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Ludwig Tiecks Spaziergang
Von Gerald Schendel
In der Literaturgeschichte nimmt
Ludwig Tieck eine
führende Rolle in der deutschen Romantik ein.
Geboren wurde der Schriftsteller Johann Ludwig Tieck (31.5.1773 Berlin -
28.04.1853 Berlin) als Sohn des Seilermeisters Johann Ludwig Tieck und seiner
Frau Anna Sophie (geb. Berukin). Er hatte eine Schwester, Sophie (1775-1833),
und einen Bruder, Christian Friedrich (1776-1851). Ausführliche
biographische Daten zu den Geschwistern Tieck sind in der Datenbank
"Deutsche Biographie"
zu finden.
Von Bedeutung für das nachfolgende Gedicht sind folgende Fakten: Der von dem
berühmten Bildhauer Johann Gottfried Schadow (1764-1850) sowie von Wilhelm von
Humboldt (1767-1835) geförderte junge Bildhauer Friedrich Tieck erhielt 1797
ein königliches Stipendium für eine Studienreise nach Italien. Der Krieg machte
diese Reise jedoch unmöglich. Im Juni 1805 erhielt Friedrich Tieck erneut ein
Stipendium für einen zweijährigen Italien-Aufenthalt. Tiecks Schwester Sophie
war nach einer ersten kurzen Ehe (1799-1803) geschieden, dadurch mittellos
geworden und von der finanziellen Hilfe ihres Bruders Friedrich abhängig. Sie
begleitete Friedrich Tieck nach Italien. Der Schriftsteller Ludwig Tieck, seit
1798 mit einer Jugendfreundin verheiratet, erkrankte im Herbst 1804 schwer an
der Gicht, erholte sich dann allmählich und entschloss sich, seinen
Geschwistern nach Italien zu folgen, wo er sich die Heilung seiner körperlichen
und seelischen Leiden erhoffte. An der Reise nahmen ferner teil die Brüder
Franz (1786-1831) und Johannes Riepenhausen (1788-1860) sowie der
Kunsthistoriker Karl Friedrich von Rumohr (1785-1843).
Ludwig Tiecks Reise dauerte ein Jahr. Wilhelm v. Humboldt war in dieser Zeit
(1802-1808) preußischer Gesandter in Rom. Friedrich Tieck gehört zum
Freundeskreis
W. v. Humboldts. Im August 1806 kehrte Ludwig Tieck mit v. Rumohr nach
Deutschland zurück.
Sein Gedicht Der Spaziergang ist während dieser Italienreise 1805/06
entstanden. Veröffentlicht wurde es erst 1823 im dritten Band seiner Sammlung
Gedichte, die er von 1821 bis 1823 in Dresden herausgab. Dort befindet
es sich in dem Abschnitt Rückkehr des Genesenden. Eigentlich hatte
Ludwig Tieck die Absicht, diese Gedichte zu überarbeiten, doch da er während
des Drucks des dritten Teils seiner Gedichtsammlung erneut erkrankte, ließ er
diese flüchtig aufgezeichneten "Reiseandenken" in ihrem ursprünglichen Zustand:
"Die Freunde erhalten also diese Lieder, oder kleine Begebenheiten ganz
so, wie ich sie damals in ungleicher Laune aufschrieb, und vielleicht ist der
Ausdruck des Momentes frischer und lebhafter, als es bei mehr Fleiß die
Ausbildung des Verses, oder der hinzugefügte Reim und die geordnete Strofe
zugelassen hätten."
Der Spaziergang
Den Berg, der den Florentinern
Immerdar vor Augen schwebt,
Sind wir heut erstiegen,
Das alte Fiesole zu besuchen.
In dem Kloster dort erlabten uns Gebilde
Von Giotto und dem frommen Johann,
In der Bücher Pracht.
Doch endlich sind wir höher geklimmt,
Zur Spitze hinauf,
Wo unter Cypressen
Einsam das Kloster der Franziskaner ruht.
Ein kalter Wind durchsaust die Berge,
Nach dem Gewitter ist die Gegend trübe,
Weit umher ergeht sich hier der Blick
Ueber Felsen weg durch Thäler hin,
Und zu den Füßen liegt Fiesole und Florenz.
Fiesole - Blick auf den Dom von
Florenz
Wie wir mit den Mönchen gespeist,
Erbietet man sich zu unserm Ergetzen,
Da das Wetter rauh und unfreundlich,
Mit uns Schach zu spielen.
Meine Gefährten treten beschämt zurück,
Und ich, überrascht, als der Einzige
Der die Kunst versteht und übt,
Erbiete mich, der Landsmannschaft Ehre zu retten.
Doch selbst seit der Kindheit
Hab' ich kaum den Stein berührt,
Und nie hab' ich mehr von der Weisen Ergötzung
Gefaßt als nur die Züge.
Der klügste, gewandteste Pater wird mir
Als Feldherr gegenüber gestellt,
Ein feiner Kopf, so freundlich-schön
Wie man ihn wohl auf alten Bildern sieht.
Der Kampf beginnt: -
Und ich, nur in Aengsten,
Nicht gleich die schlimmsten Blößen zu geben,
Ziehe, im Zagen mit zaudernden Unwissen,
Und rings die andern,
Alte wie Junge
Erwundern mein kluges, feines Spiel,
Der Feldherr selber
Weiß kaum sich zu wehren,
Und ich verstehe selbst von meinen Listen nichts.
Lob auf Lob, Bewundrung, laute,
Ermuthigt mich, und trunken, erhitzt
Such' ich mir eines Planes bewußt zu werden.
Schon giebt man den Pater verlohren,
Und ich strebe tantalisch vergeblich
Zu sehn, die Einsicht nur etwas zu gewinnen,
Doch nur mechanisch rückt der Finger die Holzgestalten.
Man sagt, in drei Zügen sei ich der Meister,
Da verläßt plötzlich der Genius den Blinden,
Und lautes Gelächter statt der Ehrfurcht
Umschallt und beschämt mich,
Denn wie ich rücke spiel' ich mich selber
In wenigen Zügen matt,
Und rings die Versammlung
Begreift so wenig
Die hohe List, wie jetzt die Einfalt.
So erzählt man, daß der große Condé
Als Meister begann
Und beschloß als Schüler.
[Quelle: Ludwig Tieck, Gedichte, Bd. 3 (1823), S. 261-262; zitiert nach
Die digitale Bibliothek der deutschen Lyrik, Frankfurt/M. 2003, S.
70456]
Abschließend noch einige Anmerkungen zu diesem Gedicht. In den Jahren 1807/08
annektierte Napoleon die Toskana und den Kirchenstaat. Das von Ludwig Tieck
erwähnte Franziskanerkloster wurde geschlossen, da Napoleon die Mönchsorden
auflöste. Als das ehemalige Kloster 1817 weltlicher Benützung zugeführt wurde,
waren viele der ursprünglich dort aufbewahrten Kunstschätze verteilt auf
Kirchen in Florenz und Kunstgalerien. Das Gebäude wurde um 1900 umgebaut und
dann während des zweiten Weltkriegs schwer beschädigt. Die Renovierung 1950
erwies sich als derart kostspielig, dass das Ziel, dort eine private
Luxusresidenz zu errichten, aufgegeben wurde. Aus der Villa wurde ein
Luxus-Hotel, das seit 1982 zur Kette der Orient-Express-Hotels gehört. In
der Nähe befindet sich das European University
Institute.
Mit dem "frommen Johann" meinte Tieck den italienischen Maler Guido di Pietro
(ca. 1395-1455). Dieser nahm bei seinem Eintritt in den Dominikanerorden den
Namen Giovanni (Johannes) an und ist Kunsthistorikern als "Fra Angelico"
bekannt. 1984 wurde Fra Angelico selig gesprochen - man nennt ihn auch Beato
Angelico.
"Der große Condé" ist eine Bezeichnung für Louis II. von Bourbon, Prinz von
Condé (1621-1686). Er war ein bedeutender Heerführer und erhielt 1675 den
Oberbefehl über die französische Armee in Deutschland. Der große Condé schätzte
das Schachspiel. H. F. Massmann schrieb in seiner Geschichte des
mittelalterlichen, vorzugsweise des deutschen Schachspieles (1839; S. 8):
"Prinz Condé pflegte zu sagen: 'Wer ein guter General werden wolle, müsse mit
dem Schachspiele beginnen'" und verwies auf das Werk Divertissemens innocens,
contenant les règles du jeu des échets, du billard, de la paume, du palle-mail,
et du trictrac, das 1696 erschien.
Gerald Schendel / 24.12.2005