29.10.2018 – Den Großmeistertitel zu gewinnen ist eine Sisyphos-Aufgabe, meint Conrad Schorman in seinem Blog "Perlen vom Bodensee" bei der Betrachtung des Turniers auf der Isle of Man. Dreimal muss man den Stein für den Titel erfolgreich den Berg hinaufrollen. Doch dann fällt er kurz vor dem Ziel oft doch wieder hinunter... | Fotos: John Saunders
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Isle of Man: Vincent Keymer und die keuchenden Sisyphosse
Spielt Vincent Keymer im Grenke Chess Classic 2019? Diese Frage habe ich vor den letzten beiden Runden des Opens auf der Isle of Man per E-Mail Christof Keymer gestellt – und dabei den Begriff „Jagd auf die GM-Norm“ verwendet. Das anhaltende Räuspern auf Seiten des Empfängers angesichts einer derart boulevardesken Formulierung war durch die Glasfaser (Scherz) bis an den Bodensee zu hören. Ruhig bleiben, Schachboulevard! Vincent spiele auf der Isle of Man, um sich im Wettbewerb mit starken Gegnern zu verbessern, nicht, um eine Norm zu jagen, teilte Vater Keymer mit. Nun, da der Wettbewerb beendet ist, dürften Vater, Sohn und Trainer zufrieden ihre Checkliste abhaken. Starke Gegner: check. Verbessert: check. Den Titel „zu jagen“, wäre die grundfalsche Priorität. Der Titel kommt nämlich von alleine zu dem, der an sich arbeitet, sich kontinuierlich verbessert und Wettbewerb mit starken Gegenspielern sucht. Diese Attitüde habe Vincent Keymers Coach Peter Leko seinem Schützling ganz bestimmt geimpft, erklärten am Sonntag im Isle-of-Man-Schachfernsehen Daniel King und Anna Rudolf den Zuschauern, als sie neben der Partie die Perspektive des Wunderknaben aus Mainz beleuchteten.
Die Talentfrage blendeten die beiden Schach-Showmaster aus – im Fall von Vincent Keymer zu Recht, sie stellt sich nicht. Aber was ist mit denen, die zwar auch mit Talent gesegnet sind, viel mehr als der Normalsterbliche sogar, aber eben nur so viel, dass das Ende der Fahnenstange in der Region um 2500 Elo zu verorten ist? Für solche Schachmeister ist Anlauf um Anlauf vonnöten, bis endlich ein so gutes Turnier gelingt, dass die Norm sicher ist. Und davon brauchen sie drei.
Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen, forderte einst Albert Camus (1913-1960): "Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen." Ist klar, Albert. Schachfreund Camus hat zuweilen ziemlichen Blödsinn erzählt.
Als während der achten Runde Vincent Keymer keinen Geringeren als Boris Gelfand auseinanderschraubte, saß er eingerahmt von den mit Talent gesegneten, aber eben nicht begnadeten 2500-IM Elisabeth Pähtz und Ilja Schneider. Schon dem geneigten Beobachter zerriss es das Herz, als diesen beiden keuchenden Recken fast am Ende des Aufstiegs der Felsblock entglitt, kurz bevor sie zum dritten Mal den Gipfel erreicht hatten. Wie es nach ihren Partien um Schachherz und -seele von Pähtz und Schneider bestellt war, wir vermögen uns das nicht auszumalen.
Schach ist zuweilen ein brutaler Sport, und aus deutscher Sicht war speziell diese achte Runde reich an Dramen. Das schachlich intensivste, das nur am Rande, weil es bislang niemand erwähnt hat, spielte sich am Brett von Dennis Wagner ab. Dessen Weißpartie gegen Emil Sutovskys Königsinder gehörte zu den spektakulärsten des Turniers, vielleicht war sie die spektakulärste. Allemal gehört sie verewigt, deswegen werden wir sie bei Gelegenheit kommentiert nachreichen. Eventuell zeigen wir Rasmus Svanes Achtrundenpartie gegen Vidit noch dazu, eine verdiente Niederlage zwar, aber eine couragiert vorgetragene, die Mut macht, dass Svane 2.0 im Jahr 2019 die 2600 deutlich hinter sich lässt.
Mit zwei hart erkämpften Unentschieden gegen die 2700-GM Gelfand und Howell hatte Elisabeth Pähtz ein treffliches Zwischenlager bezogen, um von dort aus ein drittes und letztes Mal den Normgipfel zu erklimmen. Ein Punkt aus den letzten beiden Partien würde genügen, und für die folgende Weißpartie teilte ihr der Loscomputer als hochzurollenden Felsbrocken den Israeli Nabaty zu. Der hat zwar 2690 Elo, neigt aber zu übertriebenem Experimentalschach, und mit genau solchem konfrontierte er die Deutsche. Die schnürte ihn ein, ging seinem unter Atemnot leidenden Monarchen an den Kragen – dann ein Kurzschluss in Zeitnot, die Partie war verdorben und die Norm fast futsch. Nun würde sie in der letzten Runde einen Schwarzsieg brauchen. Der wäre sogar knapp gelungen, aber der Gegner vermochte in einem schwierigen Endspiel den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Eingerahmt von den Sisyphossen: Während Vincent Keymer Boris Gelfand auseinanderschraubte, entglitt Elisabeth Pähtz und Ilja Schneider (nicht im Bild, aber die Flagge vorne rechts gehört zu ihm) der Felsblock, als sie ihn schon fast zum dritten Mal den Hang hinaufgerollt hatten. Foto: John Saunders/Turnierseite
Ilja Schneider brauchte mit Schwarz gegen 2700-GM Le Quang Liem mindestens ein Remis, um die Normchance zu wahren. Leider stand er sehr bald sehr schlecht, fast noch schlechter als nebenan Nabaty gegen Pähtz. Wir wissen nicht genau, was dann passiert ist, weil wir stattdessen lieber Wagner, Keymer, Svane und Pähtz zugeschaut haben. Aber Schneider schien seine Ruine zäh verteidigt haben, lebte plötzlich wieder – und dann streckte auch ihn ein taktischer Kurzschluss nieder. Zur neunten Runde trat der Schachblogger im Vorruhestand nicht mehr an.
Schacholympia-Held Daniel Fridman war als geteilter Sechster der beste Deutsche und durfte sich ein Stückchen vom 140.000-Pfund-Preiskuchen abschneiden. Die Herren Donchenko, Svane und Huschenbeth sind als geteilte 25. in bester Gesellschaft: Aronian, Kramnik, Anand, Nakamura.
In dieser letzten Runde schulterte in erster Linie Vincent Keymer die Normhoffnungen der deutschen Delegation. Nur war Keymer ja vor allem auf die Insel gereist, um mit starken Leuten zu kämpfen, und da geriet er zum Finale des Turniers mit Emil Sutovsky an den Richtigen. Der Israeli ist nicht der beste, aber einer der gefährlichsten Spieler im Schachzirkus. Sutovsky mit seinem hochriskanten Stil kann jeden ausknocken, wenn er nur Initiative findet.
Nicht jeder, der noch einen halben Punkt für die GM-Norm braucht, würde gegen so jemanden einen Najdorf-Sizilianer aufs Brett bringen. Keymer schon. Die beiden zelebrierten die Bauernraub-Variante mit …h6. Während Keymer Sutowskys Bauern einsammelte, fahndete der nach Wegen, zum König seines Gegners durchzudringen. Die lange Zeit gänzlich unklare Angelegenheit wendete sich schließlich zugunsten des Israeli, der ein vorteilhaftes Endspiel sicher gewann.
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Ob Vincent Keymer das Grenke Chess Classic 2019 spielt? "Es gibt noch keine Entscheidung", teilt Christof Keymer mit. Wir verstehen das Zögern. Der Rummel, der Druck, die Spitzenklasse der Gegenspieler. Wir ahnen gleichwohl, wie die Entscheidung aussehen wird, wann immer sie fallen mag. Vincent Keymer ist Schachspieler, einer, der den Kampf mit starken Gegnern sucht noch dazu. Nicht einmal Albert Camus könnte sich Keymer als glücklichen Menschen vorstellen, wenn er Carlsen & Co. zuschauen muss, obwohl er mitspielen dürfte.
Conrad SchormannConrad Schormann, gelernter Tageszeitungsredakteur, betreibt in Überlingen am Bodensee ein Büro für Redaktion und Kommunikation. Fürs Schachspielen hat er zu wenig Zeit, was auch daran liegt, dass er so gerne darüber schreibt, sei es für Chessbase, im Reddit-Schachforum oder für sein Schach-Lehrblog Perlen vom Bodensee...
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