ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024
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Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
Lasker und die Lust am
Denken
Ex-Daimler-Chef Edzard Reuter über Schach und Haifisch-Kapitalismus
von Michael Müller
Edzard Reuter, geboren am 16. Februar 1928 in Berlin. Ende 1933 Emigration mit
Familie in die Türkei (Vater Ernst Reuter, 1948 bis 1953 Ober- bzw. Regierender
Bürgermeister von Berlin). Ab 1947 Studium von Mathematik, Physik und Jura. 1957
Wechsel in die Wirtschaft, ab 1964 Daimler-Benz-AG. 1987 bis 1995
Vorstandsvorsitzender. Nachfolger Jürgen E. Schrempp revidierte Reuters
Strategie vom »integrierten Technologiekonzern statt
Share-Holder-Value-Kapitalismus«. SPD-Mitglied seit 1946. Verheiratet, zwei
Kinder, aktiver Freizeitsportler.
ND: Sie haben Mitte der 90er Jahre Ihre Managerkarriere beendet, schreiben
seither Bücher und kümmern sich um Ihre Stiftung. Seit einiger Zeit sind Sie
auch in der Emanuel-Lasker-Gesellschaft aktiv. Was zieht den
Ex-Daimler-Vorstandschef zum Schach?
Ehrengast Edzard Reuter mit Stefan Hansen, Vorsitzender der Lasker-Gesellschaft
Reuter: Bei aller Begeisterung für das Spiel bin ich nichts anderes als ein
Schachlaie. Nicht zuletzt kann ich modernes Schach mit seinem Gegeneinander von
Mensch und Maschine kaum beurteilen. Dennoch bin ich mir heute mehr denn je in
einem gewiss: Kaum etwas fördert so nachhaltig und universell die Fähigkeit,
über den realen wie sprichwörtlichen nächsten Zug hinaus zu denken, wie Schach.
Das klingt – folgt man dem, was auch Lasker dazu schrieb – inzwischen eher
nach Binsenweisheit.
Ich halte es mehr für eine Weisheit. Eine, die das Schicksal mit manchen anderen
menschlichen Weisheiten teilt, die es schwer haben sich durchzusetzen, weil es
dazu den Kopf braucht. Schach ist anspruchsvoller, als nur den Mund aufzumachen.
Es setzt Zukunftsdenken voraus. Und schauen Sie sich nur mal an, wie es
heutzutage darum bestellt ist! Hauptsache schneller Gewinn, lautet die Devise,
Konsequenzen werden lieber verdrängt. Beim Schach verliert man mit einem solchen
kurzfristigen Denkansatz. Und der menschliche Fortschritt verliert so auch.
So gesehen ist dieser Fortschritt gerade kräftig am Verlieren?
Sie zielen dabei auf die so genannte Globalisierung ab, auf die Ellenbogen als
Werkzeuge globaler Kurzsichtigkeit: Ja, das ist eine Entwicklung, die der Lust
am Denken, diesem großen Laskerschen Prinzip, zuwiderläuft. Trotzdem bin ich
sicher, dass es sich dabei nur um eine vorübergehende Epoche in der Geschichte
handelt.
Das sieht der Mainstream nicht nur hier zu Lande gänzlich anders. Woher rührt
Ihre Gewissheit?
Ich bin aus meiner Lebenserfahrung heraus fest davon überzeugt, dass eine
Menschheit, die nur das Haifischtum kultivieren und keine anderen sozialen
Bindungen untereinander zulassen will als das Geld, auf Dauer weder
existenzfähig noch vorstellbar ist. Daher meine Zuversicht, dass auch die
Globalisierung gebändigt wird: durch Menschlichkeit, durch Rücksichtnahme, durch
Solidarität. Das sind übrigens die Elemente, die sich in den Wellenbewegungen
der Geschichte letztlich immer wieder behauptet haben.
Sehen Sie sich auch aktuell in Ihrer Zuversicht bestärkt?
Ja, es tauchen zunehmend ernst zu nehmende Stimmen und Zweifel auf, ob diese Art
globaler Kapitalismus, wie er Anfang der 90er Jahre in den USA seinen Ausgang
nahm, eine unabwendbare historische Logik hat. Die Diskussion, was zu tun ist,
um zu zügeln, wird stärker und dringender.
Diskussionen allein werden wenig helfen.
Voraussetzungen für konkrete Schlussfolgerungen. Danach muss allerdings
gehandelt werden. Darauf muss alles abzielen.
Welche konkreten Handlungsräume reifen da Ihrer Meinung nach heran?
Wenn Kapitalbesitzer heute am anderen Ende der Welt ein halbes Prozent mehr
Rendite riechen, können sie ihr gesamtes Geld von einem Tag zum anderen dorthin
transferieren und den Gewinn einstreichen. Völlig unabhängig von den Folgen, die
das für die übrige Menschheit hat. Die Diskussion darüber, wie derartige
ungezügelte Kapitaltransfers zu steuern sind, ist bereits sehr weit
fortgeschritten. Ähnliches gilt für ein anzustrebendes vereinheitlichtes
europäisches Sozialsystem, das auch den hemmungslosen Wettbewerb der
Steuersysteme zügeln muss.
Edzward Reuter mit Matthias Deutschmann bei der Eröffnung der Lasker-Ausstellung
Da werden sich alle Globalisierungsgewinner kräftig dagegen- stemmen. Wie
soll sich, um bei Ihren Worten zu bleiben, Lust am Denken gegen deren Ellenbogen
durchsetzen?
Ich meine, die Antwort darauf ist recht einfach. Die Menschen werden sich
vermehrt und verstärkt wehren gegen eine reine Haifisch-Version des
Kapitalismus. Wir werden das alle miteinander erleben. Zumindest die europäische
soziale Tradition ist viel zu stark, um auf Dauer einfach hinzunehmen, dass
Arbeits- und Ausbildungsplätze künftig durch reine Geldprofite ersetzt werden.
Das heißt: Da ist Denken auch in dem Sinne der Nachdenklichkeit darüber gefragt,
welche Systeme auf Dauer überlebensfähig sind, auch mit Blick auf die
europäische Tradition, in der wir im Gegensatz zur US-amerikanischen stehen.
Solch strategisches Denken mag formal durch Schach zu fördern sein, wird doch
aber vom Zeitgeist völlig konterkariert, oder?
Wissen Sie, ich bin weit davon entfernt, ein uferloser Optimist zu sein. Schon
von meiner Lebenserfahrung her bin ich keineswegs frei von Sorge, dass die
europäische Tradition des Denkens, des Nachdenkens über soziale Zusammenhänge
und Stärke einer Gesellschaft, ins Hintertreffen geraten könnte. Dass
möglicherweise sogar Generationen heranwachsen, denen dieses Denken vollkommen
schnurz ist. Denen in Fleisch und Blut übergeht, dass es immer Versager und
Erfolgreiche gibt und basta. Diese meine Skepsis möchte ich überhaupt nicht
verhehlen. Ich sage nur: Wenn es eine Chance gibt, dann geht sie von Europa aus.
Und ich denke, es gibt genügend Ansätze dafür.
Womit wir wieder beim Schachweltmeister und Multigenie Emanuel Lasker sind.
Bei seinem Prinzip der Logik und Gerechtigkeit, der Lust am Denken, beim
universellen europäischen Geist. Was hat uns ein Mensch wie Lasker, Europäer und
Jude, heute übers Schachspiel hinaus zu sagen?
Ich bin nicht Fachmann genug, um genau einordnen zu können, welche geschichtlichen Entwicklungsstränge mit Emanuel Lasker zu verbinden sind. Er hat ja in einer Zeit gelebt, Ende des 19. Jahrhunderts, die von einer ungeheuren Aufbruchstimmung getragen war. Die Grundgedanken der Aufklärung schienen ohne Vorbehalt die Zukunft für sich zu haben. Wenn es eine Verkörperung dessen gab, da bin ich mir nun wiederum sicher, so ist es ein Mann wie er: Europäer und nicht von ungefähr Deutscher und Jude.
Dr. Emanuel Lasker
Das war er nicht als Einziger, man denke an Stefan Zweig, Siegmund Freud oder
auch Walther Rathenau. Was war das Besondere an Lasker?
Seine universelle Bedeutung, ohne ihn über andere stellen zu wollen. Als
überragender Schachspieler seiner Zeit, als ein hoch gebildeter Mann, natürlich
getragen von seinen mathematischen Neigungen, also ein von Logik beseelter
Mensch, dabei gleichzeitig tief in der europäischen Geisteskultur wurzelnd.
Billigen Sie Schach den Rang eines pädagogischen Elements zu, und wenn ja:
Hätte Schach heute noch eine Chance, dem auch praktisch gerecht zu werden?
Ich glaube ja, in beiderlei Hinsicht. Was den pädagogischen Effekt angeht, so
wäre Schach auch einer Wiederentdeckung der in unserer Zeit verloren gegangenen
Muße dienlich. Ohne sie kann es nämlich weder Lust am Denken, geschweige denn
verantwortungsbewusstes strategisches Denken geben. Als Gegenbeispiele sei nur
auf die Computerspiele und Gameboys verwiesen, mit denen schon den jungen
Menschen die Ruhe des Nachdenkens abgewöhnt und durch hektisches Handeln ersetzt
wird. Schach hätte sehr wohl die Potenz, wieder mehr Nachdenken ins Leben vor
allem junger Menschen zu bringen.
Wie ließe sich dieser Ansatz praktisch stärker befördern?
Ich bin weit davon entfernt, hier etwa der Emanuel-Lasker-Gesellschaft etwas ans
Herz zu legen. Aber langfristig, wenn sie sich weiter so entwickelt und auch das
angestrebte europäische Schachzentrum in Berlin weiter Gestalt annimmt, könnte
sie dahingehend ausstrahlen. Auch mit Anregungen in das Schulwesen, in das
gesamte Ausbildungswesen hinein. Das halte ich als Mitglied dieser Gesellschaft
für erstrebenswert und durchaus auch für realistisch.
Wann haben Sie begonnen, Schach zu spielen?
Ich habe in relativ jungen Jahren von meinem Vater die Grundkenntnisse
mitbekommen. Und das ging dann ganz normal weiter im Spiel mit Altersgefährten,
mit Schachbüchern, mit Nachspielen von Partien. Erst spielerisch, später dann
bewusst, habe ich das als eine fabelhafte geistige Schulung erlebt.
War Ihr Vater, Ernst Reuter, ein guter Schachspieler?
Aus
meiner Sicht schon. Solange er sich das zeitlich leisten konnte, hat er wohl
immer wieder gern gespielt. Wie sich herausstellte sogar im Konzentrationslager
Lichtenburg. Ganz zufällig ist bei einer Aufräumaktion in einem Privathaus bei
Darmstadt unlängst ein Schachbrett mit seinem Namenszug gefunden worden. Und
zwar von der Enkeltochter Wilhelm Leuschners, der auch im KZ Lichtenburg war.
Schach hat also ganz offensichtlich dazu beigetragen, dass die beiden Genossen
und Partner ihre Widerstandsfähigkeit in Situationen größter körperlicher und
geistiger Erniedrigung erhalten konnten.
Hatten Sie selbst in Ihrer beruflichen Karriere Zeit und Muße, um Schach zu
spielen?
Nein, da ging es mir so ähnlich wie mit meinem Türkisch, das ich in der
Emigrationszeit gelernt hatte. Ich hatte später keine Zeit mehr oder besser: Ich
habe sie mir nicht genommen, was mir heute Leid tut. Literatur, Theater und Oper
gingen gerade noch. Und dann mag es auch einfach daran gelegen haben, dass ich
niemanden mehr kannte, der auch gerne Schach gespielt hätte.
Vielleicht deshalb, weil Sie unter den deutschen Top-Managern als Außenseiter
galten: Vater bekannter Sozialdemokrat, Sie selbst SPD-Mitglied, dann noch stark
kultur- und literaturinteressiert?
Wer sagt von sich schon gern, dass er ein Außenseiter gewesen ist. Ich hoffe
vielmehr, dass im Grunde genommen viele wie ich gedacht und gefühlt haben.
Das klingt nach insgeheim vergeistigtem, vielleicht gar noch zartbesaitetem
Managertum. Die heutige Erfahrung ist da allerdings eine andere.
Ich sprach von der Hoffnung, dass Leute im Grunde wie ich dachten und denken.
Die, die heute den Haifisch-Kapitalismus betreiben, sehen Verantwortung offenbar
anders. Dennoch will ich allgemein eine Lanze für historische Lernfähigkeit
brechen. Und konkret auch für viele mittelständische Unternehmer, die wir gar
nicht kennen, vor denen man aber nur den Hut ziehen muss. Unter ihnen gibt es
nämlich Persönlichkeiten, die wahrlich anders denken als die
Globalisierungs-Manager. Manche von ihnen spielen übrigens auch gut Schach.
Interview: Michael Müller