Elista? Nein, danke...
Von Dagobert
Kohlmeyer
Schachpräsident Kirsan Iljumschinow lässt die 16 WM-Kandidaten ab
Pfingstsonntag nicht in einer bekannten Metropole, sondern wieder zu Hause in
seinem großen Steppendorf Elista spielen.

Mit dem Ergebnis, dass kaum ein Schachreporter aus Westeuropa
kommen wird, um über die Qualifikation für Mexiko zu berichten. Dagobert
Kohlmeyer saß diesmal (Freitag vor Pfingsten) nicht mit in der Chartermaschine
der Teilnehmer von Moskau nach Elista. In der folgenden Reportage beschreibt er
seine Gründe, warum er auf die Tour in das bizarrste Land Europas verzichtet.

Schachbegeisterung in Elista
Insgesamt 17 Mal war ich in der Sowjetunion oder Russland. Allein
zehnmal bei Schachturnieren, Weltmeisterschaften oder Olympiaden. Da konnte man
viel sehen und erleben.
Zum ersten Mal betrat ich russisches Territorium im Sommer 1969.
Mit einer Gruppe junger Touristen fuhren wir mit dem Zug 14 Tage lang durch den
Westteil der damaligen Sowjetunion: Vilnius - Pskow - Leningrad - Minsk lautete
die Reiseroute.

Russisches Bauernhaus
Es war schön und erlebnisreich. Ich freute mich, die studierte Sprache anwenden
zu können und das gastfreundliche Volk Russlands persönlich kennen zu lernen. In
den 1970er und 80ern folgten einige Dienstreisen, bei denen ich viel
Interessantes sah und erlebte und meine Kenntnisse von Land und Leuten erweitern
konnte. Nachdem ich Schachreporter geworden war, sah ich die Touren bisweilen
als Hobbyreisen an. Die Zahl der Freunde und Kontakte vergrößerte sich. Ich
erlebte u.a. 1994 den Grand Prix der PCA in Moskau, danach die Schacholympiade
im bitterkalten Dezember des gleichen Jahres. Im Juni 1996 stand das WM-Match
Karpow – Kamsky in Elista an, einige Monate später die Olympiade in Jerewan (es
ging wieder über Moskau), 1998 die Olympiade in Elista, 2001 die Knockout-WM der
FIDE im Kreml und ‚nebenan’ im Säulensaal das merkwürdige Botwinnik-Match
zwischen Kasparow und Kramnik. Ein Jahr danach an gleicher Stelle berichtete ich
von der Niederlage Russlands gegen den Rest der Welt. Trips in das riesige Land
erwiesen sich immer als recht anstrengend, aber man war noch jünger und der
Meinung, die Mühe lohnt sich.
Ende 2004 spielte Garri Kasparow seine letzte Landesmeisterschaft
im Moskauer Hotel „Rossija“, ich war dabei.

Moskau: Basiliuskathedrale
Als der WM-Vereinigungskampf nach langem Hickhack für den Herbst
2006 nach Elista vergeben wurde, machte ich mich wieder auf den Weg. Ich dachte
einfach an meine Leser und fuhr los. Nicht ahnend, wie katastrophal sich die
„historische“ Veranstaltung und die Bedingungen für alle Beteiligten entwickeln
würden. Nach den jüngsten Erlebnissen und Erfahrungen werde ich solche Reisen
ins Ungewisse nicht mehr unternehmen.
Die Mühen der Ebene

Buddhastatue
Vier Mal war ich zwischen 1996 und 2006 in der kalmückischen
Hauptstadt. Die Menschen dort sind freundlich und glauben an Buddha. Das macht
sie zu sympathischen Zeitgenossen. Nicht aber der Hofstaat, der Kirsan
Iljumschinow umgibt und Journalisten oder anderen Besuchern des Landes das Leben
schwer macht. In einer WM-Reportage aus Elista habe ich auf diesem Portal Ende
September schon von der lästigen Anfahrt berichtet. Die Mühen waren jedoch
gering im Vergleich zu denen meines Aufenthalts und der Rücktour.
Das Hotel Elista sieht noch so aus wie vor zehn Jahren, es ist um
keinen Deut wohnlicher geworden – im Gegenteil. Die Angestellten sind mürrisch,
weil unmotiviert, was bei ihrer schlechten Bezahlung nicht verwundert. Die erste
Kammer musste ich ablehnen, sie war eine Zumutung. Der Zimmerpreis pro Nacht
betrug mehr als ein Drittel des durchschnittlichen Monatsgehalts in Kalmückien.
Die schöne Eröffnungsfeier, der spannende WM-Auftakt mit zwei ungewöhnlichen
Partien und noch einige andere positive Erlebnisse ließen mich das Ungemach mehr
oder weniger verschmerzen.

Zuschauer beim WM-Kampf
Nicht aber, was dann auf uns wartete und mich dazu bewog,
vorzeitig die Rückreise anzutreten. Aber der Reihe nach:
Am Sonntag, dem 24. September, vor der zweiten WM-Partie zwischen
Topalow und Kramnik, fliegt noch eine Maschine mit den wichtigsten VIP-Gästen
der Eröffnung nach Moskau zurück. Dann geht nichts mehr. Der Luftverkehr
zwischen Kalmückien und der übrigen Welt wird plötzlich ohne Vorwarnung
eingestellt. Es gibt die verschiedensten Begründungen dafür. Die erste lautet:
Die private Fluggesellschaft hat Probleme mit dem Zoll. Das klingt merkwürdig
und wenig glaubhaft. Die zweite Version, die ich höre, erscheint sehr viel
plausibler: Der kleine Flughafen von Elista genügt schon lange nicht mehr den
notwenigen Sicherheitsstandards. Das kann man aus eigener Erfahrung
unterstreichen. Zum Beispiel ist das Rollfeld für große Maschinen viel zu kurz.
Die dritte und offizielle Version (der hiesigen Regierung) schließlich: Wir
wollen den Flughafen ausbauen, damit der internationale Luftverkehr von und nach
Kalmückien erweitert werden kann. Prima. Der Plan ist nicht ja neu. Aber man
beginnt damit doch nicht mitten in einer Schachweltmeisterschaft, wo viele Gäste
kommen sollen bzw. arbeiten müssen, so wie wir Journalisten! Wie dem auch sei,
während die Partien 3 und 4 über die Bühne gehen, arbeitet der Berichterstatter
ernsthaft an Haupt– und Nebenvarianten, wie er aus der uferlosen Steppe wieder
zurück an den heimischen Herd kommt. Topalow und Kramnik duellieren sich
inzwischen auch außerhalb des Bretts, schreiben Drohbriefe bzw. Proteste
dagegen. Der traurige Psychokrieg, den Silvio Danailow beginnt, als sein
Schützling mit 1:3 zurückliegt, bietet zwar viel Stoff für neue Stories, hält
mich jedoch nicht davon ab, das Weite zu suchen.
Das Büro der kalmückischen Fluggesellschaft, in der gleichen
Straße wie unser Hotel gelegen, ist zwei Tage lang geschlossen. Das Aeroflotbüro
um die Ecke aber hat seinen Schalter stets geöffnet und freut sich über jeden
Kunden. Also kauft der Schachreporter dort seine Rückflugticket nach Moskau.
Nicht von Elista aus, versteht sich. Die Organisatoren bieten zumindest die
„Flucht“ in die „nächste“ Großstadt nach Wolgograd an, das „nur“ 300 km entfernt
ist. Von dort aus kann man weiter in die russische Hauptstadt fliegen.


Mein Flugticket
Sie stellen ein Auto bis Wolgograd. Die Limousine ist aus dem
großen Fuhrpark seiner Exzellenz Kirsan Iljumschinow. Nachdem der holländische
Kollege Dirk Jan ten Geuzendam (New In Chess) schon einige Tage vorher in der
Nacht wegchauffiert wurde, entscheide ich mich für eine Fahrt am Tage.
Ich möchte wenigstens die Steppe sehen und einige Aufnahmen
machen können. Vor zehn Jahren sind wir schon mal mit dem Präsidenten nachts per
Auto durch die Einöde gerast, von Stawropol nach Elista, weil das Flugwetter
keine Landung in der kalmückische Hauptstadt zuließ. Damals konnte man wegen der
Dunkelheit keine Eindrücke sammeln. Es ist ein sonniger Morgen, als wir Elista
mit seinen 120 000 Einwohnern verlassen. Vorbei am geschlossenen Flughafen
hinaus in die Ferne…

Die Steppe in Südrussland ist riesig. Unendliche Weite, wohin das
Auge auch blickt. Eine schnurgerade Straße, die nach Norden führt, goldgelbes
Gras. An vielen Stellen ist es von der Sommersonne verbrannt. Gnadenlose Hitze
flimmerte wochenlang über dem Land. Sie hatten hier im Sommer über 40 Grad im
Schatten. Im Winter waren es hingegen bis zu 35 Grad minus! Extreme
Temperaturschwankungen, die wir bei uns so nicht kennen. Kaum ein Baum oder
Strauch ist zu sehen. Dafür viele Schafherden am Horizont. Dieses Jahr wurde in
Kalmückien eine MiIlion Schafe produziert, erzählt der Fahrer Sergej. Die Leute
lieben Fleisch, sind wie ihre mongolischen Vorfahren Weltmeister im Hammelessen.
Die Steppe zieht sich hin. Sergej kennt die Mühen der Ebene. Und
beinahe jedes Schlagloch auf der Piste nach Wolgograd. Er zählt schon lange
nicht mehr, wie oft er seine Chefs die mehr als 300 Kilometer durch die Einöde
zum Airport nach Wolgograd oder zurück gefahren hat. Hinter uns im Wagen sitzt
Sergejs Tochter, Ökonomiestudentin.
Sie nutzt die Gelegenheit zur Ausfahrt mit ihrem Vater. Die
21-Jährige ist seit einem Jahr mit einem Gewichtheber verheiratet und möchte
später mal im Management einer großen Firma arbeiten. Auf halbem Weg machen wir
Station und trinken einen Kaffee. Etwa alle 30 Kilometer gibt es solche privaten
Tankstellen, wo man auch einkehren kann. Ein Liter Benzin kostet in Russland
derzeit 20 Rubel, das sind etwa 60 Cent.

Fahrer Sergei mit seiner Tochter
Kühe weiden am Rande des Asphalts. Sie laufen auch in aller Ruhe
über die Piste, wenn ein Auto heranrast. Die Tiere wollen zur anderen Seite, wo
das Gras noch nicht abgefressen ist.


Ein Reiter kommt uns entgegen. Kein Kalmücke, eher ein Mann aus
dem Kaukasus. Er hält sein Pferd an, wir haben ein neues Fotomotiv in schöner
Vormittagssonne.

Steppenreiter
Steppe, nichts als Steppe. Wo hört die Ebene auf? Nach einer
leichten Kurve taucht plötzlich vor uns die Grenze zu Russland auf. Keine
richtige, kein Schlagbaum, keine Uniformen. Die Markierungen stehen nur noch
symbolisch dort. Kontrolliert wird auf dem Landweg nicht mehr, die Kalmücken
gehören zu Putins föderalem Reich und sind treue Untertanen. „Bei uns leben fast
90 Nationalitäten friedlich zusammen, vor allem Kalmücken und Russen, aber auch
viele Leute aus dem Kaukasus. Es gibt keine Überfälle oder gar Terroranschläge“,
meint der Fahrer. Das buddhistische Land sei die friedlichste Region in ganz
Russland. Von der Opposition gegen Iljumschinow erzählt er nichts, er chauffiert
ja seit vielen Jahren die Mitglieder der Regierung.
Im Kessel von Stalingrad
Wolgograd kommt näher. Bäume und Sträucher werden mehr. Wir
fahren durch Siedlungen mit typisch russischen Häuschen. So haben sie schon
ausgesehen, als der Zar noch regierte. Es scheint, als sei hier die Zeit stehen
geblieben. Kaum haben wir das Ortsschild passiert sehen wir links auf einem Haus
das Abbild einer Katjuscha.

Die legendäre Wunderwaffe (siehe Foto) trug damals erheblich dazu
bei, dass die Sowjetarmee nicht nur die Schlacht um Stalingrad gewann, sondern
den zweiten Weltkrieg überhaupt. Etwas weiter an einer Brücke hängt ein großes
Transparent, auf dem die drei Namen der Stadt stehen: Zaryzin, Stalingrad,
Wolgograd. Jeder von ihnen markiert eine Epoche der Geschichte.

Der Flughafen ist klein, es gibt nur wenige Hinweisschilder, die
den Weg zum Airport zeigen. Sergej kennt sich gut aus und fährt den kürzesten
Weg. Meine beiden Begleiter bringen mich noch zum Check In, wo eine unangenehme
Überraschung wartet. Die Leute in Uniform machen Theater, weil angeblich ein
Stempel auf meinem Einreisezettel fehlt. Einer verschwindet mit meinem Pass, um
Meldung zu machen. Dann muss ich erst einmal alles Mögliche ablegen und auch
meine Schuhe ausziehen. Sie filzen mich gründlich. Nach der Kleidung kommt das
Notebook an die Reihe, dann die Tasche mit den Digitalkameras sowie der Koffer.
In jede Ecke wird geschaut. Dann erscheint der Mann mit dem Pass wieder. „Wo
waren Sie? Was haben Sie in Elista gemacht?“ Ich sage es ihm. – „Warum fehlt der
Stempel? Das ist eine Verletzung der Gesetze:“ Der junge Soldat ist höchstens
25, führt sich aber auf wie ein alt gedienter Feldwebel. „Ich muss Ihnen eine
Strafe aufbrummen.“ Proteste meinerseits lässt er nicht gelten. „Sie sind nicht
das erste Mal hier und kennen die Regeln!“
Ich verstehe: Ich bin hier im Kessel von Stalingrad. Wütender
Protest hat wohl keinen Sinn. Nach einigen Sekunden sehe ihn an und sage leise:
„Ich dachte, ihr habt inzwischen dazugelernt, wie man friedliche Gäste
behandelt. Es ist nicht meine Schuld, dass ich den Umweg über Wolgograd nehmen
musste.“ Die Zeit drängt, ich muss zum Flugsteig. Nach einigem Hin und her gibt
er den Weg frei und lässt mich passieren. Das wäre geschafft. Nur weg von hier.
Nach knapp zwei Stunden Flug landen wir in Scheremetjevo 1, wo die Inlandflüge
in Moskau ankommen. Mein nächstes Pech: Ich bin zu schnell draußen, mein
Bekannter, ein Schachmeister, jedoch wartet drinnen. Nach dem frischen Erlebnis
in Wolgograd kann und will ich nicht mehr durch die Kontrollen zum Ankunfts-Gate
zurück. Bis wir beide uns finden, geht eine weitere Stunde verloren.

Haus in Wolgograd
„Warum tut man sich das an?“, frage ich mich und beschließe: „Das
war meine letzte Reise nach Elista. Mögen dort künftig noch so wichtige
Schachevents oder andere Spektakel anstehen, ich bleibe zu Hause!“ Ein
Direktflug nach Moskau ist vielleicht noch zu ertragen. Aber dann muss schon ein
Mega-Event stattfinden und der Papst auf dem Roten Platz heiraten…!
Und so wird Ihr Berichterstatter, liebe Leser, zum ersten Mal
seit einem Dutzend Jahren ein Schachevent in Elista von dieser Bedeutung
nicht besuchen. Auch andere Fachkollegen aus Deutschland fahren nicht hin.
Kaum einer aus Westeuropa wird sich auf den Weg in die Steppe machen. Ich betone
ausdrücklich: Dies hat nichts mit dem kalmückischen Volk zu tun, das sich immer
als reizvoller Gastgeber erwies. Die geschilderten Begleitumstände sind es, die
uns alle abschrecken. So wird sich die Berichterstattung über die gewiss
interessanten Kandidatenmatches wohl auf die Internetübertragung der Partien
beschränken. Auch der Guru der russischen Schachjournalistik Alexander Roschal
fehlt in Elista. Der Herausgeber der Moskauer „Schachrundschau - 64“ ist am
Montag gestorben. Adieu Alexander, adieu Elista!