn man also eine Million Dinge pro Tag sieht, dann geschieht jeden Tag ein Wunder. Und beim Online-Schach sind eine Million Partien pro Tag die Norm."
Ergebnis
Dr. Regan hat alle Partien analysiert, die Hans Niemann in den letzten zwei Jahren gespielt hat, einschließlich der Online-Partien, die er bei Chess.com und bei Chess.com Turnieren gespielt hat, und seine Schlussfolgerung lautet, dass es keinen Grund gibt, Niemann des Betrugs zu verdächtigen.
Dass die große Bandbreite der Ergebnisse, von denen einige gut und einige schlecht sind, zu einer Glockenkurve führt, ist dabei eigentlich ein Zeichen für eine gesunde Verteilung der Ergebnisse. Viele der so genannten Verdachtsmomente sind in Wirklichkeit ganz normal, und der Betrugsverdacht ist in Wirklichkeit das Ergebnis einer fehlerhaften Analyse durch eifrige Amateure. Auch online weisen seine Partien keine Ungewöhnlichkeiten auf.
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