Smyslow wurde 89 Jahre alt. Vor einem Jahr war er noch der älteste lebende
Weltmeister. Dann starb er am 27. März 2010, also kurz nach seinem letzten
Geburtstag, in einem Moskauer Krankenhaus. Die Nachricht erhielt ich am gleichen
Tag von Boris Spasski, der jetzt dienstältester Weltmeister ist. Er sagte:
“Wassili Wassiljewitsch war eines der Schachgenies des 20. Jahrhunderts. Für
mich gab es nach dem zweiten Weltkrieg vier Titanen, die das Schach in der
Sowjetunion prägten: Botwinnik, Smyslow, Keres und Bronstein. Alle sind jetzt
tot. Wir sollten ihr Andenken für immer in Ehren halten.“
Smyslow mit seiner Katze Belka
Mit einer Trauerfeier im Zentralen Schachklub von Moskau nahm der russische
Schachverband Ende März 2010 Abschied von seinem berühmten Mitglied. In dem
Gebäude am Gogol-Boulevard war Smyslow über ein halbes Jahrhundert lang aus und
ein gegangen. Das russische Fernsehen brachte in den Hauptnachrichten
ausführliche Berichte über Smyslows Karriere. Zeitzeugen wie Juri Awerbach sowie
der Schachhistoriker Isaac Linder würdigten vor der Kamera die Bedeutung des
Verstorbenen als Schachspieler, Buchautor und Schachlehrer.
Smyslow mit Gattin Nadezhda
In den letzten Jahren lebte Smyslow, der sehr religiös war, mit seiner Frau
Nadeshda ganz zurückgezogen. Die Kräfte ließen nach, seine Augen wurden immer
schlechter. Das Ehepaar verbrachte die meiste Zeit auf seiner Datsche im
Moskauer Umland, wo nur eine zugelaufene Katze Abwechslung ins Leben brachte.
Neben dem Schach gab es mit der Musik noch eine zweite Liebe Smyslows. Er war
ein großartiger Sänger und hätte durchaus auch auf Opernbühnen bestehen können.
Etliche Schallplatten und CDs, die er aufnahm, sind ein Beleg dafür. Wer bei
Konzerten am Rande von Schachevents seinen lyrischen Bariton gehört hat,
vergisst diese schöne, kultivierte Stimme nicht.
Die Poesie des Schachs
Von Dagobert Kohlmeyer
Anlässlich des runden Geburtstags von Wassili Smyslow möchten wir unsere Leser
auf eine weitere Facette seines reichen Schaffens aufmerksam machen. Der
siebente Weltmeister ist nicht nur ein universeller Schachspieler gewesen, der
seine Partien mit leichter Hand absolvierte und dabei immer die Harmonie auf dem
Brett suchte. Er war - scheinbar nebenbei - auch ein sehr erfolgreicher
Studienkomponist.
Smyslow hat weit über hundert dieser kleinen Kunstwerke
geschaffen und die besten von ihnen in einem Buch veröffentlicht. Das handliche
Bändchen erschien im Jahre 2005 in Moskau. „Studien sind die wahre Poesie des
Schachs“ betont der Autor darin.
Bemerkenswert ist, dass die Aufgaben über einen sehr langen Zeitraum von sieben
Jahrzehnten entstanden. Seine erste Studie verfasste Wassili im jugendlichen
Alter von 15 Jahren, die letzte mit 85. Eines der jüngeren Werke ist dem
bekannten holländischen Mäzen Joop van Oosterrom gewidmet. Der Schachveteran
schickte es mir vor einem Dutzend Jahren mit der Bitte um Veröffentlichung. Es
war sein spezieller Dank an den Sponsor der Amber Turniere und der Vergleiche
„Ladies – Veteranen“. Smyslow wirkte bei letzteren Matches immer mit, und van
Oosterom hat ihm 1998 in Nizza eine Augenoperation bezahlt.
Zum Thema Schachkomposition schreibt Wassili Smyslow in seinem 1996 bei Bock &
Kübler erschienenen Buch „Die Kunst des Endspiels“, das ich ins Deutsche
übersetzen durfte: „Das Interesse an der Analyse von Endspielen bringt auch die
Hinwendung zu Studien und Kompositionen mit sich. Seit meinen ersten Schritten
in der Welt des Schachs löste ich gern Aufgaben. Ich bevorzugte dabei
Stellungen, die dem praktischen Spiel nahe waren.
Schachstudien begeistern durch klare und überraschende Ideen. In verschiedenen
Zeiträumen versuchte ich mich selbst als Komponist. Etliche Aufgaben sind von
der Praxis beeinflusst. Ich bin der Ansicht, dass die Beschäftigung mit Studien
die analytischen Fähigkeiten schult, das heißt, die Stärke des Schachspielers
hebt und ihn nicht vom praktischen Spiel ablenkt.“
"64"
1936
Weiß gewinnt
1.Sd6+ Kb8 2.Tb1+ Ka8 3.Se8 Dg3+ 4.Ka4 Ld4 5.e5! Lxe5 (5.Dxe5
6.h8D) 6.Sc7+, und Weiß gewinnt. "Dem Autor gelang es, in leichter
Aufgabenform eine typische Studienidee zum Ausdruck zu bringen", schrieb die
Moskauer Schachzeitschrift damals.
"Schach in der UdSSR"
1938, 4. Preis
Remis
1.Lf6+ exf6 2.f4 Th8+
Wenn
2...Tb8, so 3.Kg6 Tb2 4.h6 usw. 3.Kg7 Txh5 4.a4 Tg5+ 5.Kh8!
Der schwarze König darf
seinen Kontrahenten nicht freilassen und muss auch den Turm im Käfig halten.
5…Kh5 6.Kh7 Tg6 7.Kh8 Th6+ 8.Kg7 Tg6+ 9.Kh8! (Verlieren würde 9. Kh7? wegen
9...Tg5! 10.Kh8 Kg6+.) 9...Kh6 - Patt! Schwarz konnte sein großes
materielles Übergewicht nicht realisieren. Hier wurde das Thema "Festung" in
natürlicher Form realisiert.
Es folgt eine Aufgabe, die Wassili Smyslow seinerzeit dem berühmten georgischen
Studienkomponisten Gia Nadareischwili (1921-1991) gewidmet hat.
"Prawda"
1976
Weiß gewinnt
1.f7!
Nicht zum Ziel führen 1.Lb4 Kd3 2.Ke1 (2.f7 Ld2) 2...f3 3.gxf3 e2 4.f7 Lf4
oder 1.Le1 Kd3 2.Lxh4 Kd2 3.Le1+ Kd1 4.f7 La3 5.Lc3 Lc5!
1...La3 2.Lg7
Zeitverlust wäre 2.Lb2
Lf8 3.Ke2 Kd5 4.Lf6 Ke6 5.Lxh4 Kxf7 mit Remis. 2...f3! Schwarz stellt
eine Pattfalle auf. 3.gxf3 Nicht aber 3.f8D wegen 3... Lxf8 4.Lxf8 e2+
5.Kf2 fxg2, und Schwarz gewinnt. 3...Kd3 4.f8L!
Das voreilige 4.f8D führt nach 4...e2+ 5.Kf2 (5.Ke1 Lxf8 6.Lxf8 Ke3, und der
König kassiert beide weißen Bauern) 5...Lc5+! 6.Dxc5 e1D+! 7.Kxe1 zum Patt.4...e2+
Wenn 4...Lc1, so 5.Lh6 Ld2 6.Kg2 Le1 7.Lc5 e2 8.Lf2 mit Gewinn.
5.Kf2 e1D+! 6.Kxe1 Ke3 7.f4! Kxf4 8.Kf2 Lc1 9.Lh6+,
und das Duell der drei
gleichfarbigen Läufer endet zugunsten von Weiß.
Die nächste Studie verfasste Smyslow am Rande der 27. Schacholympiade, wo er als
Ehrengast weilte. Es wohl ist seine bekannteste Aufgabe.
Dubai
1986
Weiß gewinnt
1.g6! hxg6 2.h7 Lf6 3.Lb8!!
Verhindert die lange Rochade. Nach 3.Kxf6 0-0-0 ist das Spiel remis.
3...Txb8 4.Kxf6 Kd8 5.h8D+ Kc7 6.Dh2+, und Weiß gewinnt.
Interessant ist die Echo-Variante 1.g6! Lb6 2.Lb8!! Txb8 3.g7. Spielt
Schwarz im ersten Zug 1…Lb6, dann folgt 2.Lb8!! Txb8 3.g7. 1-0
Moskau
1998
Joop van Oosterom gewidmet
Weiß gewinnt
1.Lb8!
Auf 1.Lxb6 oder 1.Sd2 folgt 1...Kg5. 2.f4+ Kh6. 1...a1D 2.Lxe5! Dxe5 3.Sd2
De4+ Auch die Flucht hilft dem König nicht: 3...Kg5 4.f4+ Dxf4 5.exf4+
Kxf4 6.c5 bxc5 7.b5! Ke5 8.Sc4+ Kd5 9.Sb6+ Kd6 10.h4! a3 11.Sc4+ und 12.Sxa3
mit Gewinn. 4.Sxe4 fxe4 5.c5 bxc5 6.b5 a3 7.b6 a2 8.b7 a1D 9.b8D, und es
gibt keine Rettung vor dem Matt: 9…Kg5 10.Df4 matt; 9…Df6 10.Dg3 matt.
Moskau
2005
Remis
Tatsächlich
schafft Weiß dieses Kunststück! Seine Rettungschance besteht in der ungünstigen
Lage des schwarzen Königs. 1.g4 Lf5! Das Läuferopfer verhindert erst
einmal die Mattdrohung. Nicht aber 1…Lh5?? 2.g5 matt. 2.g5+ Kh5 3.Kxf5 b2
4.Te1 Kh4 5.Kf4 Kh3 6.Kf3 Kh2 7.Te2+ Kh3 8.Te1 Remis.
Es entsteht der Eindruck, dass Smyslows Spätwerke die früheren an Reife,
Schönheit und Gedankentiefe übertreffen. Wenn Sie mich nach meinem Favoriten
fragen, so ist es die 1986 in Dubai verfasste Studie. Sie besticht durch
Einfachheit, Klarheit und Praxisnähe.