150 Jahre Wiener Schachturnier von 1873

von André Schulz
12.09.2023 – Vor 150 Jahren, vom 21. Juni bis 29. August 1873, wurde in Wien der "Erste internationale Wiener Schachkongress" ausgetragen. Einige der besten Spieler der Welt nahmen die Einladung an und spielten im Modus jeder gegen jeden Minimatches gegeneinander. Am Ende lagen Wilhelm Steinitz und Joseph Blackburne vorne. Ein Stichkampf musste entscheiden.

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 Das Wiener Turnier von 1873

Im Jahr 1851 wurde auf Anregung von Prinz Albert (genauer: Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha), dem Ehemann der britischen Königin Victoria, in London die erste Weltausstellung organisiert, als "Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations".

Die Stände der Ausstellung befanden sich in einem riesigen, 600 Meter langen Glaspalast, dem Crystal Palace (1936 abgebrannt) im Hydepark. Das Londoner Schachturnier von 1851, das als Beginn des modernen Turnierschachs gezählt wird, gehörte nicht zum offiziellen Programm der Weltausstellung, war aber durch die industrielle Aufbruchsstimmung dieser Ausstellung inspiriert. In den nächsten Jahren wurden regelmäßig in den großen Metropolen solche Weltausstellungen durchgeführt und oft gab es im Zuge dessen in den betreffenden Städten auch bedeutende internationale Schachturniere. Zu dieser Reihe gehört auch das Wiener Schachturnier von 1873, das erste große internationale Turnier in Wien, das zu dieser Zeit noch die Hauptstadt einer europäischen Großmacht war.  Das Turnier feierte dieses Jahr seinen 150-jährigen Jahrestag.

Die Weltausstellung von 1873 wurde am 1. Mai des Jahres in der eigens für die Veranstaltung errichteten Rotunde (1937 abgebrannt) eröffnet. Das Gebäude hatte mit einem Durchmesser von 108 Metern seinerzeit die größte Kuppel der Welt als Dach. Zur Eröffnung der Ausstellung war das Gebäude jedoch noch gar nicht vollständig fertiggestellt und da es zuvor lange geregnet hatte, war das Haus und das Gelände drumherum zum Zeitpunkt der Eröffnung wenig einladend. Auch sonst stand diese Weltausstellung unter keinem guten Stern. Die bald  folgende Weltwirtschaftskrise nach dem Börsenkrach vom 9. Mai 1873 sowie eine Cholera-Epidemie, die schon 1866 im preußischen Heer ausgebrochen war und infolge des preußisch-österreichischen Kriegs auch nach Österreich und Wien getragen wurde, sorgten dafür, dass viele der Menschen der Weltausstellung fern blieben. Statt der erwarteten 20 Mio. Besucher, kamen nur etwas über 7 Mio. Menschen und die Ausstellung machte ein gewaltiges Defizit.

Die Rotunde

"Der Erste Wiener Internationale Schachkongress" war eine der Nebenveranstaltungen zur der Weltausstellung und wurde vom 21. Juni bis 29. August in den Räumen Wiener Schachgesellschaft in der Reichsratsstraße durchgeführt. Nachdem es in Wien zuvor schon einige Turniere gegeben hatte, war dies das erste große internationale Turnier, bei dem fünf internationale Spitzenspieler auf sieben Vertreter aus dem Gebiet von Österreich-Ungarn stammten. Zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie gehörten damals neben den heutigen Gebieten der beiden Länder der halbe Balkan bis in den Süden hinunter nach Herzegowina, Böhmen und Mähren, Nord-Rumänien sowie Ost-und Westgalizien, also die Westukraine. 

Die Spieler aus dem österreichisch-ungarischen Staatsgebiet waren der in Prag geborene Wilhelm Steinitz, der aber schon in London lebte, Josef Heral (Wien), Dr. Phillip Meitner (Wien), Adolf Schwarz (Wien), Karl Pitschel, der aus österreichisch-Schlesien gebürtige Oscar Gelbfuhs (Altenburg) und der aus Ungarn stammende Dr. Maximilian Fleissig (Wien). 

Die internationalen Spieler waren die Engländer Joseph Henry Blackburne und Henry Bird (beide London), die beiden Deutschen Adolf Anderssen (Breslau) und Louis Paulsen (Nassengrund) sowie Samuel Rosenthal (Paris), ein gebürtiger Pole, der nach Frankreich emigriert war.

Fest angemeldet hatte sich auch Dr. Carl Theodor Göring (Leipzig), doch er musste aus ungenannten Gründen auf die Teilnahme verzichten. Emil Schallopp (Berlin) schlug die Einladung ebenfalls aus Zeitgründen aus. Johannes Zukertort hatte sich erst gemeldet, dann aber keine feste Zusage mehr geschickt. Louis Paulsens Bruder Wilhelm wollte noch mitspielen, aber seine Zusage kam nicht mehr fristgerecht an. Zu spät meldete sich auch Dr. Emmerich Engel (aus Maros-Vásárhely). Die Herren Johannes Minckwitz, Dr. Max Lange (beide Leipzig) und Johann Jacob Löwenthal (aus London) wollten dieses Turnier nicht mitspielen, kündigten aber ihre Besuche an. 

Neben den aufgeführten Spielern hatten die Wiener Organisatoren auch die Amerikaner Paul Morphy und den aus Schottland gebürtigen Captain George Henry Mackenzie eingeladen. Morphy spielte allerdings schon lange nicht mehr. Der Berufssoldat Mackkenzie hatte nach seiner Immigration im Amerikanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Union gekämpft, war allerdings 1864 auch als Deserteur gemeldet worden. Er war nach Mophys Rückzug über viele Jahre der führende Spieler in den USA, nahm die Einladung nach Europa aber wegen der strapaziösen Reise aber nicht an. 

Auch viele weitere der damals weltbesten Spieler hatten die Wiener Organisatoren angeschrieben und eingeladen, doch die meisten sagten ab, darunter Ernst von Heydebrand und der Lasa (Kopenhagen), Dr. Antonius von der Linde, Jean Dufresne (beide Berlin), Seraphim Dubois (Rom) und einige andere mehr.

Die Organisatoren hatten sich auch um die Teilnahme weiterer Spieler aus dem Gebiet von Österreich-Ungarn bemüht, die zwar nicht Weltspitze, aber doch ernstzunehmende Gegner waren, beispielsweise Johann Berger oder Dr. Jacoby, ein Rechtsanwalt aus Pest (Ungarn), der dort als bester Spieler der Stadt galt, doch vergeblich. Viele Spieler waren aus beruflichen Gründen unabkömmlich. So blieb es bei fünf einheimischen und sieben auswärtigen Bewerbern um den Turniersieg und den ersten Preis.

Kaiser Franz Josef I. von Österreich und die schachbegeisterten Barone Albert Salomon von Rothschild, zugleich Präsident der Wiener Schachgesellschaft, und Baron Ignaz von Kolisch, Vizepräsident der Wiener Schachgesellschaft und selber ein sehr starker Schachspieler, der über seine Kontakte im Wiener Schach zu Geld und Adelstitel gekommen war, lobten für dieses schachliche Großereignis einen stattlichen Preisfonds aus. Baron Rothschild gab 1000 Gulden, Baron Kolisch 500 Gulden (zusammen ca. 20.000 Euro nach heutiger Kaufkraft). Kaiser Franz Joseph stiftete zudem 200 Dukaten in Gold. 

Die Preisstaffelung sah nun so aus:

1. Preis: 200 Dukaten in Gold und 1000 Gulden österreichische Währung.
2. Preis: 500 Gulden österreichische Währung
3. Preis: 300 Gulden österreichische Währung
4. Preis: 200 Gulden österreichische Währung

Die Bedenkzeit für die Partie betrug zwanzig Züge pro Stunde. Der Turniermodus war speziell: Jeder Teilnehmer spielte gegen jeden anderen einen Wettkampf auf zwei Gewinnpartien, maximal drei Partien. Für jedes Match waren drei Spieltage veranschlagt. Der Matchsieger erhielt einen Punkt, der Verlierer 0 Punkte. Ergab die Gesamtwertung keinen Sieger, wurde das Match als unentschieden gewertet, wobei jeder Spieler einen halben Punkt erhielt. Durch diesen Modus sollte "der schädliche Einfluss der Remispartien auf ein Minimum reduziert werden", wie es im Turnierbuch hieß. Außerdem wurden die Spieler durch Ehrenwort verpflichtet, das Turnier auch bis zum Ende mitzuspielen und nicht vorher auszusteigen. Offenbar hatten die Organisatoren jener Zeit mit dieser Unsitte zu kämpfen. Zudem waren die Spieler angehalten, keine Privatabmachungen über das Ergebnis zu treffen. Auch die Freundschaftsremisen waren also vor 150 Jahren schon gang und gäbe.

Die Spielzeit dauerte am ersten Tag von vormittags 9 Uhr bis mittags 13 Uhr und von 15 Uhr bis 19 Uhr abends, am zweiten Tag von 9 Uhr bis 13 Uhr und von 15 Uhr bis zum Ende der dritten Partie. Die Partien durften nur zum Ende einer Spielzeit unterbrochen werden. Analysieren vor der Wiederaufnahme war strengstens verboten. 

Die Turnierleitung lag in den Händen von Ignaz von Kolisch, der schon das große internationale Turnier in Baden-Baden 1870 sehr erfolgreich durchgeführt hatte. Von diesem Turnier wurden auch die Regeln für das Turnier in Wien übernommen, mit ein paar kleineren Modifikationen. Grundlage der Spielregeln waren die beim Londoner Kongress von 1862 festgelegten Schachregeln, hier nun mit der zusätzlichen Ergänzung, dass bei dreifacher Stellungswiederholung Remis reklamiert werden konnte.

Am Sonntag, den 20. Juni fand eine Vorbesprechung der Spieler und Organisatoren statt, bei der auch die Auslosung vorgenommen wurde. Am Montag, den 21. Juni begann das Turnier mit den ersten Matches.

Der aus London nach Wien zurückgekehrte Wilhelm Steinitz begann das Turnier mit einem Matchsieg gegen Pitschel, unterlag dann aber Blackburne.

Danach lief Steinitz aber zu großer Form auf. Aber auch Blackburne gab sich keine Blöße und führte vor der Schlussrunde.

Ein Sieg gegen Rosenthal im letzten Match hätte dem Engländer den Turniersieg eingebracht.

Samuel Rosenthal (via Europe-Echecs)

Blackburne verlor jedoch dieses wichtige Match und musste gegen Steinitz in einen Stichkampf um den Turniersieg gehen.

Adolf Andersson wurde Dritter. Gegen Louis Paulsen gelang ihm eine schöne Kombination.

Den Stichkampf gegen Blackburne entschied Steinitz mit 2:0 für sich und ging so als Sieger in die Geschichte des  Ersten internationalen Wiener Schachkongresses ein.

Blackburne und Steinitz

Für das Schluss-Bankett wurde eigens ein Festgruß mit acht Strophen getextet, der aber nicht zum Vortrag kam, weil von den Spielern nur noch Wilhelm Steinitz, Dr. Phillip Meitner und Dr. Maximilian Fleissig anwesend waren. Die übrigen Spieler waren schon abgereist. Man sieht: Manche Dinge ändern sich nie.

Mit seinem Turniersieg galt Wilhelm Steinitz von nun an als bester Spieler der Welt, legte danach aber eine lange Turnierpause ein und spielte vorerst nur noch Wettkämpfe. 

Die Wiener Schachgesellschaft wurde 1938 aufgelöst. Mit ihr auch die umfangreiche Schachbibliothek, in der sich auch Fotos vom ersten internationalen Wiener Schachkongress befunden haben sollen. Wohin sind sie verschwunden?


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.