Einer der mysteriösesten Spieler der Schachgeschichte
ist der aus
dem heute zu Pakistan gehörenden Teil von Punjab stammende Inder Mir Sultan
Khan. Im Jahr 1929 kam er im Gefolge von Sir Umar Hayat Khan nach England.
Sultan Khan war Angestellter von Sir Umar Hayat Khan, möglicherweise auch dessen
Leibeigner. Reuben Fine berichtete, dass es
Sultan Khans Aufgabe war, als Kellner das Essen während der Mahlzeiten zum Tisch
zu bringen.
Obwohl er keinerlei Ausbildung genossen hatte, war er
einer der stärksten Schachspieler seiner Zeit. Er gewann die britischen
Meisterschaften 1929, 1932 und 1933 und spielte auf drei Schacholympiaden am
ersten Brett für England. In einem Wettkampf schlug er 1931 in Semmering Dr. Saviely Tartakovar mit 6,5:5,5.
Im Turnier zu Hastings 1930/31 hatte er u.a. gegen Capablanca gewonnen. Gemäß
Chessmetrics war Sultan Khan 1932 die Nummer 11 der Weltrangliste (Elo
2592*). Offenbar war Sultan Khan bevor er nach England kam schon ein sehr
versierter Spieler einer indischen Version des Schachs, die sich aber nur wenig
vom westlichen Schach unterschied.
Worcester, 1931, sitzend: Mir Sultan Khan
(1905-1966), Theodore H. Tylor (1900-1968). Stehend: Sir George Thomas (links
außen) (1881-1972) (far left), Arthur J Mackenzie (1871-1949) (rechts außen).
Foto: British Chess Magazine
Als sein Arbeitgeber (Herr) England nach vier Jahren wieder verließ, nahm er
auch Sultan Khan mit sich. Von da an verliert sich die Spur eines der besten
Schachspieler jener Zeit völlig. Später wurden noch einige Gerüchte kolportiert. So soll er
angeblich als Opernsänger im südafrikanischen Durban gesehen worden sein.
In "Chess" wurde 1966 ein Leserbrief veröffentlicht, in dem Mohammed Yusuf aus
Lahore, West Pakistan schreibt: "Ich kenne Sultan Khan seit 1918. Er lebt als
kleiner Grundbesitzer im Sargodha District im alten Punjab. Der Grund für sein
Verschwinden aus der Schachwelt liegt darin, dass sein Patron, der Malik Sir
Umar Hayat Kham Tiwana 1941 gestorben ist. Seitdem gab es keine große
Möglichkeit, die überall im Land verstreut lebenden Spieler zu treffen. Außerdem
ist es allgemein bekannt, dass die Englisch-Kenntnisse von Sultan Khan seine
Fähigkeiten ein Notationsformular zu lesen kaum übertrafen. Der Sekretär des
verstorbenen Sir Umar half ihm gewöhnlich dabei, Partieaufzeichnunegn zu lesen.
Heute hat er niemanden, der ihm dabei helfen könnte, sich mit Schach zu
beschäftigen. Aber dennoch ist er sicher immer noch der beste Spieler Pakistans,
wahrscheinlich auch Indiens. Er ist ein Genie."
André Schulz/15.Mai 2003
Auf der CD "100 Jahre Schach" wurde folgende Biografie von Sultan Khan
veröffentlicht:
Eine legendäre Gestalt der Schachgeschichte ist
der in Punjab, Indien (heute Pakistan), geborene Sultan Khan. Im Jahre 1929 kam
er das erste Mal nach Europa, wurde in Ramsgate auf Anhieb britischer Meister,
zeigte sich aber den englischen Spitzenkräften Winter und Yates noch nicht
gewachsen. Als er im Mai 1930 erneut in Europa erschien, war er schon stark
genug, in Scarborough hinter Colle, Maroczy und Rubinstein den vierten Platz und
in Liege hinter Tartakower, aber vor Nimzowitsch, Rubinstein und Marshall den
zweiten Platz zu erringen. Ende 1933 kehrte er (inzwischen dreifacher englischer
Meister), ohne sich je wieder auf der internationalen Schachszene sehen zu
lassen, in sein Dorf nahe seines Geburtsortes Mittha Tawana zurück, wo er, wie
ein Besucher im Jahre 1958 zu berichten wusste, 'im Schatten eines Baumes seine
"hookah" rauchte, mit den Nachbarn ein Schwätzchen hielt, während die Frauen die
Arbeit verrichteten.'
Der Reiz des Außergewöhnlichen, den diese fremdartige, turbantragende Gestalt
ausübte, wurde ähnlich wie bei Morphy und Fischer durch das plötzliche Ende der
Karriere ausgelöst, das beim Publikum das Gefühl hinterließ, auf Grund
tragischer Umstände um die letzte Sensation, auf die es so sehr gehofft hatte,
betrogen worden zu sein. Günstig für Sultan Khans Image wirkte sich auch sein
Sprachmangel aus; denn da er keiner europäischen Sprache mächtig war, sie weder
lesen noch schreiben konnte, wurde der Eindruck des natürlichen Genies nicht
verdeckt durch das Bild eines Mannes, der durch schnöden Fleiß seine Erfolge
vorbereitet hatte. Gerade das imponierte einem Manne wie Capablanca, der unseren
Helden mit dem Adelstitel 'Genie' schmückte, obwohl der große Kubaner es doch
gewöhnlich vorzog, lieber sich selbst als seine Konkurrenten zu loben - oder sah
er in Sultan Khan gar keinen ernsthaften Konkurrenten? Die einzige Turnierpartie
zwischen beiden Spielern, die am Sylvesterabend 1930 in Hastings gespielt wurde,
führte zur 25. von insgesamt 36 Niederlagen, die Capablanca in seiner gesamten
Karriere erlitt.