Das
folgende Portrait des Regisseurs und Shogi-Liebhaber Takeshi Kitano von Dr. René
Gralla erschien heute auch in Financial Times Deutschland.
Ab heute neu im Kino: „Zatoichi“ von Takeshi Kitano (Start:
24. Juni 2004)
„Tom Cruise ist viel zu ernsthaft“
Kult-Regisseur Takeshi Kitano im FTD-Gespräch über seinen neuen Film „Zatoichi“,
über das japanische Schach SHOGI und die Kunst des Schwertkampfes - und über den
Möchtegern-Samurai Tom Cruise
Von René Gralla
Den Kopf gesenkt, die Augen halb geschlossen, so sitzt er da. Um seine
zusammengepressten Lippen spielt ein seltsames Lächeln, ironisch und ein
bisschen gefährlich: ein Eindruck, den die ausgeprägte und scharf nach unten
weisende Faltenkerbe am rechten Mundwinkel verstärkt. Plötzlich strafft er sich,
holt aus – aber dann ist es doch kein Schwert, das durch die Lüfte saust,
sondern bloß die Schwerthand des Meisters. Mit der er hier, in Hamburgs Hotel
„Atlantic“, an einem ansonsten leeren Tisch demonstriert, wie das geht, die
ominöse „Anaguma“.
Dabei handelt es sich nicht um eine besonders elegante Volte:
„Anaguma“ heißt übersetzt „Bär in der Höhle“ - und bezeichnet eine besonders
clevere Verteidigungsposition: im Shogi. Dass Takeshi Kitano, der Medienstar und
Regisseur von fast schon kultischen Yakuza-Balladen wie „Hana-Bi“, „Violent Cop“
oder „Brother“, ausgerechnet die Präsentation seines jüngsten Werkes „Zatoichi“
zum Anlass nimmt, über eine speziell japanische Schachvariante zu referieren,
mag bloß ahnungslose Langnasen überraschen.
Shogi ist mentale Martial Art, hat zu den Exerzitien der
Samurai gehört. Und genau mit dieser Welt der Ritter Nippons, wo es vor allem um
Ehre, Rache und grandioses Sterben ging, beschäftigt sich der neue Kitano-Film „Zatoichi“,
der ab Donnerstag (24. Juni) bundesweit anläuft.
Durch ein buntes und blutiges Epos, das in Venedig 2003 mit dem Silbernen Bären
ausgezeichnet worden ist, wandert der blinde Masseur Zatoichi. Der trifft zwei
Geishas, ein rätselhaftes Geschwisterpaar, die noch eine Rechnung offen haben
mit dem Bandenchef Ginzo. Zatoichi, obwohl er das Augenlicht verloren hat, ist
ein Virtuose der Fechtkunst. Er beschließt, den Geishas zu helfen, nachdem er
selber mit Ginzos Spießgesellen aneinander geraten ist.
Schauplatz dieses ersten großen Showdowns in einem verlorenen
Bergnest ist ein Lokal, wo um hohe Einsätze gewettet wird. Und so nähert sich
die Kinofigur „Zatoichi“ auf der Meta-Ebene ihrem Protagonisten an, dem
Filmemacher Takeshi Kitano himself. Der 57-jährige aus Tokio ist nämlich selber
eine Spielernatur: Das enthüllt sein überraschendes Coming-out als Shogi-Fan,
das zeigt im Grunde aber auch der bisherige Karriereweg des Künstlers. Er ist
Stand up-Komiker gewesen, auf der Bühne eines Strip-Lokals in Asakusa. Den
Durchbruch als Entertainer schafft er mit der bizarren Fernseh-Gameshow „Takeshi`s
Castle“: Da müssen die Kandidaten Papprüstungen tragen oder über rollende Walzen
balancieren, wenn sie eine Burg stürmen wollen.
Gleichzeitig führt Kitano eine artistische Zweitexistenz, dreht gewalttätige
Dramen über wortkarge Gangster und illusionslose Polizisten. Vor diesem
Hintergrund wirkt jetzt der aktuelle „Zatoichi“ wie die ultimative Fusion: auf
der einen Seite ein klassischer Samurai-Film, rasant und tödlich elegant; auf
der anderen Seite bewusst künstlich inszeniert, mit kalkulierten Stilbrüchen,
wenn Bauern fröhlich steppen oder Kitanos „Zatoichi“ einen geblondeten Schopf à
la Billy Idol trägt.
„Ja“, sagt Kitano auf die entsprechende Frage, „was ich bisher
gemacht habe, als Komiker, Schauspieler und Regisseur, von all` dem findet sich
ein Stück. So dass ‚Zatoichi’ eben jedem etwas bringt.“ Vor allem natürlich den
Samurai-Fans: Kitano übertrifft die von ihm selbst gesetzten Standards,
gestorben wird schnell und schrecklich schön, die Abgänge sind hinreißend böse.
Allenfalls irritiert, dass heute sogar ein Takeshi Kitano jenes Genre für sich
entdeckt, das ansonsten eher Absurditäten kennt wie den „Last Samurai“ Tom
Cruise (freilich auch geniale Stücke wie Quentin Tarrantinos „Kill Bill“).
Sobald der Name „Tom Cruise“ fällt, lacht Kitano: „Ich mag Tom
Cruise …“ - Kunstpause – „ … nicht besonders“. Es folgt ein Lob für den „Last
Samurai“, das ziemlich tückisch ist: Ihn habe „beunruhigt“, dass der Film
versuche, historische Details „minutiös“ zu „rekonstruieren“ und die Mentalität
der Samurai nachzuempfinden. Das sei „viel zu ernsthaft“. Deswegen gefalle ihm
„Kill Bill“ deutlich besser: „Der kümmert sich einen Scheiß’ “ um
kulturgeschichtliche Akkuratesse; „der pickt sich einfach die Elemente raus, die
er cool findet“. Schließlich ist Kitano aus rein choreographischen Gründen
„fasziniert“ vom optischen Potenzial des Schwertkampfes. „Gunfights“ in jeder
Form seien mittlerweile „im Wesentlichen“ ausgereizt, es gebe kaum
Überraschendes zu entdecken. Ganz anders aber das Duell Eisen auf Eisen: Da
öffne sich „viel Raum“, „Millionen Möglichkeiten“ seien zu erforschen, schwärmt
der Guru des stoischen Exitus.
Wir dürfen uns wohl noch auf einiges gefasst machen, aus der Factory des Takeshi
Kitano. Zumal „Zatoichi“ an eine Filmreihe anknüpft, die ihren Erfinder Shintaro
Katsu seit Beginn der 60-er Jahre zum absoluten Action-Helden gemacht hat. Ein
wahrer Shogi-Held ist übrigens Kitanos Gegner aus der eingangs erwähnten „Bär-in-Höhle“-Partie
gewesen: nämlich Nippons Bobby Fischer, ein gewisser Yoshiharu Habu, der Kitanos
„Anaguma“-Burg live vor TV-Kameras innerhalb von fünf Minuten zertrümmert hat.
Der Herr Habu müsste sich freilich langsam Gedanken machen: nun, da sich der
sonst unnachahmlich lässige Kitano derart für die Tricks der Samurai begeistert.
Zumal er seit frühen Karrieretagen den Beinamen „Beat“ (!) Takeshi trägt …
Ruhe vor dem Sturm - der schwarze Shogi-König in der "Anaguma"-Festung
Wie sieht es denn nun aus, das ominöse „Anaguma“-Kastell, das der große Habu dem
Kultregisseur Takeshi Kitano großzügig zugestanden hat?
Das „Bär-in-der-Höhle“-Bollwerk ist die stärkste Form des „Castles“, die im
Shogi möglich ist. Das japanische Schach sieht zwar nicht die Zugmöglichkeit der
Rochade vor; dennoch kommt es in den Partien meist zur Errichtung einer Festung,
die „Castle“ heißt und die im Ergebnis einer Rochade ähnelt. Mit dem
Hauptunterschied, dass dieses Castle mehrzügig aufgebaut werden muss – vor allem
auch deswegen, weil sich der Shogi-König (der sich genau so wie ein Western
Chess-King bewegt) erst zeitaufwändig und Schritt für Schritt seitwärts in jene
Schanze, die der Spieler zimmert, absetzen muss. Ein recht mühsames Verfahren,
das gelegentlich auch in FIDE-Schachpartien nach Rochadeverlust versucht wird -
und dort meist scheitert.
Das „Anaguma“-Fort zeichnet sich dadurch aus, dass sich der König im hintersten
Winkel des Brettes verkriecht und dass wesentliche Teile aller Waffengattungen,
die das Shogi kennt, sich um ihn scharen: die zwei Goldgeneräle (entfernt mit
der Dame verwandt); eines der beiden Pferde (das Shogi-Pferd ist, was seine
Zugmöglichkeiten angeht, ein reduzierter Springer); eine der zwei Lanzen (die
Lanze kann man als Turm-Variante einordnen); vier der neun (!) Bauern
(marschieren und schlagen wie die Bauern im chinesischen Xiangqi); der Läufer
(zieht wie der Western Chess-Läufer, pro Spieler gibt es davon allerdings nur
einen dieser Offiziere). Anders als beim Western-Chess-Castling fehlt der Turm
(zieht genauso wie sein FIDE-Kollege, aber auch insofern steht pro Partei nur
ein Turm im Arsenal).
Das nachfolgende Bild zeigt „Anaguma“ einmal als klassisch japanisches Diagramm
(re.) und alternativ transformiert in 3D-Design (li.), das sich an die vertraute
westliche Schachoptik anlehnt. Der „Bär in der Höhle“ ist für Schwarz
arrangiert; Black King findet sich ganz oben rechts in der Ecke – die auf dem
Schachbrett h8 entspricht, die man auf dem Shogi-Plan aber mit i9 bezeichnen
muss, wenn man sich an die hierzulande üblichen Diagramme anlehnt. Die Nr. i9
kommt deswegen zustande, weil das Brett im Japan-Schach 9x9-Felder hat – mit der
Konsequenz, dass es, von links nach rechts gesehen, die Linien a – i gibt (eine
Parallele zum Xiangqi), und von vorne nach hinten durchgezählt die Reihen 1 – 9.
Das ist eine weniger als beim Xiangqi, weil das Shogi auf einen zusätzlichen
Grenzfluss verzichtet, den ihrerseits die Chinesen auf ihrem Xiangqi-Brett
markiert haben.
Schauen wir uns nun die „Anaguma“-Burg auf dem Bild genauer an (3D-Bild links).
Foto: Christoph Harder
Ganz vorne erkennen wir einen Bauern auf g6, dahinter drei weitere Bauern auf f7
/ h7 / i7, dazu den Läufer g7 fast wie im FIDE-Schach-Fianchetto (zweite Reihe
von vorne, dritter von rechts). Die Fußsoldaten im Samurai-Chess der Japaner
marschieren wie die hierzulande bekannten Schach-"Bauern" pro Zug ein Feld
vorwärts; aber anders als im Normal-Schach - dort diagonal nach vorne links oder
rechts - schlagen ihre Shogi-Kollegen bloß stur geradeaus, so wie sie auch sonst
ziehen. Der Shogi-"Läufer" rauscht, wie bereits erwähnt, über die Diagonalen und
ist ein Bruder des FIDE-Läufers.
In der dritten Reihe (von vorne) ganz rechts auf i8 eine Lanze: Sie kann nur
vorwärts über die Senkrechte stürmen, sich niemals zurückziehen oder gar
seitwärts ausbrechen. Links neben der Lanze auf h8 ein Silbergeneral: Er
beherrscht alle vier nächstgelegenen Diagonalfelder (die insofern eine Art "x"
um den Stein bilden), dazu die unmittelbar vor ihm gelegene Position auf der
Senkrechten: also die Punkte g7 / i7 / g9 / i9 plus h7. Folglich zieht der
Shogi-Silbergeneral wie die Elefanten-ähnliche Läuferfigur im siamesischen
Schach "Makruk Thai" - und wird hier deswegen auch mit der entsprechenden
Symbolfigur dargestellt.
Links neben dem Silbergeneral ein Goldgeneral auf g8; der korrespondiert in der
Shogi-Startstellung der "Dame" im klassischen Schach, ist aber erheblich
kurzatmiger – zum Beispiel erreicht der Goldgeneral g8 bloß alle ihn unmittelbar
umgebenden Felder, ausgenommen die zwei rückwärts nach schräg links bzw. nach
schräg rechts erreichbaren Punkte. Im Klartext: die Positionen f7 / g7 / h7 / g8
/ h8 / g9 .
In der hintersten Reihe linksaußen auf g9 ein zweiter Goldgeneral, daneben
rechts auf h9 ein Pferd: Der Shogi-Hengst darf nur vorwärts traben (eine
Absetzbewegung nach hinten ist verboten), das heißt, ein Feld voran plus ein
zweites Feld entweder nach links oder nach rechts. Daher erreicht das Pferd von
h9 aus allein die Punkte g7 bzw. i7. Rechts neben dem Pferd die Hauptperson auf
i9, um die sich auch im Shogi alles dreht: der König.
Das ist also die legendäre „Anaguma“-Festung, in der Kultregisseur Takeshi
Kitano mit seinen Mannen den Sturm der Weißen unter dem Kommando von Meister
Habu erwartet hat. Eine mächtige Bastion – aber no match für einen Habu …
Dr. René Gralla