Hartmut Metz: Spielt der beste Schachspieler
aller Zeiten noch oder ist er zurückgetreten?
Anatoli Karpov: Nein, ich spiele weiterhin.
Im Gegensatz zum 42-jährigen Garri Kasparow sitzen Sie
weiter am Brett. Unlängst bauten Sie im französischen Burdeos Ihre einmalige
Rekordserie aus.
Stimmt. Ich feierte meinen 161. internationalen Turniersieg. In Burdeos
schlug ich im Finale den Marokkaner Hichem Hamdouchi, der recht stark spielt.
Frankreich scheint mir Glück zu bringen. Ende des Jahres war mir auch schon
in Aix-en-Provence der 160. Erfolg gelungen.
Das heißt, eine Schach-Müdigkeit oder neue Ziele wie Kasparow
stellen Sie bei sich nicht fest? Sie wandeln lieber auf den Spuren Ihres Erzrivalen
Viktor Kortschnoi, der auch noch mit 74 die Szene bereichert.
Mir macht Schach immer noch Spaß. Deshalb verschwende ich keinen Gedanken
an einen Rücktritt.
Ihr Kommentar zu Kasparows Abgang?
Ich denke, seine eigenen Manöver mit Kirsan Iljumschinow haben ihn müde
gemacht. Er hat mindestens dreimal seine Ansichten geändert. Mal war er der
gute Freund des FIDE-Präsidenten, dann wieder sein schlimmster Feind und beschimpfte
ihn mit übelsten Tiraden. Einen Monat später waren sie wieder die besten Freunde,
Kasparow reiste nach Kalmückien, um seine WM-Chance zu erhalten – doch dann
"verarschte" ihn Iljumschinow und die Feindschaft blühte wieder. Letztlich
hat er sich selbst zu Fall gebracht und wurde ein Opfer seiner eigenen kläglichen
Diplomatie! Danach trat Kasparow zurück, was aber fürs Schach, das möchte ich
auch betonen, nicht gut ist. Generell lässt die gesamte Situation zu wünschen
übrig.
Anatoli Karpov beim Simultan in Baden-Baden: Erst beim Empfang...
Um das zu ändern, sollen Sie Iljumschinow als FIDE-Präsident
ablösen. Morgen soll Ihnen die Europäische Schachunion (ECU) die Kandidatur
zur FIDE-Präsidentschaft antragen.
Natürlich würde es selbst ein Schwachkopf besser als Iljumschinow machen.
Schlechter kann dieses Desaster kaum mehr werden. Fortschritte sind daher leicht
zu erzielen. Wegen dieser armseligen Führung herrscht ein Chaos. Um dieses zu
beseitigen, muss die Priorität auf der Vereinigung der Weltmeister-Titel liegen.
Lange dürfen wir aber nicht mehr zögern, um die fatale Situation zu ändern –
die Zeit rinnt uns durch die Finger.
Mit einer einigen ECU stünden bereits 53 Stimmen und Verbände
hinter Ihnen. Eine geballte Macht, die zusammen mit Sympathien für den früheren
Weltmeister für eine Ablösung Iljumschinows reichen sollte.
Nein, nein, es ist klar, dass die ECU zum Wohle des Schachs einig sein sollte.
Momentan ist es offensichtlich, dass Iljumschinow weg muss. Und nicht nur der,
sondern seine gesamte Entourage, die die FIDE ausplündert. Das größte Problem
besteht darin, dass man bei fast keinem der FIDE-Funktionäre weiß, ob sie gerade
die Wahrheit sagen oder dich wieder anlügen – Letzteres passiert selbstverständlich
häufiger. Sie bei der Wahrheit zu ertappen, ist weit schwieriger (lacht).
Im Falle des Erfolgs würden Sie in die Fußstapfen von
Max Euwe treten, der auch Weltmeister und FIDE-Präsident war.
Lassen Sie uns das nicht diskutieren. Klar ist jedenfalls: Es muss ein neuer
FIDE-Präsident her und ein neues FIDE-Team. Eine Mannschaft mit Leuten wie den
Vizepräsidenten Surab Asmajparaschwili, der Polizisten angreift, und dem vor
Gericht verurteilten Inder Ummer Koya oder diesem inhaftierten Rumänen Crisan
ist absurd. Kein Wunder, haben wir kein positives, sondern ein negatives Image.
Das müssen wir ändern - schließlich besitzt Schach zahlreiche positive Seiten.
Ich denke dabei insbesondere an Schulschach. In den USA beispielsweise trafen
sich erstmals mehr als 3.200 Kinder zum geistigen Wettstreit. In Kansas betreibe
ich auch eine Schachschule. Über die können Schüler im Internet Unterricht nehmen
und sich Pluspunkte verdienen wie in Erdkunde oder Geschichte. Derlei scheint
mir vielversprechend und bietet eine fantastische Grundlage für weitere Fortschritte.
Wie viele Karpov-Schachschulen gibt es mittlerweile
rund um den Globus?
Oh, das weiß ich inzwischen gar nicht mehr genau. Im Vorjahr habe ich einige
neue eröffnet, so alleine drei in Litauen. In Russland existieren inzwischen
25 Schulen. Ich meine, inzwischen gibt es welche in 20 Ländern. Die Zahl der
Schachschulen oder -zentren dürfte nun insgesamt um die 50 betragen.
Das Karpov-Schachzentrum hier in Baden-Baden zählte zu
den ersten.
Ja, nächstes Jahr feiern wir zehnjähriges Jubiläum. Nur in Russland hatte
ich noch früher welche. Seit Baden-Baden forcierte ich das Thema Schachschulen
international. Anfangs wollte keiner glauben, dass es Sinn macht, Schach als
Teil einer Schule oder gar des Schulunterrichts zu sehen – inzwischen hat sich
das deutlich gewandelt.
Sie unterstützen zudem die Unicef als Botschafter.
Ich habe dabei besonders dem Jodmangel den Kampf angesagt, durch den Kinder
in ihrer Entwicklung zurückbleiben. Dieser grassierte zu Beginn dieser Tätigkeit
vor vier Jahren in vielen der 29 osteuropäischen Länder, in denen ich als Unicef-Botschafter
tätig bin. Inzwischen gibt es in zwei Dritteln der Länder Gesetze, um diesen
zu beheben. Laut den jüngsten Statistiken haben wir dadurch nicht nur zu Westeuropa
aufgeschlossen, sondern ein paar Länder überholt. Bulgarien ist sogar der erste
Staat, der von der Unicef für seinen Kampf gegen Jodmangel ausgezeichnet wurde.
Nächstes Jahr sollten wir alle gesteckten Ziele erreicht haben - dann kann ich
mir überlegen, was ich dann in Angriff nehme (lacht). Ich schätze Aufgaben,
bei denen der Erfolg nachprüfbar ist. Die Zahlen belegen den Fortschritt. Ich
will nicht behaupten, dass das zu 100 Prozent mein Verdienst ist - aber zu 70
Prozent (grinst). Ich freue mich jedenfalls für die kleinen Kinder, die die
größten Opfer von Jodmangel sind.
Zurück nach Baden-Baden: War es nie ein Thema, dass Sie
mal für den OSC Baden-Baden in der Bundesliga spielen? Einige andere Weltstars
machen dies auch.
Für mich ist das nichts. Ich mag das Spielsystem der deutschen Bundesliga
nicht mit zwei Spielen an einem Wochenende. Da reist man mehr, als dass man
spielt - und dann noch am frühen Sonntagmorgen! Um für zwei Partien vier Tage
zu opfern, fehlt mir die Zeit.
... und dann am Brett.
Wer ist für Sie der wahre Weltmeister? Wladimir Kramnik
oder Rustem Kasimdschanow?
Die schwierigste Frage, die Sie mir stellen können (schmunzelt)! Ich weiß
nicht. Okay, Kasimdschanow hat dieses Turnier gewonnen, dieses K.o.-Turnier.
Ich will ihn nicht abwerten, aber er ist natürlich nicht der wahre Weltmeister.
Ich will Ihnen zur Erläuterung ein Beispiel geben: Alexander Chalifman erhielt,
nachdem er Weltmeister beim ersten K.o.-Turnier geworden war, eine Einladung
zum Topturnier nach Linares. In einem Interview danach zeigte er sich erfreut
darüber, dass er den letzten Platz vermeiden konnte! Das zeigt, dass der Titel
mit dem K.o.-System an Renommee verliert. Das war Iljumschinows Absicht. Am
Anfang hatte er durchaus klare und gute Ziele. Aber als er nach dem ersten Streit
kapierte, dass der WM-Titel und die Namen Kasparow und Karpov weit mehr zählen
als der des FIDE-Präsidenten, konnte Iljumschinow dies nicht verwinden und beschloss,
den Weltmeister abzuwerten. Das gelang ihm - allerdings zerstörte er auch das
Schach. Vielleicht ist er jetzt glücklich, wir anderen sind jedoch unglücklich.
Wir brauchen Persönlichkeiten und einen Weltmeister, um Sponsoren gewinnen zu
können.
Das heißt, für Sie als FIDE-Präsident würde eine Titelvereinigung
oberste Priorität besitzen.
Genau. Kasimdschanow wäre bei acht oder mehr Partien pro Runde sicher nicht
Weltmeister geworden. In Tripolis bewies er gute Nerven - das ist allerdings
nicht genug, um sich den Titel Weltmeister zu verdienen. Zunächst müssen wir
zur klassischen Bedenkzeit zurückkehren. Natürlich dürfen es heutzutage auch
keine Marathon-Duelle mehr sein wie bei mir damals gegen Kortschnoi oder Kasparow
über 24 oder gar 48 Partien. Zudem darf klassisches Schach nicht mit Schnellschach
und schon gar nicht mit Blitz vermengt werden, was verschiedene Typen von Schach
sind. Wenn es derlei früher schon gegeben hätte, wären Michail Botwinnik oder
Boris Spasski nie Weltmeister geworden.
Früher erinnerte man sich, wer Weltmeister war und wann.
Heute ist alles austauschbar.
Exakt. Man kannte 110 Jahre Schach-Geschichte. Heute erinnert man sich nicht
mal mehr an die Weltmeister der letzten fünf, sechs Jahre (lacht).
Im August nehmen Sie bei den Chess Classic Mainz an der
Gala für Wolfgang Unzicker teil, der am 26. Juni 80 Jahre alt wird. Welche Erinnerungen
haben Sie an den Münchner?
Ich
kenne Wolfgang schon lange, auch wenn er eine andere Generation ist. Das erste
Mal kreuzten wir in Hastings Anfang der 70er die Klingen. Dann trafen wir 1974
bei der Olympiade in Nizza aufeinander. Unzicker zählte einst zu den besten
Spielern der Welt, weshalb ihn jeder kennen muss. Selbst die ganz jungen Meister
sollten Partien von Leuten wie ihm studieren. Ich war erstaunt, als ich hörte,
dass er schon 80 wird.
Die Sowjets stellten außer Bobby Fischer alle Weltmeister.
Die firmierten zwar als Staatsamateure, aber kann man den als Richter arbeitenden
Unzicker als Amateur-Weltmeister bezeichnen?
Sehr gut möglich für eine gewisse Periode. Unzicker war zweifellos einer
der stärksten richtigen Amateure, keine Frage. Vergleiche sind indes schwierig.
Der als Anwalt tätige Isländer Olafsson war zum Beispiel ebenso äußerst stark,
zählt jedoch nicht zur Generation von Unzicker.
Was halten Sie von dem Kampf der Senioren-Titanen in Mainz
mit Unzicker, Kortschnoi und Boris Spasski, bei dem Sie mit 54 Jahren der jüngste
Großmeister sind?
Das Turnier gefällt mir. Ich habe schon eine Weile nicht mehr mit Spasski
gespielt. Gleiches gilt für Kortschnoi – und mit Wolfgang bin ich zum letzten
Mal vor 25 Jahren in Bad Kissingen am Brett gesessen.
Würde eigentlich nur noch Ihr Vorgänger als Weltmeister,
Bobby Fischer, bei den Chess Classic fehlen, um die ganz Großen der 70er und
80er vereint zu haben.
Hoffentlich ist er jetzt erst einmal in Island sicher. Ich bin jedenfalls
froh, dass die Affäre in Japan doch noch glücklich für ihn endete. Das Hickhack
war für Fischer wie die USA schädlich. Es wurde den Amerikanern nicht positiv
ausgelegt, dass sie einen ihrer berühmtesten und populärsten Landsmänner so
behandeln. Für Fischer ist das natürlich genauso bitter.
Sie waren sogar enttäuscht, als Sie von Chess-Classic-Organisator
Hans-Walter Schmitt hörten, dass bei der Unzicker-Gala kein Chess960, sondern
normales Schach ohne Auslosung der Grundstellung gespielt wird. Klappt es vielleicht
mit einem Match im Chess960 gegen Fischer, das der Amerikaner entwickelte?
Ich würde gerne mit Fischer Chess960 spielen. Für diese Art von Schach muss
man sich nicht ewig vorbereiten, weil es keine Eröffnungstheorie gibt. Am wichtigsten
ist es, in guter Verfassung zu sein und einen klaren Kopf zu haben. Dann kann
man Chess960 spielen und Fischer dabei schlagen! Dass sich ein Match mit Fischer
ergibt, bezweifele ich indes. Es käme wohl nur zu Stande, wenn Fischer dringend
Geld bräuchte.
Viktor Kortschnoi wird wie immer besonders motiviert sein,
wenn es gegen Sie geht. Er scheint auch mit 74 Jahren noch besondere Freude
bei Siegen über Sie zu verspüren. Wie ist Ihr Verhältnis zu ihm?
Das hängt davon ab, wie er geschlafen hat. Wenn er schlechte Träume hat,
erzählt er manchen Quatsch.
Ich nehme an, Sie wollen Kortschnoi wenig Anlass zu Jubelarien
geben und streben Ihren 162. Turniersieg an – oder dürfen Ihre Gegner, insbesondere
Jubilar Unzicker, auf Gnade und einen milde gestimmten Karpov hoffen?
Bei dem Turnier geht es um Wolfgang, weniger um einen Sieg mehr oder weniger
für mich. Für die Fans wird es eine Freude sein, Großmeister, große Großmeister
unterschiedlicher Generationen und aufregendes Schach zu sehen.