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Vor zehn Jahren schaute die Schachwelt in ein kleines Land am Persischen Golf, um eines der spannendsten Kapitel des Kampfes zwischen Mensch und Maschine zu verfolgen. Dort fand nach einjähriger Wartezeit im Oktober 2002 im Golfstaat Bahrain das Match zwischen Wladimir Kramnik und dem Schachprogramm „Deep Fritz“ statt.
Manama
Die Terroranschläge des 11. September 2001 hatten eine zweimalige Verschiebung seines Kampfes gegen das Schachprogramm mit sich gebracht. Dann wurde er endlich Realität. Nicht nur im Königreich fieberte man dem ungewöhnlichen Duell mit Spannung entgegen. Die ganze Schachszene schaute gebannt zu. Hier meine Erinnerungen an die Reise, die wie ein Märchen aus tausend und einer Nacht anmutete.
Die große Moschee
Präludium
Am Potsdamer Platz in Berlin residiert Bahrains Botschafter in Deutschland, Adel Sater. Eine gute Adresse, um Informationen über Land und Leute aus erster Hand zu erhalten. Wir interessieren uns vor allem für den Sport.
Sater nennt die beliebtesten Disziplinen in seinem Land: „Fußball ist klar die Nummer eins. Danach rangieren Volleyball, Basketball, Hockey und Tennis. Pferderennen haben in Bahrain eine lange Tradition. Jetzt aber wird die ganze Welt auf das Duell ‚Mensch gegen Maschine’ schauen.“
Der Diplomat verweist auf den Schachverband des Eilands, der regelmäßig an Olympiaden teilnimmt. In Bled waren sie 2002 auch dabei. Es gibt in Bahrain viele prominente Anhänger des königlichen Spiels. Ex-Minister Yousif Al Shirawi hat das Match zwischen Kramnik und dem Computer in Manama mit organisiert. Der 75-Jährige war jeden Tag unter den Zuschauern im Mind Sports Center.
Die Sport-Ambitionen des ehrgeizigen Golfstaates gehen noch viel weiter: „Wir bauen eine moderne Auto-Piste. Im Jahre 2004 kann das erste Formel-1-Rennen in Bahrain stattfinden“, sagt Botschafter Sater im Brustton der Überzeugung. Es wird eine Premiere für den gesamten Nahen Osten sein, genau wie das bevorstehende Schach-Ereignis.
„Kann das wahr sein?“, denke ich. „Bahrain und Formel 1?“ Vor Ort will ich mich davon überzeugen.
Das Spektakel, zu dem ich unterwegs bin, heißt „Brains in Bahrain“, von der Einstein Group aus England vermarktet. Das Unternehmen hatte zuvor von Braingames die Rechte an Kramniks schachlichen Aktivitäten, inklusive WM-Kämpfe bis 2005, erworben. Das alles ist Geschichte.
Begeben wir uns nun auf eine interessante Reise in das kleine Reich im Mittleren Osten, dessen König Hamad bin Isa Al Khalifa bereit war, eine Million US-Dollar für das Schachspektakel auszugeben.
Auf dem Weg nach Bahrain treffe ich in London-Heathrow Frederic Friedel von ChessBase, GM Raymond Keene, IM Malcolm Pein und noch einige andere Engländer. Sie sind in unterschiedlicher Mission unterwegs: als Teammitglied, Schachjournalist oder Berater. Die Anstrengungen des Nachfluges werden durch den ausgezeichneten Service von Gulf Air sehr viel erträglicher. Nach knapp sieben Stunden landen wir wohlbehalten in Bahrains Hauptstadt Manama. Wir berappen am Flughafen jeder 15 Dollar für das Einreisvisum und begeben uns ins Gulf Hotel. Viel Zeit bleibt nicht, sich zu akklimatisieren, am Nachmittag des 2. Oktober ist die Eröffnungszeremonie.
Wir machen uns rechtzeitig auf den Weg zur großen Feier. Sie wird im „Royal Meridian“, dem nobelsten Hotel der Stadt, ausgerichtet. Der König selbst ist verhindert, er empfängt an diesem Tag hohe Staatsgäste. Aber Kronprinz Salman verleiht der Eröffnung den entsprechenden Glanz. Einige hundert festlich gekleidete Gäste nehmen im wunderschönen Garten neben dem Hotel Platz. Uns Europäern machen die knapp 40 Grad im Schatten sehr zu schaffen, aber die Zeremonie ist es wert. Als der Kronprinz erscheint, erheben sich alle von ihren Plätzen. Die Nationalhymne Bahrains erklingt. Danach tritt ein Kinderballett auf. In Schachkostümen tanzen die Mädchen und Jungen zu modernen Klängen auf einem riesigen Brett, direkt vor den Augen seiner Hoheit.
Kramnik, der Kronprinz und Friedel
Es folgen drei Reden. Sie sind erfreulich kurz. Scheich Mohammed, der zur königlichen Familie gehört und Chef des Organisationskomitees für das Match ist, drückt die Freude seines Landes aus, ein solches Schachereignis auszurichten. Er verweist nicht ohne Stolz auf andere ehrgeizige Sportvorhaben Bahrains. Sie bauen tatsächlich eine moderne Autopiste und wollen 2004 das erste Formel-1-Rennen im Nahen Osten veranstalten.
Wladimir Kramnik tritt nach ihm ans Mikrofon und zeigt sich angetan vom Zauber der Stadt Manama. Der Weltmeister dankt dem Königshaus für die Einladung zu diesem Match. Er zitiert den früheren Weltmeister Max Euwe, der den Satz vom intelligenten Spiel aus einem intelligenten Land für die intelligente Menschheit geprägt hatte. Dortmund und Wladimirs anwesender Betreuer Carsten Hensel lassen aus diesen Worten grüßen.
Frederic Friedel, der für das Fritz-Team spricht, verweist auf die Leistungen der Araber in Mathematik und Algebra sowie auf die Tatsache, dass das Schachspiel vor mehr als tausend Jahren über den Mittleren Osten nach Europa kam. Der Hamburger dankt dem Königshaus ebenfalls für die Ausrichtung des spektakulären Ereignisses.
Dann kommt der Höhepunkt, die Farbauslosung durch den Kronprinz. Scheich Salman bin Hamad Al Khalifa lässt zwei Falken aus seiner einzigartigen Zucht auf die Bühne schweben. Die edlen Tiere sollen die Farben für die erste Partie bestimmen. Weil der Kramnik zugedachte dunkle Falke als erster erscheint, führt der Russe im Auftaktspiel am Freitag die schwarzen Steine. Der helle Falke für das Computerteam beschert „Fritz“ den Vorteil der weißen Figuren.
Der Prinz spricht noch eine Weile mit den beiden Protagonisten auf der Bühne. Beim Fotografieren höre ich, wie er Kramnik und Friedel in seine Residenz einlädt. "Irgendwann einmal am Abend, wenn Sie Zeit haben", sagt er.
Beide Teams denken aber jetzt erst einmal an das Match. Bei dem Acht-Partien-Duell geht es nicht nur um die Million US-Dollar Preisgeld, sondern um sehr viel Prestige. Die Kardinalfrage lautet, ob der Mensch in der Lage ist, dem hochgerüsteten Computer noch einmal Paroli zu bieten. Der mit acht Prozessoren bestückte Rechner, auf dem Deep Fritz läuft, schafft 3,5 Millionen Operationen pro Sekunde. Dagegen kann Kramnik nur seine Intuition und schachliche Kreativität setzen. Vor fünf Jahren war dessen Landsmann und Vorgänger Garri Kasparow am legendären „Deep Blue“ gescheitert, weil er im letzten Spiel die Nerven verlor und eine verhältnismäßig einfache Antwort des IBM-Monsters übersah.
Kramnik wird von den Experten als psychisch stabiler angesehen. Dennoch zeigt der Russe sich bei der Pressekonferenz vor dem Auftaktspiel nur verhalten optimistisch. „Ich habe mich gewissenhaft vorbereitet, aber viel Respekt vor der Rechenpower meines Gegners.“ Computer-Guru Friedel betont, sein Team habe immer von diesem Kampf gegen den amtierenden Weltmeister im klassischen Schach geträumt. „Wir wären hoch zufrieden, wenn der Kampf 4:4 endet.“
Seit Freitag, dem 4. Oktober, 15 Uhr Ortszeit sprechen im Mind Sports Center von Bahrains Hauptstadt Manama die Figuren. Kramnik und der Fritz-Operator Matthias Feist sitzen in einem ganz kleinen Raum in der 1. Etage, um nicht gestört zu werden. Das Zimmer ist klimatisiert, denn draußen herrschen 38 Grad. An manchen Tagen beschlägt Kramniks Brille, wenn er aus dem Raum tritt. Das Spiel wird auf Monitoren im Innenhof des Mind Sports Centers übertragen. Vor Ort kommentieren die englischen Großmeister Nigel Short, Danny King und IM Malcolm Pein die Partien für die Zuschauer. Später stößt Julian Hodgson dazu. Jeden Tag kommen illustre Gäste: Mitglieder des Königshauses, Minister und Diplomaten. Auch die Botschafter Deutschlands und Russlands in Bahrain sehen sich einige Spiele an.
Das Auftaktspiel endet nach 28 Zügen remis. Kramnik wählt die Berliner Verteidigung, die ihm schon beim WM-Match 2000 in London gegen Kasparow so gute Dienste geleistet hatte. Nach der Partie sagt der Champion, dass die Stellung vorwiegend im Gleichgewicht war und keine Seite reelle Gewinnaussichten hatte. Nach dem Turmtausch wäre es total remis gewesen. Dennoch sei es gefährlich, sich in einer vermeintlich einfachen Position in Sicherheit zu wiegen. Man müsse gegen den Computer immer auf Überraschungen gefasst sein.
Mit Weiß will Kramnik in der zweiten Partie mehr Druck machen und den Erfolg suchen.
Was ihm auch prompt gelingt. Am nächsten Spieltag schiebt der Russe Deep Fritz in einem angenommenen Damengambit nach allen Regeln der Kunst zusammen. Nach fünfeinhalb Stunden und filigranen Manövern Wladimirs im Turmendspiel kapituliert Fritz. Nigel Short sagte hier in Bahrain vor dem Match viele Remis voraus. Er liegt damit, wie sich noch herausstellen sollte, ziemlich daneben.
Gespielt wird jeden zweiten Tag. Das Duell zwischen Hirnzellen und Mikrochips verfolgen Millionen Schachfans auf der ganzen Welt im Internet.
Zwischen den Zügen geht Kramnik in seinen Ruheraum. Der ist viel größer als das Zimmer, in dem er sich mit dem schweigsamen Fritz duelliert.
Bequeme Ledercouch, viel Licht und Unmengen an Obst (siehe Foto). Der Tisch biegt sich unter der Last von kulinarischen Genüssen. Kein Mensch kann das während einer Partie zu sich nehmen.
Wladimir Kramnik hat heute Schwarz. Und er gewinnt auch die dritte Partie gegen seinen stummen Widerpart! Im Gesamtklassement führt der Champion jetzt bereits mit 2,5:0,5 Punkten. Bahnt sich ein Desaster für den Computer an?
Deep Fritz versuchte, den Menschen mit der Schottischen Eröffnung zu überraschen. Der Weltmeister erweist sich jedoch als voll auf der Höhe und kann die Stellung schnell ausgleichen. Im Mittelspiel leistet sich das Schachprogramm einen schwachen Bauernzug, wonach Kramnik die Initiative auf dem Brett übernimmt. Der Russe gewinnt einen Bauern und besetzt mit seinen beiden Türmen die offenen Linien im Zentrum. Die Maschine kommt wie schon im zweiten Durchgang in Zugzwang und kann nicht verhindern, dass ihre Position sich immer mehr verschlechtert. Resignierend quittiert Fritz-Programmierer Matthias Feist darum die zweite Niederlage.
Großmeister Danny King, der vor Ort für Einstein-TV als Kommentator arbeitet, zeigt sich begeistert vom Champion: „Kramniks Vorbereitung war Weltklasse. Er hat Fritz einer Gehirnwäsche unterzogen.“
Unzufrieden dagegen äußert sich der Holländer Frans Morsch, einer der Fritz-Väter: „Es ist ärgerlich, dass wir bisher ausnahmslos Stellungen aufs Brett bekamen, die Kramnik sich gewünscht hat. Wir müssen jetzt einen Weg finden, ihn aus seinen Eröffnungen herauszulocken.“
Die nächste Gelegenheit dazu ist am vierten Spieltag. Das Damengambit auf dem Brett endet nach vier Stunden remis. Fritz nimmt es diesmal nicht an, sondern wählt die Tarrasch-Verteidigung. Wladimir gewinnt nach strategisch klugem Spiel einen Bauern. Der Vorteil reicht aber nicht zum Sieg. Im Turmendspiel verteidigt sich der Rechner ganz präzise, so dass der Mensch nach 41 Zügen die Friedenspfeife herausholt. Bei diesem komfortablen Vorsprung verständlich. Danks seines Doppelschlages in der 2. und 3. Partie führt Kramnik zur Halbzeit mit 3:1 Punkten. Eine dicke Überraschung.
Ein paar Tage später. Nach dem Springeropfer des Menschen auf dem Feld f7 kippt das Match. Wladimir Kramniks Mut hat sich nicht ausgezahlt. Der russische Weltmeister reflektiert den verrückten Ablauf des Spiels, als er vom Brett aufsteht, das für ihn die Welt bedeutet: „Es war eine Partie mit wundervollen Zügen, auch wenn ich sie verloren habe.“
Die sechste Partie ist der Knackpunkt im Duell. Fast zwei Wochen schon schaut die ganze Welt via Internet zu, wie der 27-Jährige die letzte Bastion des menschlichen Geistes gegen die Materie verteidigt. Kramniks Vorgänger auf dem Schachthron, Garri Kasparow hatte 1997 gegen den legendären IBM-Rechner „Deep Blue“ verloren, weil ihm im letzten Spiel seine Nerven versagten.
Nun erlebte Bahrain den Revancheversuch des Menschen. Warum ausgerechnet dieses winzige Eiland am Golf mit kleinerer Fläche als Berlin?
Schach hat Tradition in der arabischen Welt, das wissen wir. In der Hoch-Zeit der islamischen Kultur genoss das Spiel große Popularität. Die Araber waren die Ersten, die es systematisch studierten. Und dann nach Europa brachten.
Schach und ... Dame
Tradition allein reicht nicht. Ohne die Million US-Dollar Preisgeld von Bahrains König wäre aus dem Duell zwischen Weltmeister Kramnik und dem Computer nichts geworden. Das Match mit dem Titel „Brains in Bahrain“ hing ohnehin lange am seidenen Faden, wurde nach dem 11. September zweimal verschoben. Die Bahrainis haben ihre Verpflichtungen gegenüber den Vereinigten Staaten. Im Osten der Insel liegt das Hauptquartier der 5.US-Flotte. Nebenan in Katar ein großer Luftwaffenstützpunkt. Auch in Kuwait lauern zigtausende amerikanische Soldaten; bereit, gegen Irak loszuschlagen. Eine delikate Situation für den kleinen Golfstaat Bahrain, dessen Bevölkerungsmehrheit aus streng gläubigen Schiiten besteht. Die Macht im Lande haben jedoch die Sunniten mit dem König an der Spitze. Monarch und Erbprinz sind im Bild der Hauptstadt Manama allgegenwärtig.
Schachkids
Besonders eng ist das Verhältnis zum mächtigen Nachbarn Saudi- Arabien, mit dem Bahrain durch einen Damm verbunden ist. Von dort kommen die meisten Touristen. Auch zu Kuwait und Abu Dhabi gibt es freundschaftliche Verbindungen. Mit Katar streitet Bahrain um ein paar Inselchen.
Genau am 11. September 2001 hat der deutsche Botschafter Wolfgang Lerke seinen Dienst im Golfstaat angetreten. „Der Schock warf von einer Minute zur anderen alle meine Pläne über den Haufen“, sagt der Diplomat.
Jetzt verfolgt Lerke gemeinsam mit seinem russischen Kollegen Waleri Wlassow das Schachduell. Zwei Herzen schlagen in der Brust des Deutschen: Für die Firma ChessBase aus Hamburg, die Deep Fritz entwickelte, aber auch für den Weltmeister. Lerke hofft, dass der Computer dem Menschen noch einen „Aufschub gewährt, ehe er ihn völlig beherrscht.“ Der russische Botschafter hat diesen Zwiespalt nicht. Einen Rosenkranz in der Hand, lässt er sich von Großmeister Nigel Short vor dem Monitor im Pressezentrum erklären, warum sein Landsmann Kramnik auf Gewinn steht.
Während die dritte Partie noch im Gange ist, eilen beide Diplomaten davon. Es zieht sie zum ersten Spatenstich für den Formel-1-Kurs. Bahrain wird in zwei Jahren als erstes Land im Mittleren Osten so ein Rennen veranstalten. Kronprinz Salman bin Hamad Al Khalifa und der aus England eingeflogene Prinz Andrew schippen an diesem Nachmittag mit silbernen Spaten. Abends ist ein Foto-Termin mit Kramnik und Andrew geplant. Weil der sture Computer nicht rechtzeitig aufgibt, kommt der Schachkönig zu spät. Er wird auf der Bühne von Scheich Zehad aus der Königsfamilie Al Khalifa willkommen geheißen. Sie begutachten einen hochgerüsteten Mercedes-Boliden. Mit seinem Gardemaß von 1,95 Metern würde Kramnik nicht hineinpassen.
Hightech im Motorsport und im königlichen Spiel. Mehr als zwei Millionen Dollar hat Bahrains Regierung in das Schach-Duell gesteckt. Mit dem Event erregt man weltweite Aufmerksamkeit, keine Frage. Günstig, um Tourismus und Handel weiter anzukurbeln und noch mehr Investoren, auch aus Deutschland, anzulocken. Bahrain wetteifert mit anderen kleinen Golfstaaten wie Dubai auf dem Luxus-Ferienmarkt. Bisher kommen vorwiegend Gäste aus dem arabischen Raum. Ein wichtiger Standortvorteil für das Eiland: Es ist noch nicht so verbaut.
Viel mehr Geld als das Schachspektakel verschlingt natürlich das Formel-1-Projekt. Seine Gesamtkosten von 150 Millionen Dollar sollen sich für Bahrain irgendwann auszahlen. Neben der Rennstrecke entstehen Straßen durch die Wüste, eine Direktverbindung zum Airport, neue Hotels usw. Die ganze Infrastruktur des Landes profitiert vom Grand-Prix-Zirkus. Bahrain hat das Rennen gegenüber anderen Mitbewerbern im Nahen Osten gemacht.
Ungleiche Hälften
Das Duell „Mann vs. Maschine“ ist am 19. Oktober 2002 zu Ende. Mit Staunen sahen nicht nur die Bahrainis, sondern Millionen weltweit zwei ganz verschiedene Hälften. In der ersten dominierte der Mensch, in der zweiten die Maschine.
Wladimir Kramnik wurde in dem prestigeträchtigen Kampf von einem starken Team unterstützt. Da waren die beiden Sekundanten Christopher Lutz (SG Porz), sowie der Internationale Meister Tigran Nalbandjan aus Armenien. Sie halfen dem Weltmeister schon zwei Wochen vor dem Match im Saarland bei der Vorbereitung. Auch in Bahrain standen ihm die beiden bis zur letzten Partie zur Seite. Zur Mannschaft gehörten Masseur Dr. Waleri Krylow aus Moskau, der Kramnik schon bei der WM 2000 in London betreute sowie Bodyguard Aziz. Und las but not least Wladimirs Manager Carsten Hensel aus Dortmund, bei dem alle organisatorischen Fäden zusammen liefen.
Kramniks kontrolliertes, positionelles Spiel brachte ihm in den ersten Partien den gewünschten Erfolg. Der Russe erntete vor Ort viel Bewunderung für seine Cleverness. Kramnik war 27 Jahre alt und noch nicht auf dem Zenit seines Könnens angelangt. Als junger Großmeister spielte er fünf Jahre für Empor Berlin in der Schach-Bundesliga. In London entthronte er 2000 den großen Kasparow. Seither gilt er im klassischen Schach als nur schwer bezwingbar.
Als der Moskauer in Bahrain 3:1 führt, fragen sich die Fachleute nur noch, wie hoch er am Ende gewinnen wird. Auch Schiedsrichter Enrique Irazoqui (Spanien) ist dieser Meinung, als ich mit ihm in der Hotel-Lobby spreche. Der Literaturprofessor aus der Nähe von Barcelona und Computerschach-Experte irrt sich genau wie viele andere Insider.
An den beiden Ruhetagen wird Deep Fritz vom Team aus Hamburg besser programmiert. Es gibt in der zweiten Matchhälfte keinen frühen Damentausch mehr! Und der Mensch wird auf einmal müde. In der 5. Partie unterläuft Kramnik der erste gravierende Fehler. Es ist d e r Patzer seiner Karriere bis dahin. 2006 in Bonn wird ihm ein noch größerer Bock unterlaufen, als er beim Re-Match gegen Fritz ein einzügiges Matt übersieht.
Glauben Sie mir, liebe Leser, ich habe Kramnik sehr oft spielen sehen und kann mich nicht daran erinnern, dass er zuvor jemals einzügig eine Figur eingebüßt hat. Im nächsten Spiel übertreibt Wladimir - ganz gegen seine Gewohnheit - das Risiko. Mit einem mutigen Figurenopfer zerrt der Champion den König seines emotionslosen Gegners ins Freie. Jeder menschliche Kontrahent wäre unter der Angriffswucht zusammengebrochen. Nicht aber Deep Fritz! Das auf acht Prozessoren laufende Programm entfaltet seine ganze Rechenkraft und verteidigt sich genial. Kramnik verliert zum zweiten Male in Folge. Die spannendste Partei bringt den Ausgleich. An den Folgetagen spielt Wladimir wieder so besonnen wie zu Beginn des Matchs. Am Ende des steht es 4:4 im Gesamtklassement.
Einmal streikte auch der Computer. War es die Hitze (bis zu 40 Grad) oder die Luftfeuchtigkeit? Im vierten Spiel bleibt der Compac-Rechner, der streng bewacht in einem Extra-Raum des Mind Sports Center von Manama steht, einfach stecken. Das Monster hängt fest und versagt seinen Dienst. Panik bei den ChessBase-Leuten! Aus Deep Fritz ist kurzzeitig Depp Fritz geworden. Nach 15 Minuten aber kann es weiter gehen. Fritzchen läuft nur noch auf einem Prozessor. Das reicht, um die Partie trotz Minusbauern remis zu machen. Und den Umschwung in der Mitte des Matchs einzuleiten.
Sonnabend, 19. Oktober: Showdown in Bahrain. Nach dem unaufgeregten Remis im 7. Durchgang spielt Wladimir Kramnik die bis dahin teuerste Partie seiner Karriere. Gewinnt er, gibt es die ganze Million. Verliert er, „nur“ 600 000 Dollar. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Das Fritz-Team versucht Optimismus zu verbreiten: „Er schafft höchstens Remis, zu viel steht auf dem Spiel. Ein einziger Fehler von ihm könnte fatale Folgen haben.“ Kramnik-Sekundant Christopher Lutz hält dagegen: „Wladimir geht ganz gelassen ins Endspiel. Er ist eigentlich nie nervös. Wir sind für den finalen Fight gut vorbereitet.”
Wieder Damengambit. Und Wladimir hat Weiß. Das ist ganz wichtig. So kann er das Spiel besser kontrollieren. Kasparow hatte seinerzeit gegen Deep Blue im letzten Spiel Schwarz und ging unter.
Wladimir hat alles im Griff und riskiert nichts mehr. Er nimmt einen Isolani im Zentrum in Kauf und verfügt über leichte Stellungsvorteile. Die Partie verflacht jedoch augenblicklich, als Kramnik die Türme tauscht. Im 21. Zug stellt der Moskauer seine Dame nach d2 und bietet Remis an, was sofort akzeptiert wird. Die letzte war die kürzeste Partie im gesamten Match.
Game over! Von des Königs Preisgeld soll der Weltmeister 800 000 US-Dollar bekommen. Aber die Bahrainis wollen nicht zahlen. Wochenlag erfolgt keine Banküberweisung. Da muss das Kramnik-Management erst mit dem russischen Präsidenten Putin drohen, bis das Geld fließt. An die Firma ChessBase sollten 200 000 Dollar gehen, die für eine Stiftung zur Entwicklung des Jugendschachs vorgesehen waren. Das Geld ist bis heute nicht in Hamburg angekommen!
Mit dem Ergebnis konnten beide Seiten leben. Vor allem eröffnete es die Möglichkeit zu einer weiteren Runde im Kampf „Man vs. Machine“. Die Chancen dafür standen nicht schlecht. Es ist einfach so, dass die Welt - auch des Schachs - nun mal solche Spektakel liebt.
Das Medienecho war global und ähnlich groß wie 1997 bei Kasparow - Deep Blue. Von der „New York Times“ und „Washington Post“, Londoner „Times“ über den „Spiegel“, „El Pais“ bis zu den Gazetten in Asien reichte die weltweite Palette. Nicht wenige deutsche Blätter hoben Kramnik und Fritz auf ihre Titelseite. Fernsehsender von CNN über die BBC bis ARD und ZDF reflektierten das Match. Nicht zu vergessen die vielstündigen Übertragungen des Veranstalters Einstein TV. Das Web war voll von Live-Übertragungen. Hierzulande boten ChessBase, der „Spiegel“ und die „Thüringer Allgemeine“ diesen Service. Viele andere Schach-Anbieter hatten Links auf ihren Homepages eingerichtet, wo sich die Fangemeinde einklicken konnte. „Brains in Bahrain“ wurde auch in den elektronischen und Printmedien d a s Sportereignis, was es versprach.
Berichte bei ChessBase (2002):
Pressemitteilungen (Mai 2002)...
Kramniks Vorbereitung...
Fritz-Team eingetroffen...
Kramnik eingetroffen...
Bericht von der Eröffnungsfeier (2002)...
Kramniks Ansprache (2.10.2012)...
Pressekonferenz 4.10. (2002)...
Erste Partie...
6. Oktober 2002...
Zweite Partie...
8. Oktober 2002...
Bilderbogen...
3. Partie...
Nach der dritten Partie...
Wieso "Deep" Fritz...
Vierte Partie...
Bilderbogen...
Sechste Partie...
Schachkids von Bahrain...
Siebte Partie...
Vitali und Wladimir Klitschko bei ChessBase...
Achte Partie...