„Sehr schön, dass die ganze Spitze mitmischt“
Deutsche Schach-Meisterschaft kehrt nach 125 Jahren Abstinenz nach München zurück / „Jagd“ auf Topfavorit Keymer
Von Hartmut Metz
Die letzte deutsche Schach-Meisterschaft in München hat im Jahr 1900 stattgefunden. „Ich konnte es kaum glauben, als ich das hörte“, unterstreicht Großmeister Gerald Hertneck. Vor 125 Jahren teilten sich Carl Schlechter und die amerikanische Legende Harry Pillsbury nach Play-offs den ersten Platz mit jeweils neun Siegen und sechs Remis. Der Ungar Geza Maroczy holte als Dritter bei dem Wettbewerb, an dem anfangs seit 1879 auch Ausländer mitspielen durften ebenfalls 12:3 Punkte. Um diesem Missstand in der Schach-Metropole mit zwei Erstliga-Teams Abhilfe zu schaffen zog Richard Holzberger als erfahrener Organisator des Münchner Schachfestivals die 96. nationale Meisterschaft an Land.
„Alle anderen werden mich jagen“
Die Veranstaltung vom 15. bis 23. Mai (täglich ab 14 Uhr) in der Fat Cat GmbH (ehemals Gasteig),
Rosenheimer Straße 5, wird auch dank Mitorganisator Hertneck zu einem Höhepunkt. Der Leistungssportreferent des Deutschen Schachbundes (DSB) freut sich auf eine Topbesetzung des zehnköpfigen Männerfelds. „Das wird ein richtig herausforderndes Turnier mit Duellen gegen andere Spitzenspieler. Das ist zum ersten Mal, dass wirklich alle deutschen Nationalspieler um den Titel kämpfen“, bestätigt ihn Vincent Keymer in einer Pressemitteilung des DSB.

Rasmus Svane (links) und Topfavorit Vincent Keymer messen sich nach Ostern in Karlsruhe erneut in München auf den 64 Feldern.
Die große deutsche Nachwuchshoffnung war 2024 bis auf Platz zwölf in der Weltrangliste geklettert. Aktuell steht der 20-Jährige von der OSG Baden-Baden auf Rang 25. Entsprechend sehen seine Hauptkonkurrenten Keymer als Topfavoriten im Kampf um die 5.000 Euro für den Sieger. „Ich fahre nach München, um das Turnier zu gewinnen“, kündigt die deutsche Nummer eins an, die weiß: „Alle anderen werden mich jagen“.
Europameister Blübaum rechnet sich „auch Chancen aus“
Denn Matthias Blübaum (SF Deizisau) und die Brüder Rasmus und Frederik Svane (beide Hamburger SK) müssen sich nicht sonderlich verstecken vor dem „Favoriten“, wie das Terzett unisono sagt.

Derr zweifache Europameister Matthias Blübaum traut sich in München den Griff nach dem Titel zu.
Der frisch gebackene Europameister Blübaum, der zum zweiten Mal diesen Titel eroberte, findet es „natürlich sehr schön, dass die DM dieses Jahr sehr stark besetzt ist und bis auf Titelverteidiger Dmitrij Kollars die gesamte deutsche Spitze mitmischt. Trotz Vincent rechne ich mir auch durchaus Chancen auf den Turniersieg aus. Es ist aber nicht einfach“, unterstreicht der 28-jährige Lemgoer.
Ausgerechnet einer fehlt aus der deutschen 2600er-Riege
In dasselbe Horn stoßen die Svane-Brüder: „Die deutsche Meisterschaft ist in diesem Jahr besonders stark besetzt und wird eine große Herausforderung für alle werden. Bei einem so stark besetzten Turnier kann man nicht damit rechnen, ganz vorne zu landen, deswegen konzentrieren wir uns nur auf die nächste Partie und schauen dann, was möglich ist. Es wäre für uns aber auch keine große Überraschung, falls einer der anderen 2600er das Turnier vor Vincent gewinnen sollte.“ Neben Frederik (2671 Elo) und Rasmus Svane (2629), Blübaum (2660) und Keymer (2720) liegen zudem drei weitere Großmeister über der Schwelle: der Viernheimer Dennis Wagner (2616), der Baden-Badener Alexander Donchenko (2615) und Niclas Huschenbeth (2601). Der Vorjahreszweite aus Hamburg gewann bereits 2010 und 2019 den nationalen Titel. Aus der Achter-Riege mit über 2600 Elo fehlt ausgerechnet nur Meister Kollars (2625), der heuer an Position fünf gesetzt wäre.
Der Titelverteidiger erläuterte seine Verzicht schweren Herzens gegenüber ChessBase: „Der Grund für meine Absage bei der DM war die Möglichkeit, am Stepan Avagyan Memorial in Armenien teilzunehmen. Es war eine schwierige Entscheidung, aber ich wollte die Gelegenheit nutzen, auf mehrere Topspieler zu treffen“, betonte Kollars. In Jermuk kann sich der deutsche Meister ab 28. Mai mit den indischen Assen Praggnanandhaa Rameshbabu (2760) und Aravindh Chithambaram VR (2726) messen. Kollars ist in dem stark besetzten Zehnerfeld (Elo-Schnitt: 2667) an Position fünf gesetzt.
17-jähriger Costa durchaus im Zehnerfeld zu beachten
Aber auch Martin Krämer (2581) vom SC Heimbach-Weis/Neuwied kann jedem gefährlich werden.
In dem Turnier der Kategorie 15 (Elo-Durchschnitt: 2603) fällt nur der Zweite des letzten Kandidatenturniers, Marco Dobrikov (Viernheim), mit seinen 2404 Elo deutlich ab.

Gefährlicher Außenseiter: Ex-Meister Leonardo Costa spielte im A-Open in Karlsruhe bis zum Schluss um den Turniersieg mit.
Leonardo Costa (2531) wird dagegen gewiss nicht von den Rivalen in der Fat Cat GmbH unterschätzt. Der vierte Teilnehmer des Hamburger SK, der im Vorjahr noch für den Münchener SC 1836 in der zweiten Liga stolze 8/9 einfuhr, ist ein aufstrebender Stern. Allein 2025 legte der 17-Jährige bereits 35 Elo zu. Beim A-Open in Karlsruhe büßte das Talent erst mit seiner Niederlage gegen Ivan Saric in der Schlussrunde seine Chancen auf den Turniersieg ein. Außerdem war Costa bereits als Jugendlicher 2022 mit 7/9 deutscher Meister der Herren! Allerdings mit dem kleinen Makel, dass die Besten in Magdeburg damals gleichzeitig im German Masters einen Sieger ausspielten.
„Schwierig“ gegen Bruder und Geburtstagskind Rasmus Svane zu spielen

Frederik Svane trumpfte zuletzt groß auf: Erst wurde der 21-Jährige Vizeeuropameister, danach räumte er in Karlsruhe hinter Überspieler Magnus Carlsen im Chess960 22.000 Euro Preisgeld ab.
Für die beiden Söhne des Lübecker Cellisten Troels Svane gibt es laut Frederik eine weitere „große Herausforderung“ in der Isar-Metropole: Der 21-Jährige findet „es psychologisch als auch spielerisch schwierig, gegen Rasmus zu spielen“! Ein schnelles Remis mit dem älteren Bruder, der während des Turniers am 21. Mai seinen 28. Geburtstag feiert, um den Familienfrieden zu wahren, schließen die Brüder aus. „Ich bin gespannt darauf, was wir auf das Brett zaubern werden. Wir kämpfen die Partien immer aus. Das dürfte in München nicht anders sein“, sagt Frederik Svane. Der Vize-Europameister und Gewinner von mehr als 22.000 Euro Preisgeld an Ostern beim Chess960-Topevent in Karlsruhe, das Dominator Magnus Carlsen fulminant mit 9/9 gewann, verweist dabei auf zwei frühere Brüder-Duelle bei den German Masters, „insofern wird es jetzt keine ganz neue Erfahrung für uns sein“.
Dinara Wagner ohne Pähtz in der Favoritenrolle
Bei den Frauen geht es im zeitgleichen Meisterturnier bis zum 23. Mai um 11.400 Euro. Die Siegerin erhält 3.200 Euro. Die Erfurter Spitzenspielerin Elisabeth Pähtz tritt deshalb laut Leistungssportreferent Hertneck nicht an, weil sie generell „gleiche Bezahlung“ für beide Geschlechter fordert. Das Preisgeld entspricht bei den Frauen nicht dem der Männer und liegt in Summe knapp 6.000 Euro niedriger. So gilt Dinara Wagner (SC Viernheim) als erste Titelanwärterin vor der ehemaligen Ukrainerin Kateryna Dolzhykova (SV Oberursel) und Lara Schulze (Werder Bremen), die im Vorjahr die Plätze zwei und drei belegten. Die Kandidatenturniere, in denen Männer wie Frauen die Aufsteiger für 2026 ermitteln und den Gesamtpreisfonds in München gen 50.000 Euro treiben, gehen jeweils über sieben Runden. Den größten Batzen als Sponsoren steuerte neben der UKA von IM Gernot Gauglitz außerdem Roman Krulich bei. Er ist auch Unterstützer der Münchner Schachakademie (MSA) Zugzwang. Entsprechend findet die offizielle Eröffnung der Meisterschaften am Mittwoch, 14. Mai, um 18.30 Uhr in der Münchner Schachakademie statt.
Rahmenprogramm sorgt für ein „echtes Schachfestival“
Im Veranstaltungszentrum Fat Cat bieten die Macher um Hertneck, der vor Kurzem als Topscorer die Bundesliga-Rückkehr der MSA Zugzwang ermöglichte, dem Publikum noch viel mehr als die vier Top-Wettbewerbe. Das bunte Rahmenprogramm mache diese deutschen Meisterschaften „zu einem echten Schachfestival, bei dem für jeden etwas dabei ist“, befindet DSB-Präsidentin Ingrid Lauterbach laut DSB-Mitteilung. Hobbyspieler können sich ebenso messen: etwa in einem offenen Blitz-, einem Chess960-Schnellturnier oder gar einem Problemschachlöse-Wettbewerb. Zudem gibt MSA-Großmeister Pawel Eljanow (Ukraine) ein Simultan an 20 Brettern. Ein Symposium zur Münchner Schachlegende Wolfgang Unzicker, der heuer 100 Jahre alt geworden wäre, und ein Round-Table-Gespräch zum kürzlich verstorbenen Robert Hübner sind für Schachkultur-Interessierte ein Muss. Der ehemalige WM-Kandidat Hübner spielte wie Hertneck in den 90er Jahren für den FC Bayern München und trug zur damaligen Bundesliga-Dominanz bei. Sehenswerte Bilder zeigt außerdem die Ausstellung „Capture“ des Schach-Fotografen Stev Bonhage.