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Auf den ersten Stufen der schachlichen Entwicklung genügt es, darauf zu warten, dass die Gegenseite einen mehr oder weniger groben Patzer begeht. Um diesen auszunutzen, muss man in der Lage sein, verhältnismäßig simple Kombinationen durchzurechnen, die mit einer Vielzahl von Werken zur Taktik trainierbar sind. Sobald man ein höheres Niveau erklommen hat, muss die Konkurrenz überspielt werden, wobei anspruchsvolle Gewinnwege auszutüfteln sind. Hier hilft der Fritztrainer „Die Kunst des Königsangriffs“, der sich an Fortgeschrittene und Turnierspieler wendet.
Der Autor Stefan Kindermann ist Jahrgang 1959, Großmeister und hat unter anderem an acht Schacholympiaden teilgenommen. Dass er gebürtiger Österreicher ist, hört man (erfreulicherweise) nicht, weil er lange Zeit in Deutschland gelebt hat. Die Videos wurden anscheinend im Winter gedreht, und der Autor kämpfte mit einer Erkältung: Sein Niesen in die Kamera ist glücklicherweise nicht ansteckend.
Zunächst zeigt Kindermann in der Rubrik „So nicht!“ zwei Beispiele unfundierter Angriffe. In der zweiten Partie greift übrigens einer meiner ehemaligen Vereinskollegen, mit dem ich in der Saison 97/98 in der Oberliga spielte, etwas übermotiviert an und wird von Kindermann souverän ausgekontert. Damit ein Angriff nicht in einer Selbstzerstörung endet, sollte man wissen, wann die Aussichten verheißungsvoll sind. Dazu stellt der Autor seine sieben Kriterien für einen erfolgreichen Königsangriff von 1. „Eine Überzahl von Angreifern gegenüber Verteidigern im kritischen Sektor“ bis 7. „Die verteidigende Partei verfügt über kein ausreichendes Gegenspiel“ vor. Wenn mehrere Kriterien zutreffen, sind die praktischen Angriffschancen gut und man sollte ggf. auch materielle Opfer in Betracht ziehen.
Bei den Partiebeispielen greift er die Kriterien immer wieder auf und demonstriert deren Wirksamkeit. Im Einzelnen werden die folgenden Kapitel behandelt:
• Der erfolgreiche Königsangriff in der Praxis
• Der angegriffene König in der Mitte
• Beide Seiten haben kurz rochiert
• Heterogene Rochaden
Unter den 30 besprochenen Partiebeispielen sind erfreulicherweise aktuelle Partien wie Anand-McShane sowie Murdzia-Kasimdzhanov (beide von 2013) und nur wenige der bekannten Klassiker wie Fischer-Rubinetti (1970) oder Lasker-Bauer (1889). Ansonsten präsentiert der Großmeister – wie üblich – vor allem eigene Gewinnpartien (elf Stück an der Zahl), was er auch selbstkritisch anmerkt. Aber die eigenen Meisterwerke kennt man eben am besten.
Viele taktische Varianten sind so komplex, dass sie sich am Brett bei tickender Uhr kaum komplett durchrechnen lassen. Hier sind die sieben Faustregeln Gold wert, um aussichtsreiche Züge zu finden, selbst wenn diese mit erheblichen materiellen Opfern verbunden sind. Denn bei einem „richtigen“ Opfer, darf man sich auch mal irren, sonst wäre es ja kein Opfer, sondern „nur“ eine forcierte Gewinnkombination. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang Erläuterungen des Autors zu eigenen Angriffspartien, wie weit er die Konsequenzen seiner teilweise spektakulären Opfer im Voraus kalkuliert hat oder sich auf sein Bauchgefühl bzw. auf seine Kriterien verließ.
Hier ein Beispiel:
Wie soll Weiß fortsetzen?
Den Abschluss bilden 13 Trainingsstellungen zum Prüfen, wie weit man „auf dem Weg zum gefürchteten Königsjäger“ schon gekommen ist. Der Schwierigkeitsgrad erstreckt sich von trivial – die gegnerischen Figuren schlafwandeln am Damenflügel, während der Königsflügel kollabiert – bis sehr anspruchsvoll. Wichtig ist, zu erkennen, ob noch „evolutionäres“ Verhalten – also das Heranführen von Angriffskräften – notwendig ist, oder ob schon „revolutionäre“ Maßnahmen – taktische Attacken – möglich sind. Einleitend erläutert der Großmeister jeweils die Stellung und gibt drei Züge vor, unter denen man den richtigen auswählen soll. Optisch ungünstig ist, dass der grüne Pfeil der letzten Option am Ende sichtbar bleibt, sodass man dazu tendiert, vor allem diesen Zug zu analysieren. Wer Herausforderungen liebt, drückt die Pausentaste, bevor die drei Kandidatenzüge vorgestellt werden.
Das Konzept der DVD ist gelungen. Kindermann kommentiert die sorgfältig ausgewählten Partien sehr instruktiv und drückt sich gewählt aus. Sein trockener Humor macht das Zuhören zu einem kurzweiligen Vergnügen. Seine Sprüche (wie bspw. „Everybody wants to joint the party!“) bleiben hängen und leisten gute Dienste. Er liefert sinnvolle Erklärungen, anstatt mit einem Wust von Varianten zu erdrücken, denn bei Bedarf kann man ja selbst mit Fritz & Co analysieren. Bei den Musterpartien hätten „Denkpausen“ eingefügt werden können, sodass man weiß, an welcher Stelle die Erläuterungen beendet sind und man die Pausentaste drücken sollte, um erst mal selbst über der kritischen Stellung zu grübeln.
Das insgesamt positive Bild können auch zwei kleine Fehler nicht trüben. Bei der Partie „Szcepaniec-Serwa“ leistet sich der Autor einen Fauxpas, indem er mit dem Hinweis einleitet, dass Weiß einen Bauern für die Angriffsstellung geopfert hat. Tatsächlich besitzt Weiß jedoch eine Mehrfigur! Die Abschlusskombination zur Beseitigung des schützenden Bauernwalls ist allerdings trotzdem lehrreich. Des Weiteren kommt es ihm zwar seltsam vor, aber er stuft „Capablanca-Levenfish“ als Simultanpartie ein. Mithilfe der Megabase lässt sich schnell recherchieren, dass die Partie zu einem – eigentlich recht berühmten – Turnier 1935 in Moskau gehört.
Sympathisch finde ich, dass er als letzte Trainingsstellung eine eigene Fehlleistung untersucht, bei der er am Brett nicht den besten Zug fand, letztlich aber trotzdem gewann. Dies ist ein Beispiel dafür, dass richtiges Verteidigen schwer und der Angreifer in der praktischen Partie in der Regel psychologisch im Vorteil ist. Ein Grund mehr mithilfe dieser DVD kaltblütig auf Angriff zu spielen!
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