"Die Olympiade hat eigene Gesetze"
Rückblick auf die Schacholympiade Dresden 2008 - Christian Hesse im Gespräch
mit Oliver Breitschädel
Vor fast genau zwei Jahren trafen sich Prof. Dr. Christian Hesse und Oliver
Breitschädel, Diplom-Physiker, Turnierorganisator und Schiedsrichter bei der
Schacholympiade, an der Universität Stuttgart zu einem viel beachteten Interview.
In dem Interview ging es primär um Christian Hesses Buch "Expeditionen in die
Schachwelt", welches bei den Schachfreunden großes Aufsehen erregte. Der Wiener
Standard nannte es "eines der geistreichsten und lesenswertesten Bücher, die
je über das Schachspiel verfaßt wurden." Ferner sprachen die beiden Protagonisten
über die bevorstehende Schacholympiade in Dresden. Die Olympiade ist nun bereits
Vergangenheit und es bot sich an, bei einem spontanen Treffen an der Universität
Stuttgart die Geschehnisse in Dresden noch einmal Revue passieren zu lassen.
Die Ruhe vor dem Sturm. Ein Blick ins Internationale Congress Center Dresden
(ICD) am Abend vor der ersten Runde.
OB: Herr Hesse, Sie hatten den Organisatoren der Schacholympiade in unserem
Gespräch vor zwei Jahren einige Vorschläge für eine erfolgreiche Veranstaltung
mit auf den Weg gegeben. Haben die Organisatoren ihre Vorschläge, in die Olympiade
ein attraktives Rahmenprogramm einzubinden, umsetzen können?
CH: In der Tat hat die Schacholympiade ein sehr interessantes und vielfältiges
Rahmenprogramm geboten. Es wurden Ausstellungen über Schach und Kunst, Schach
und Fotographie, Schachgeschichte sowie eine weitere Fülle von kulturellen Zusatzangeboten
umgesetzt, so dass für viele und ganz verschieden interessierte Menschen etwas
dabei war.
Ich selber habe mir die Ausstellung "Schach und Kunst" von Ugo Dossi, einem
befreundeten Münchner Künstler italienischer Abstammung, im QF (Quartier an
der Frauenkirche) angeschaut. Es gibt auch ein gleichnamiges Buch dazu. Eine
weitere Ugo Dossi-Ausstellung hätte es im Rathaus, in der World of Chess, geben
sollen. Wegen organisatorischer Probleme ist diese Ausstellung leider nicht
zu Stande gekommen.
An zwei weiteren Rahmenveranstaltungen habe ich selbst mitgewirkt: zum einen
gab es in der "World of Chess" eine Matinee mit der Musikerin und Schauspielerin
Vaile und mir. Zum anderen habe ich den Eröffnungsvortrag über "Schach und Mathematik"
halten dürfen.
"Beauty and Brain" in der "World of Chess" mit Christian Hesse und Vaile.
OB: Ihre Matinee mit Vaile konnte ich in der "World of Chess" live verfolgen.
Wessen Idee war das und wie lange kennen Sie Vaile schon?
CH: Letztendlich ergab es sich daraus, dass wir beide Botschafter der Schacholympiade
waren. Vaile habe ich beim Weltmeisterschaftsmatch in Bonn zwischen Anand und
Kramnik kennen gelernt. Wir haben uns dort überlegt, ob wir bei der Olympiade
nicht etwas zusammen machen könnten und uns darauf verständigt eine Art Jamsession
aufzuführen, die Organisatoren nannten sie "Beauty and Brain". Hinter dieser
Session verbarg sich eine kleine Matinee: wir tranken eine Flasche Bordeaux,
spielten eine Partie Schach und sprachen dabei über unsere unterschiedlichen
beruflichen Erfahrungen als Mathematiker bzw. als Schauspielerin und Musikerin.
Und natürlich über unsere gemeinsame Leidenschaft für das Schach. Ich habe dann
noch aus meinem Buch "Expeditionen in die Schachwelt" vorgelesen. Im Anschluss
hat Vaile einige musikalische Leckerbissen, einige selbst komponierte Lieder
mit eigener Begleitung am Flügel gesungen. Vaile - und wir sind ja unter uns
(lacht) - ist eine sehr interessante Frau, die auf den ersten Blick wie ein
Starlet aussieht, aber sehr reflektiert und ausgesprochen vielseitig ist. Alleine
als Musikerin würde ich sie auf 2700 ELO einschätzen, um es schachlich auszudrücken.
OB: Sie waren Botschafter der Schacholympiade. Wo und wie haben Sie für die
Schacholympiade geworben?
CH: Ich habe es als große Ehre empfunden, zum Botschafter der Schacholympiade
erkoren zu werden, und es hat mich sehr gefreut zusammen mit bekannten Persönlichkeiten
wie den Klitschko Brüdern, Felix Magath, Artur Brauner oder Viktor Kortschnoi
für die Olympiade zu werben. Jeder der Botschafter hat auf seine eigene Art
und Weise in seinem Umfeld für die Olympiade geworben. Ich habe vor allem bei
meinen Reisen auf Konferenzen und Tagungen auf die Olympiade aufmerksam gemacht
und viele Wissenschaftlern dafür begeistern können. Zudem habe ich manches Grußwort
für Schachveranstaltungen geschrieben, die ich aus Termingründen nicht selbst
besuchen konnte.
Viktor Kortschnoi (links) war wie Christian Hesse offizieller Botschafter der
Schacholympiade: hier bei seiner Niederlage gegen Peter Leko.
OB: Sie durften dann zusammen mit Vaile die 4. Runde der Olympiade symbolisch
eröffnen.
CH: Ja genau! Das war im Anschluss an unsere Matinee. Wir durften jeweils den
Eröffnungszug machen, ich bei den Herren, bei der Partie Ivanchuk gegen Aronian,
Vaile bei den Damen. Ivanchuk hatte Weiß, wollte aber nicht, dass jemand seinen
ersten Zug macht. Darauf hin hat Aronian angeboten, dass ich den ersten Zug
bei ihm machen könnte. Also habe ich die Seite des Brettes gewechselt. Aronian
hat mir noch mitgeteilt, dass er natürlich erst noch Ivanchuks Zug abwarten
müsse, bevor er wisse, was er ziehen wolle. Dann spielte Ivanchuk schließlich
1. e4, worauf Aronian mir sagte, dass ich für ihn 1. … c5 spielen könne. Das
muss ein Novum in der gesamten Schachgeschichte gewesen sein, dass eine Partie
symbolisch mit dem ersten Zug von Schwarz eröffnet wurde. Eine Frage für Edward
Winter (Schachhistoriker).
OB: Sie hatten eingangs davon berichtet, dass Sie im Workshop "Schach und
Mathematik" einen Vortrag gehalten haben. Worum ging es in Ihrem Vortrag?
CH: Bei den Rednern hat es sich um eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern,
primär Mathematikern, gehandelt, die diverse Vorträge aus dem inhaltlichen Schnittbereich
von Schach und Mathematik gehalten haben. Z.B. gab es das Thema "Kombinatorik
auf dem Schachbrett". Imeinem eigenen, populärwissenschaftlich angelegten Vortrag
habe ich Aspekte angesprochen, wie man mit mathematischen Denkwerkzeugen Schachprobleme
lösen kann. Daneben mathematische Zaubertricks auf dem Schachbrett, Schachbrett-Paradoxa,
die schachliche Version des Satzes von Pythagoras und einiges mehr. Der Vortrag
dauerte eine Stunde. Insgesamt war es ein sehr gut organisierter Workshop mit
sehr interessanten Beiträgen, die teilweise auch im Internet verfügbar sind.
Organisiert wurde der Workshop von Prof. Roos von der TU Dresden.
OB: Nicht alles war so perfekt organisiert. In der Presse konnte man hinterher
von einer ganzen Reihe von Problemen lesen. Arkadij Naiditsch hat sich über
die zu weit außerhalb gelegene Unterkunft der Deutschen Nationalmannschaft beklagt,
eine geplante Ausstellung von Ugo Dossi in der "World of Chess" kam wegen organisatorischer
Probleme nicht zu Stande und Björn Lengwenus hat in einem Chessbase-Interview
darüber berichtet, wie die Partnerschulaktion der Deutschen Schachjugend im
Chaos versank.
CH: In der Tat konnte man einiges darüber lesen und wenn das wirklich alles
so zutraf, ist das sehr bedauerlich. Ich glaube, dass die Organisatoren am Rande
des Limits gearbeitet haben und vielleicht vereinzelt in den roten Bereich geraten
sind. Und die Veranstaltung war einfach zu groß, um alle Eventualitäten von
vornherein einschätzen und alle akut auftretenden Probleme spontan lösen zu
können.
OB: In wie weit hat die gegenwärtige Wirtschaftslage das Schach erreicht?
Hat man die Auswirkungen vielleicht schon während der Olympiade erkennen können?
CH: Eventuell waren einige der organisatorischen Probleme auf die einsetzende
Wirtschaftskrise zurückzuführen. Ansonsten war der Einfluß der Finanzkrise noch
relativ gering. Ich selbst war mit meinen Schachaktivitäten auch von der Finanzkrise
betroffen. Was ich etwa bei der Suche nach einem englischsprachigen Verlag für
die "Expeditionen in die Schachwelt" gespürt habe ist, dass die Verlage nur
noch sehr zögerlich Manuskripte annehmen.
Dunkle Wolken über dem Dresdner Zwinger; es gab bei der Olympiade nicht nur
Sonnenschein.
OB: Ich selbst bin leidenschaftlicher Schachliteratursammler und obwohl es
auf dem Büchermarkt sehr viele auch qualitativ gute Bücher gibt, sticht Ihres
positiv hervor, da es sich im Gegensatz zu den meisten anderen Schachbüchern
sehr leicht lesen lässt.
CH: Ja! Ich denke zumindest, dass es wenig vergleichbare Bücher gibt. Es ist
eine Mischung aus wissenschaftlichen und anekdotischen Schachhighlights. Bei
den meisten Schachbüchern muss sich der Leser den Inhalt hart erarbeiten, das
muss er bei meinem Buch nicht. Es ist eher so eine Art "Wohlfühlbuch", das man
zu fast jeder Zeit an vielen Orten, z.B. auch im Zug, genießen kann, eine Art
von Lektüre für Minuten.
Die Übersetzung des Buches ins Englische von Ian Adams, einem emeritierten schottischen
Professor für Literaturwissenschaft, ist jetzt fertig und ich bin sehr zufrieden
damit. Viele der sprachlichen Feinheiten, um die ich mich in der deutschen Ausgabe
bemüht habe, konnten auch ins Englische übertragen werden bis hin zur gelungenen
Übersetzung von Limericks. Ich hoffe, dass das Buch in den nächsten Monaten
erscheint. Auch die spanische Übersetzung ist kurz davor fertiggestellt zu werden.
Alfonso Romero, ein spanischer Großmeister, der einen eigenen Schachbuchverlag
besitzt, hat mit seinem Team im August 2008 mit der Übersetzung begonnen.
OB: Sie hatten bei unserem letzten Treffen ein neues Buch angekündigt, diesmal
ein mathematisches Buch. Wie weit sind Sie mit diesem Buch?
CH: Die Arbeit am Manuskript ist beendet und es ist an den Verlag C.H.Beck weitergeleitet.
Nach jetzigem Stand wird es ab dem 14. Mai 2009 erhältlich sein. Es heißt: "Das
kleine Einmaleins des klaren Denkens" mit dem hoffentlich Lust aufs Lesen machenden
Untertitel: "22 Denkwerkzeuge für ein besseres Leben". Es geht um einfache und
weitläufig einsetzbare Prinzipien, mit denen man ein sehr breites Spektrum von
quantitativen Problemen angehen kann. Das Buch ist ähnlich aufgebaut wie meine
"Expeditionen in die Schachwelt", es ist leicht lesbar, aufgelockert mit Cartoons,
Anekdoten und geistreichen Zitaten. Denken soll Spaß machen und wenn man sieht
wie schön manche kleinen Gedankensplitter zusammen wirken können und das größere
Ganze einer gelungenen Problemlösung bilden, wie z.B. bei einer wunderbaren
Schachkombination, die zum Matt führt, dann erzeugt dies wahre Feuerwerke auf
der Großhirnrinde.
Denken soll Spaß machen: Prof. Christian Hesses "kleines Einmaleins des klaren
Denkens".
OB: Kommen wir zurück zur Schacholympiade. Was würden Sie als Ihr persönliches
Highlight auf der Schacholympiade bezeichnen?
CH: Mein persönliches Highlight war jener Sonntag der 4. Runde, der mit der
Matinee mit Vaile begann. Danach hat mich das 3-Sat Wissenschaftsmagazin "Nano"
interviewt, es ging dabei um die mathematischen Aspekte des Schachs. Und im
Anschluss durfte ich zusammen mit Vaile die 4. Runde eröffnen.
Daneben war es ein Highlight viele alte Bekannte auf der Olympiade zu treffen
und neue interessante Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen kennen zu
lernen oder einfach nur das Geschehen auf den Schachbrettern und drum herum
zu beobachten.
OB: Sie haben eben das Fernsehen erwähnt. Wie war Ihrer Meinung nach die
Berichterstattung in den Printmedien und im Fernsehen? Ich persönlich hatte
den Eindruck, dass, mit Ausnahme der lokalen Zeitungen, relativ wenig von der
Olympiade berichtet wurde, obwohl im ICD zahlreiche Medienvertreter anzutreffen
waren. Dagegen hat es sich wieder mal gezeigt, dass das Internet das Verbreitungsmedium
schlechthin für Schach ist. Hier wurden laut Organisatoren hinsichtlich Zugriffen
und Downloads sämtliche Rekorde gebrochen. Ganz anders sah es im Fernsehen aus.
Im öffentlich rechtlichen Fernsehen wurde von der Olympiade nur ganz wenig berichtet.
Im Vergleich dazu wurde vom Weltmeisterschaftskampf zwischen Kramnik und Anand
in Bonn relativ viel berichtet, sogar zur besten Sendezeit in der ARD-Tagesschau.
CH: Ich denke auch, es hätte mehr sein können. Schach ist in diesem Sinn
halt wieder Schach, nämlich eine Randsportart. Es wird zwar im Fernsehen sehr
viel über Sport berichtet und man hat manchmal das Gefühl, unsere moderne Gesellschaft
ist übersättigt mit Sport, aber die Berichterstattung beschränkt sich leider
meist auf Mainstream-Sportarten. Dass dies selbst noch die Schacholympiade treffen
würde, war vermutlich zu erwarten.
Ein klassischer Weltmeisterschaftskampf hat dagegen eine noch viel größere Attraktivität
für die Medien, einfach vom Konzept her, eine Verdichtung der Ereignisse auf
zwei Personen, die beiden besten Spieler der Welt, Mann gegen Mann, eine richtige
Titanenschlacht. So etwas ist für das Fernsehen attraktiv. Natürlich war auch
das Ambiente, die Bundeskunsthalle in Bonn, unschlagbar. Ich hoffe, daß auch
der nächste WM-Kampf dort stattfinden wird.
Eine Schacholympiade ist dagegen besonders in einem kumulativen Sinn attraktiv.
Es sind halt viele interessante Spieler und andere Persönlichkeiten anwesend.
Aber die Medienvertreter können deshalb leicht den Überblick verlieren, insbesondere,
wenn Sie nicht direkt vom Schachsport kommen. Mir selbst ging es genau so. Manche
Spieler kamen mir bekannt vor, ich konnte sie in dem Augenblick ihren Ländern
aber nicht zuordnen oder mir fielen die Namen einfach nicht ein.
Ein Blick auf die Bühne: hier spielten u.a. die Deutsche Damen- und Herren Nationalmannschaft.
OB: Wie haben Sie die Weltmeisterschaft in Bonn erlebt? Wie bewerten Sie
Kramniks Abschneiden?
CH: Die Weltmeisterschaft an sich war eine ganz großartig organisierte Veranstaltung.
Schade nur, dass der Wettkampf als solcher früh entschieden war. Ich habe auch
eine Hypothese für Kramniks Probleme bzw. warum er nicht in der Lage war Anands
Niveau mitzuhalten. Unter Umständen liegt dies in der Tatsache begründet, dass
er kürzlich Vater geworden ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass er mit seinen
Gedanken nicht immer nur bei seinen Partien war, sondern oft auch bei seiner
zur damaligen Zeit schwangeren Frau. Da ich selbst Vater zweier kleiner Kinder
bin, weiß ich, dass das wie ein Film ist, der im Hinterkopf stets mitläuft.
Dies gilt vermutlich auch für seine Vorbereitungsphase, bei der er möglicherweise
nicht immer 100%-ige Konzentration mobilisieren konnte, was aber auf einem so
hohen Niveau absolut notwendig ist.
OB: Kramnik hat dann nur zwei Wochen nach dem Weltmeisterschaftskampf für
das russische Team bei der Olympiade gespielt. Allerdings lief es für die Russen
nicht sonderlich gut. Vor zwei Jahren in Turin sind sie nur Dritter geworden,
in Dresden sogar nur Vierter. Wie bewerten sie die Leistung der Russen, die
mit einem ELO-Durchschnitt von 2750 Punkten das stärkste Team aller Zeiten aufboten,
zumindest auf dem Papier?
CH: Die Olympiade hat ihre eigenen Gesetze. Sicher lag Kramnik weit hinter
seinen eigenen Erwartungen und Möglichkeiten zurück, man hätte meinen können,
dass er nach seiner Vorbereitung für den WM-Kampf gegen Anand noch mit vielen
Neuerungen gespickt war, aber wie in der WM wurde seine Vorbereitung auch bei
der Olympiade quasi überhaupt nicht sichtbar. Aber warum das gesamte russische
Team sein Potential nicht abrufen konnte, ist sehr schwer zu sagen.
OB: Möglicherweise war Kramnik auch nach seinem WM-Kampf einfach etwas müde
und innerlich noch etwas von seiner Niederlage enttäuscht. Bei Turnieren streut
Kramnik zudem immer wieder mal ein Kurzremis ein, was aber in Dresden wegen
der speziellen Remisregel, ein Remis war mit Ausnahme von Dauerschach und 3-facher
Zugwiederholung, erst nach 30 Zügen erlaubt, nicht ging.
CH: Ich weiß nicht, ob dies etwas mit dieser Regel zu tun hat und kann dies
auch nur schwer einschätzen. Aber wenn beide Spieler wirklich ein Remis wollen,
finden sie wahrscheinlich immer eine Möglichkeit dazu. Kramnik hat auch bei
der Olympiade trotz der neuen Regel viele Remisen gemacht. Wie stehen Sie denn
als Schiedsrichter zu dieser Remis-Regel?
OB: Für mich macht die Regel durchaus Sinn. Ich glaube, dass viele Partien zwischen
dem 20. und 30. Zug ihren Charakter ändern oder eine
ungeahnte Wendung nehmen
können. Das gilt insbesondere im Amateurbereich, wo ohnehin viel mehr Fehler
gemacht werden. Nicht zuletzt muss man auch an die Schachfans denken, die sich
die Partien ansehen wollen und selbst wenn eine Partie recht langweilig und
trocken erscheint, haben die Fans zumindest die Möglichkeit ihre Stars zu sehen.
Parallel zur Olympiade fand in Dresden der 79. FIDE-Kongress statt. Alle vier
Jahre werden die FIDE-Regeln überarbeitet und diesmal war es wieder so weit.
An einem der spielfreien Tage konnte ich in der Regelkommission die Diskussionen
zu den neuen Regelvorschlägen mit verfolgen. Gerade diese 30-Züge-Remis-Regel
und die 0-Minutenregel, d.h., der Spieler muss zu Beginn der Runde am Brett
sitzen, wurden sehr kontrovers diskutiert.
CH: Die 0-Minuten Regel bedeutet also, dass ein Spieler kampflos verliert, wenn
er nicht pünktlich zu Rundenbeginn am Brett sitzt?
OB: Genau! FIDE-Präsident Kirsan Ilyumzhinov hat sicher spätestens seit dem
Weltmeisterschaftskampf zwischen Anand und Karpow 1998 in
Lausanne ein persönliches
Interesse daran, diese Regel umzusetzen. Die WM wurde damals im IOC Museum ausgetragen.
Ilyumzhinov hat zusammen mit IOC Präsident Juan Samaranch auf der Bühne gewartet.
Während Anand pünktlich erschien, kam Karpow 10 Minuten verspätet, was Ilyumzhinov
sehr peinlich gewesen sein muss, insbesondere, da er Schach so gerne zur olympischen
Sportart aufgewertet sähe.
Darüber hinaus waren die Spielhallen der beiden letzten Olympiaden in Turin
und Calvia die ersten Minuten nach Rundenbeginn nur bescheiden gefüllt, was
gegenüber den Medien und den Zuschauern einen sehr schlechten Eindruck hinterlassen
hat. In Dresden dagegen waren die Bretter zu Rundenbeginn alle besetzt. Das
war sehr schön anzuschauen, sowohl für die Zuschauer als auch für die Medien.
Von dieser Seite her fände ich diese Null-Wartezeitregel sehr gut, zumindest
für FIDE-Turniere und Mannschaftskämpfe in höheren Ligen. Oder anders ausgedrückt
überall da, wo mit verstärktem Zuschauer- und Medieninteresse zu rechnen ist.
In Dresden gab es keine großen Probleme mit dieser Regel, es wurde vielmehr
über mögliche Probleme diskutiert, die gar nicht eintrafen. Fünf Partien mussten
wegen Verspätung der Spieler genullt werden, aber ansonsten haben sich die Spielerinnen
und Spieler sehr diszipliniert verhalten.
Problematisch dagegen sehe ich die Umsetzung der Regel in unteren Ligen, wo
bei Partiebeginn sowieso keine oder nur ganz wenig Zuschauer zu erwarten sind
oder in Amateur-Open, wo die Spieler oft täglich mit dem Zug anreisen und dann
nicht den Zug eine Stunde früher nehmen, nur um nicht 5 Minuten zu spät zu Rundenbeginn
zu erscheinen. Es müsste also in solchen Fällen dem Ausrichter genügend Spielraum
gelassen werden, was aber auch geplant ist.
CH: Letztendlich ist es auch sicher ein Aspekt der Höflichkeit, dass ich
zu Partiebeginn meinem Gegner gegenüber sitze. In anderen Sportarten ist das
auch nicht anders. Ich könnte mir auch gut vorstellen, das zumindest im professionellen
Bereich das zu Spätkommen ein Mittel der psychologischen Kriegsführung geworden
ist und die entsprechenden Spieler eher absichtlich zu spät kommen, als dass
sie aufgehalten wurden.
Das Schachspiel wird dadurch seinem Ruf als unsichtbares Spiel wieder gerecht:
nicht nur dass - die Olympiade, die WM und Bundesligawettkämpfe ausgenommen
- oftmals keine oder nur wenige Zuschauer anwesend sind, es fehlen zu Beginn
sogar auch noch die Spieler.
OB: Ein weiteres viel diskutiertes Thema in Dresden waren die Dopingkontrollen,
die auch aus der Tatsache her resultieren, dass die FIDE Schach gerne zur olympischen
Sportart aufgewertet sähe. In Dresden wurden in jeder Runde zwei Spieler aus
dem Open und zwei Spieler aus dem Damenturnier ausgelost, die nach Beendigung
ihrer Partien zur Dopingkontrolle mussten. In der letzten Runde kam es dann
zu einem Ereignis, dass dem Schach großen Schaden zugefügt hat: Iwantschuk wurde
zur Dopingkontrolle ausgelost, verschwand aber aus dem Spielsaal ohne seinen
Pflichten nachgekommen zu sein. Damit galt Iwantschuk zunächst als positiv gedoped
und die Boulevardpresse stürzte sich genüsslich auf dieses Thema. Iwantschuk
hatte hinterher beteuert, dass er die Aufforderung zur Dopingkontrolle gar nicht
mitbekommen hatte. Er wurde später des Dopings freigesprochen.
CH: Ich habe mich mit Schachgroßmeister Dr. Helmut Pfleger einmal über die
Thematik "Doping beim Schach" unterhalten. Dr. Pfleger ist ja Mediziner und
Psychotherapeut und kennt sich naturgemäß sehr gut mit Psychopharmaka und Mitteln
aus, die auf das Gehirn einwirken können. Offenbar gibt es ein Medikament namens
"Modafinil", welches zur Behandlung der Schlafkrankheit "Narkolepsie" eingesetzt
wird, eine Krankheit, bei der die betroffenen Menschen ständig an Müdigkeit
leiden. Mit Modafinil können solche Menschen ein relativ normales Leben führen,
ohne ständig todmüde zu sein. Ein gesunder Mensch wird dagegen mit Modafinil
noch wacher und konzentrierter. Bis vor einiger Zeit wurde Doping im Schach
noch belächelt, aber es gibt solche Brainpower-Medikamente, neben Modafinil
noch einige andere. Und insbesondere in den USA, die ja oft Vorreiter für Neuerungen
aller Art sind, haben solche Medikamente z.B. in der Wissenschaftler- und Studentenszene,
also dort, wo verstärkt geistige Arbeit verrichtet wird, dem Vernehmen nach
schon Einzug gehalten.
OB: Es mag zutreffen, dass es solche Medikamente gibt. Vielleicht hilft es
jemanden auch kurzfristig konzentrierter zu sein, aber wird man dadurch mittelfristig
ein besserer Schachspieler? Was sind die Nebenwirkungen? Mangelnde Objektivität
oder Kreativität? Fehlende Eröffnungs- oder Endspielkenntnisse, fehlendes Talent
oder mangelnde Erfahrung wird man nicht mit Medikamenten ausgleichen können
und das ist gut so! Noch vor wenigen Jahren hatte man allerhöchstens über das
so genannte elektronische Doping diskutiert, also den Betrug durch die Zuhilfenahme
von Computern oder Handys. Die Diskussion über Dopingkontrollen halte ich für
eine Scheindiskussion, ausgelöst durch das Bestreben der FIDE Schach olympisch
zu machen. Etwas provokant ausgedrückt: wenn ich eine Partie mit allen Mitteln
gewinnen will, betrüge ich lieber mittels Computerunterstützung als durch die
Einnahme spezieller teurer Medikamente.
Alles unter Kontrolle: Oliver Breitschädel, Matchschiedsrichter bei der Olympiade
in Dresden.
CH: Was hat Sie dazu bewogen Schiedsrichter zu werden? Macht es nicht mehr Spaß
selbst am Brett zu sitzen?
OB: Ich habe schon immer gerne hochkarätige Schachveranstaltungen besucht,
um mir die Partien der Top-Spieler aus der Nähe anzuschauen. Z.B. kann ich mich
noch gut an die Dortmunder Schachtage 1992 erinnern, als Hübner gegen Kasparow
gewonnen hatte. Partien live vor Ort zu beobachten, die Mimik und Gestik der
Spieler zu erleben, ist für mich immer noch etwas ganz besonderes. Das hat sich
bis heute nicht geändert. Wann immer ich Zeit habe fahre ich zu den Dortmunder
Schachtagen, zu den Chess Classic nach Mainz oder zu einem Bundesligaspiel in
der Nähe. Als ich 2001 zum Schachverein Reutlingen gekommen bin, hat man mich
gefragt, ob ich nicht als Schiedsrichter für das Internationale Reutlinger Open
fungieren wollte. So konnte ich den Verein unterstützen und dies mit meiner
Leidenschaft, dem Beobachten spannender Partien, kombinieren. Ich habe dann
bemerkt, dass mir die Arbeit, hierzu gehörte auch die Turnierorganisation, viel
Spaß macht. Und das tut sie heute noch. Im Laufe der Jahre habe ich die Ausbildung
des Turnierleiters bis hin zum Nationalen Schiedsrichter gemacht. Das Reutlinger
Open, welches alljährlich zu Pfingsten ausgetragen wird, ist in der Zwischenzeit
auf bis zu ca. 120 Teilnehmer angewachsen und erfreut sich großer Beliebtheit.
CH: Und wie wird man Olympiaschiedsrichter?
OB: Etwa ein Jahr vor Beginn der Olympiade hat Klaus Deventer, Referent
für Leistungssport beim DSB und bei der Olympiade stellvertretender Hauptschiedsrichter,
alle Nationalen- und Internationalen Schiedsrichter in Deutschland angeschrieben,
um zu erfahren wer überhaupt in Frage käme. Fremdsprachenkenntnisse und Erfahrungen
haben auch noch eine Rolle gespielt. Zu guter letzt mussten alle potentiellen
Olympiaschiedsrichter an einem Vorbereitungslehrgang in Dresden teilnehmen.
Insgesamt waren wir 113 Schiedsrichter, knapp die Hälfte davon aus Deutschland.
Neben Hauptschiedsrichter Ignatius Leong aus Singapur gab es zwei Deputies.
Einer davon war Klaus Deventer, der einen sehr guten Job gemacht hat. Ferner
gab es sieben Seniorarbiters. Es gab drei Sektionen bei den Frauen und vier
beim Open. Mein Seniorarbiter war die 73jährige Carol Jarecki von den British
Virgin Islands, die seit 1984 Internationale Schiedsrichterin ist, eine sehr
bemerkenswerte Frau.
Schiedsrichtermeeting, in der Mitte (Blick nach vorne): Hauptschiedsrichter
Ignatius Leong.
CH: Gab es bei den Partien in Dresden größere Streitfälle oder schwierige Situationen
zu meistern?
OB: Letztendlich gab es aus Schiedsrichtersicht keine größeren Probleme,
wozu nicht zuletzt die Bedenkzeitregelung beigetragen hat. Es wurde im Fischer-Modus
gespielt, d.h., pro Zug erhielt jeder Spieler eine Zeitgutschrift. In Dresden
wurde mit einer Bedenkzeitregelung von 90 Minuten/40 Züge + 30 Minuten für den
Rest der Partie gespielt, zusätzlich gab es vom ersten Zug an 30 Sekunden Zeitgutschrift
für jeden gemachten Zug.
CH: Die Wirkung davon ist vermutlich, dass diese extremen Zeitnotschlachten
nicht mehr so häufig vorkommen, die für den Zuschauer immer sehr faszinierend
sind. Dagegen ist diese Regelung für die Schiedsrichter und Spieler sicher sehr
angenehm. Bislang war die Tendenz zu immer kürzeren Bedenkzeiten zu gehen, um
die Publikumswirksamkeit zu erhöhen. Davon ging man in Dresden offenbar etwas
weg.
OB: Dies ist in der Tat so! Die Partien in der Zeitnotphase sind immer jene,
um die sich die Zuschauer drum herum scharen. Es sind auch die Partien, wo der
Schiedsrichter am meisten gefordert ist und bei denen die meisten Probleme aufkommen.
Mit dem Fischer-Modus hat man in Dresden und in der Bundesliga sehr gute Erfahrungen
gemacht, es kommt zu weniger Streitfällen. Dies führt sogar dazu, dass in den
Bundesligen bei einem Doppelwettkampf statt bisher zwei nur noch ein Schiedsrichter
zum Einsatz kommen soll. Aber wie Sie schon sagten, der Nervenkitzel wird dafür
etwas weniger. Jede Zeitregelung hat sicher ihr Pro und Contra, aber was ich
sehr schädlich finde ist, dass wir in der Zwischenzeit eine ganze Reihe unterschiedlichster
Bedenkzeitregelungen haben. So wird in der Ersten Bundesliga mit 100 Minuten/40
Züge plus 50 Minuten für den Rest der Partie gespielt, zusätzlich 30 Sekunden
Zeitgutschrift für jeden gemachten Zug ab dem ersten Zug. Ab der Saison 2009/2010
soll wie folgt gespielt werden: 100 Minuten/40 Züge, 50 Minuten/20 Züge und
15 Minuten für den Rest der Partie und wiederum 30 Sekunden Zeitgutschrift für
jeden gemachten Zug. In der zweiten Bundesliga wird mit 2h /40 Züge + 1h für
den Rest der Partie gespielt ohne Zeitgutschrift für einen gemachten Zug und
bei der Olympiade wurde wieder mit einer anderen Bedenkzeit gespielt. Ich hoffe,
dass man bald eine universelle Bedenkzeitregelung für alle Wettbewerbe finden
wird.
Die Regelkommission tagt: Stewart Reuben, Geurt Gijssen, FIDE Ehrenpräsident
Florencio Campomanes (v.l.n.r.).
Vielleicht noch ein Wort zu der Handyregel, nach der das Handyklingeln zwingend
zum Verlust führt. In der Zwischenzeit kennt nun jeder diese Regel und akzeptiert
diese auch, aber ich finde, diese Regel steht in keinem Verhältnis zum eigentlichen
Ausmaß der Störung und ist viel zu hart, auch wenn sich die Regel selber natürlich
gegen jede Art von Betrugsversuchen richtet. Während der Regelkommission musste
ich leider feststellen, dass sich die Macher der "Handyregel" am allerwenigsten
an Ihre Regel hielten. Alle zehn Minuten klingelte ein Handy und störte die
gesamte Sitzung, so dass man zeitweise Schwierigkeiten hatte dem Geschehen zu
folgen; sehr traurig!
Das Gespräch wurde am 9. Februar in Stuttgart geführt.
Links:
Interview mit Christian Hesse vom 25.04.2007:
"Schach
muss sichtbar werden"
Workshop Schach und Mathematik
Internationales Reutlinger Open
2009 (29. Mai bis 1. Juni)