Der indische Schachboom: Gespräch mit R.B. Ramesh (III)

von Thorsten Cmiel
05.10.2019 – Im 3. und letzten Teil des Gesprächs von Thorsten Cmiel mit R.B. Ramesh berichtet der indische Erfolgstrainer über seine Arbeit mit der indischen Nationalmannschaft und seinem Training mit den Geschwistern Praggnanandhaa und Vaishali.

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Über die indische Nationalmannschaft und die derzeit größten Talente des Landes

Gespräch mit R.B. Ramesh (III)

Die Nationalmannschaft

Ramesh ist seit vier Schacholympiaden Coach der indischen Nationalmannschaft. Er sieht die Dinge immer etwas weiter als nur den aktuellen Erfolg. Inzwischen ist Indien mit seiner Nationalmannschaft nach den guten Ergebnissen bei den letzten Schacholympiaden (2014 3. Platz, 2016 4. Platz) eine Nation, die von den anderen Nationen respektiert wird.

2018 kam es dann nach zwölf Jahren Abstinenz erneut zu Anands Teilnahme an der Schacholympiade und das Team war automatisch einer der Favoriten, dem man als Nummer 5 gesetzt sogar den Turniersieg zutrauen konnte. Allein die Ankündigung der Teilnahme löste in der Schachszene in Indien eine Euphorie um das Team aus. Es entbrannte ein harter Kampf um die Plätze vier und fünf im Team. Anand, Harikrishna und Vidit waren als Spieler mit einer Rating über 2700 natürlich gesetzt.

Nach den Erfahrungen von Ramesh kommt es in Fünfer-Teams öfters dazu, zwei Teams im Team zu haben und ein Spieler ist gelegentlich zusätzlich isoliert. Die Herausforderung von Ramesh war es also, das von vornherein zu vermeiden. Das Team war vorher in mehreren Trainingslagern und betrieb „Teambuilding“. Dabei wurden beispielsweise Witze über die Spielweise von Adhiban gemacht. Die Stimmung im Team war bestens.

Vidit reiste zur Schacholympiade in Batumi 2018 außer Form an und das Team hoffte, dass sich die Nummer Drei während des Turniers aus seinem Tief erholen würde. Er hatte laut Ramesh hoffnungsvolle oder gar gewonnene Positionen, aber fand keine Lösungen und schüttelte immer wieder den Kopf während der Partien, so die alarmierende Beobachtung von Ramesh. Vidit fehlte sichtlich das Selbstvertrauen.

Ihn dennoch häufig einzusetzen war eine bewusste Entscheidung, da man eine Schacholympiade nicht mit nur vier Spielern bestreiten könne. Das Team war bis zum Kampf gegen die USA auf einem guten Weg. Leider verlor Vishy Anand gegen Fabiano Caruana (in Runde 4) und damit auch persönlich etwas an Selbstvertrauen. Vorher hatte er beispielsweise Markus Ragger in einer überzeugenden Partie geschlagen. Wie gut das Team zusammenhielt,  zeigt sich daran, dass Anand sich beim Team für die Niederlage entschuldigte.

Das sei aber kein Problem gewesen und ohnehin Teil des Sports, insofern bestand die Aufgabe von Ramesh darin, zu verhindern, dass das Team kollektiv das Selbstvertrauen verliert und das gelang weitgehend. Insgesamt verlor Indien nur drei Einzelpartien und als Team folgte nur noch eine weitere Niederlage gegen Armenien bei der ausgerechnet der Topscorer Sasikiran (im Schlussspurt 4 aus 5) seine einzige Niederlage einstecken musste. Die Zahl der Remis erwies sich allerdings als zu hoch. Es gewann schließlich China vor den USA und Russland. Indien landete auf Platz 6.

Anand erzielte an Brett 1 mit einem Ergebnis von 5,5 aus 9 eine Performance von 2799, Harikrishna 2770 bei 7 aus 10, Vidit 2633 mit 5 aus 9, Adhiban 2680 mit 5,5 aus 8, Sasikiran 2689 mit 6,0 aus 8.

Die entschiedenen Partien von Anand bei der Schacholympiade

 

Rameshs Rolle als Coach

Caruana-Anand, von Daniel King

Indien-USA

Die „große“ Schwester von Pragg

Vaishali Rameshbabu, geboren 2001, war zweimal Mädchenweltmeisterin (U12 und U14).

Vaishali

Sie ist die ältere Schwester von Pragg und momentan auf Platz 10 der Juniorinnen weltweit und nach aktueller Rating weltweit Zweitbeste ihres Jahrgangs. Vaishali litt etwas unter den Erfolgen ihres Bruders. Genauer wurde Ramesh an dieser Stelle nicht, aber es scheint die ältere Schwester stand nicht so im Mittelpunkt wie der kleine Bruder. Von einer direkten Konkurrenzsituation der beiden Top-Talente ist allerdings bei Ramesh nichts herauszuhören. Kurz vor unserem Gespräch in Abu Dhabi hatte Vaishali beim Xtracon-Open ihre zweite IM-Norm erzielt, die zugleich ihre erste Großmeisternorm war. Ramesh ist sich sicher, dass Vaishali eine Rating von 2600 erreichen kann. Das ist eine Ansage in Richtung absolute Weltspitze, da zurzeit nur Hou Yifan eine höhere Rating bei den Frauen aufweist.

Praggnanandhaa

"Pragg" hatte in den letzten zwei Jahren eine Ergebniskrise und hat sich von seiner Rating her zumindest nicht weiter entwickelt. Zudem hat ihn offenbar die Jagd nach dem Titel jüngster Großmeister aller Zeiten gelähmt.  Ramesh bestätigt diese Beobachtungen weitgehend und ergänzt nach meinem Hinweis auf den Verzicht mit Weiß, Eröffnungsvorteil anzustreben, dass es für Pragg bei seinen ersten zwei Normen funktioniert habe und es sei schwierig dann etwas zu ändern. Er hat zu wenig Risiken genommen und es wurde zu wichtig, keine Partien zu verlieren. Letztlich erzielte Pragg kurz nachdem das Rennen um den Titel von Karjakin vorbei war, seine dritte Großmeisternorm.

Es war zudem eine bewusste Entscheidung gewesen, dass Pragg keine Zeit auf die Eröffnungen verwendete. Das ausgegebene Ziel ist Weltklasse. Er erhielt stattdessen einige Eröffnungsdateien von Ramesh. Wie bestellt, hatte Pragg am Tag zuvor seinen Gegner, der ihn mit einem Svechnikov-Sizilianer überraschte, aus der Eröffnungsvorbereitung heraus gewonnen. Die Aufgabe von Pragg bestand vor allem darin, sich an die Varianten, die er bereits viele Jahre zuvor gelernt hatte, zu erinnern. 19.Sxc4 mit Gewinnstellung stand bereits in den Dateien, die Ramesh dem Talent etwa vier Jahre zuvor gegeben hatte.

Risiko im Spiel

Ist es eine typische indische Eigenschaft, vielleicht geprägt durch Anands Spielstil, dass Nihal und Pragg scheinbar mehr Wert auf Risikovermeidung legen als beispielsweise die Iraner Alireza Firouzja und Parham Maghsoodloo? Das sieht Ramesh nicht so. Zum einen habe Anand früher sehr aggressiv gespielt und vielleicht etwa vor zehn Jahren seinen Schachstil und seine Eröffnungswahl angepasst, um weiter in der Weltspitze mithalten zu können. Ein anderes Beispiel für eine aggressive Spielweise ist Adhiban. Die unterschiedliche Spielweise der Iraner und Inder im Vergleich führt er zumindest auf keinen Mentalitätsunterschied zurück. Vielleicht ist der Druck von außen für die Youngsters so groß, dass sie versuchen Niederlagen zu vermeiden, statt ihre Partien zu gewinnen. So zumindest versucht Ramesh das Phänomen zu beschreiben. Von Pragg zumindest wird man in näherer Zukunft ein aktiveres Eröffnungsrepertoire erwarten können.

2019: Zu Beginn des Jahres Endspielfehler – dann Verbesserung

Zu Beginn des Jahres 2019 spielte Pragg zwei Rundenturniere (Tatasteel B, Prag). Auffällig waren  Ungenauigkeiten im Endspiel. Daran hätte Pragg zuletzt verstärkt gearbeitet. Pragg zeigte sich jedenfalls in dieser Spielphase deutlich verbessert. In dem Endspiel gegen Korobov im Xtracon-Open dachte der Ukrainer, dass er besser stünde und überzog. Tatsächlich gab es dafür in der späteren Partiephase keinen objektiven Grund und Pragg fand nach einem Fehler seines Gegners mit genauem Spiel einen schicken Gewinn.

Auch hat Pragg die eigene Widerstandsfähigkeit in schwierigen Stellungen erbessert. Sein Unentschieden aus der letzten Runde beim Xtracon-Open gegen Samuel Sevian mag ein Beleg dafür sein. Gegen Vidit hatte der jüngere Inder dem Ansturm seines bekannteren Gegners bei der Asienmeisterschaft erfolgreich getrotzt.

Ein Gespräch mit Pragg und seiner Schwester nach dem sehr erfolgreichen Turnier in Dänemark bei Chessbase India. Pragg, noch 13, gewann mit 8,5 aus 10 und einer Performance von 2741. Seine Schwester Vaishali erzielte ihre erste Großmeisternorm mit 7,5 aus 10.

 

 

Was kann man von Pragg in Zukunft erwarten?

Die beiden Geschwister aus dem Hause Rameshbabu repräsentieren vielleicht die nächste Chance, zwei Weltmeister (Open und Frauen) aus einer Familie zu haben, nachdem die Polgars relativ knapp gescheitert sind. Im Jugendbereich haben die beiden jungen Inder eine gemeinsame Regentschaft bereits geschafft (2015: U14w und U10). Spieler müssen natürlich ambitionierte Ziele formulieren. Pragg nannte selbst einmal das Ziel einer Elo von 3000 Punkten in einem Interview. Ramesh lacht auf. Es ist ein herzliches Lachen, ein Ramesh-Lachen, denn ich weiß erneut nicht genau wie dieses Lachen zu verstehen ist. Vielleicht findet er das Ziel durchaus realistisch.


Thorsten Cmiel ist Fide-Meister lebt in Köln und Milano und arbeitet als freier Finanzjournalist.

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