Alexander Nikolajewitsch
Jakowlew (02.12.1923 - 18.10.2005)
Von Gerald Schendel
Nach dem Tode von Alexander Jakowlew kondolierten seiner Witwe
Nina drei Präsidenten:
der frühere UdSSR-Präsident Michail Gorbatschow, der frühere Präsident Russlands
Boris Jelzin und der amtierende russische Staatspräsident Wladimir Putin. Am 21.
Oktober wurde Jakowlew im Präsidiumsgebäude der russischen Akademie der
Wissenschaften das letzte Geleit gegeben. An der Zeremonie nahmen über 200
Personen - darunter auch schwedische, kanadische und US-Diplomaten - teil.
Für Associated Press berichtete Maria Danilowa über die
Trauergemeinde in Moskau. Sie zitierte in ihrem Bericht aus den Ansprachen von
Andrei Illarionow (Putins Wirtschaftsberater), Jegor Gaidar (1992 russischer
Premierminister, der den marktwirtschaftlichen Reformkurs begann) und Garri
Kasparow. Kasparow meinte, die heutige russische Führung wisse es nicht zu
schätzen, was Jakowlew "für Freiheit und Demokratie in Russland tat, etwas, wozu
die heutigen Behörden nicht fähig und gewillt sind."
Der AP-Bericht wurde von zahlreichen englisch-sprachigen Publikationen
übernommen, teils
vollständig, teils gekürzt. In den gekürzten Versionen fehlt die
Stellungnahme Kasparows. Verständlich, denn Kasparow ist heute nur als
Oppositionspolitiker und ehemaliger Schachweltmeister bekannt. Kaum jemand weiß
heute noch, dass Alexander Jakowlew am Beginn von Kasparows Schachkarriere eine
bedeutende Rolle spielte.
Am 9. September 1984 wurde in Moskau das erste WM-Match zwischen dem amtierenden
Schachweltmeister Anatoli Karpow und seinem Herausforderer Garri Kasparow (beide
UdSSR) eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Alexander Jakowlew seit knapp
einem Jahr wieder in der Sowjetunion.
Vom 1. Juni 1973 bis 29. Oktober 1983 war Jakowlew Botschafter in Kanada, obwohl
er nicht aus dem diplomatischen Dienst stammte. Im März 1953, gleich nach
Stalins Tod, begann er seine Arbeit in Moskau im Zentralkomitee (ZK) der
Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) als Kurator im Referat für
Schulen. Das war eine relativ untergeordnete Position, in der er nur ein Mal -
im Oktober 1954 - Gelegenheit hatte, Parteiführer Chruschtschow aus der Nähe
kennen zu lernen. Er erhielt Eintrittskarten für einige Sitzungen des 20.
Parteitags, zufällig auch für die abschließende Sitzung am 25. Februar 1956, in
der Chruschtschow seine berühmte "Geheimrede" hielt, ein Referat "Über den
Personenkult und seine Folgen". Danach erhielt er die Bewilligung für ein
Studium an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften (Internationale Studien)
in Moskau.
Im Herbst 1958 war Jakowlew einer der ersten sowjetischen Austauschstudenten an
der Columbia University in New York (USA). Ein entsprechendes Abkommen war
gerade in diesem Jahr von den beiden Regierungen unterzeichnet worden. Zwei von
Jakowlews Studiengenossen kamen vom KGB (darunter Oleg Kalugin), einer war vom
militärischen Nachrichtendienst GRU. Da Alexander Jakowlew der älteste der vier
sowjetischen Studenten an der Columbia University war, nahm das FBI (das die
Gruppe intensiv überwachte) an, dass der ZK-Abgesandte Jakowlew der Leiter der
Gruppe war.
Sein USA-Aufenthalt trug Jakowlew später den Vorwurf ein, er sei ein
"Einflussagent, ausgebildet von amerikanischen Agenten, um die sowjetische
Bürokratie und den Staat zu unterwandern" (vergl. Yale Richmond, Cultural
Exchange and the Cold War, Pennsylvania State University (USA), 2003, S.
28). Ein Jahr lang studierte Alexander Jakowlew in den USA amerikanische
Geschichte und Politik. Danach setzte er sein Studium in Moskau fort. Im Oktober
1960 nahm er seine Tätigkeit im ZK-Apparat der Partei wieder auf - jetzt im
Referat für Agitation und Propaganda. Jakowlews Chef wurde 1969 als Botschafter
nach Jugoslawien entsandt, Alexander Nikolajewitsch blieb als Stellvertreter im
Amt und war de facto für weitere vier Jahre Chef des Referats für Propaganda,
wurde jedoch in dieser Position nicht bestätigt. Dann beschloss das Politbüro
des ZK, Jakowlew zum Botschafter in Kanada zu ernennen.
Die westliche Presse begrüßte Jakowlew als einen in Ungnade
gefallenen ZK-Funktionär, der den Hardlinern zu liberal war. Bei einer Reise zum
Außenministerium in Moskau erfuhr Jakowlew dagegen den Neid der
Berufsdiplomaten; Kanada galt als "gutes" Land, eine Versetzung dorthin als
"Geschenk". Über seine Zeit in Kanada erzählte Alexander Jakowlew in seiner
Autobiografie Die Abgründe meines Jahrhunderts. Eine Autobiografie.
(Übersetzt aus dem Russischen von Friedrich Hitzer. Faber & Faber, Leipzig 2003.
911 Seiten) auf S. 409 f. : "Zu den Gästen in meiner Residenz gehörten Rassul
Gamsatow, Oleg Tabakow, Anatoli Tarassow, Nikolai Oserow, Jewgeni Jewtuschenko,
Soja Boguslawskaja, Michail Tal und andere Freunde." (Hervorhebung
GSch).
Das Buch enthält ein kommentiertes Personenverzeichnis ohne Seitenangaben, doch
Michail Tal ist darin nicht verzeichnet. Es kann jedoch keinen Zweifel darüber
geben, wer gemeint ist, denn über der Zeile „Soja Boguslawskaja, Michail Tal und
andere Freunde", befindet sich ein Bild, das Alexander Jakowlew beim Schachspiel
zeigt (S. 410). Er hat Weiss, sein rechter Arm ist erhoben, gleich wird er
ziehen. Der Text zu dem Bild lautet: "Schach mit Kasparow - beim 13. Zug
hatte ich verloren. In Kanada". Merkwürdig ist jedoch, dass der in die
Kamera blickende Gegner Jakowlews keinerlei Ähnlichkeit mit Garri Kasparow hat;
abgebildet ist vielmehr Anatoli Karpow!
Nach Angaben des Übersetzers Friedrich Hitzer ist das Personenregister wie die
Dokumente im Anhang der Autobiografie Alexander Jakowlews "für die deutsche
Ausgabe vom Autor eingebracht" worden (S. 21). Vielleicht hielt es Alexander
Nikolajewitsch für überflüssig, den politisch und historisch interessierten
deutschen Lesern zu erklären, wer Michail Tal war: Schachweltmeister 1960-61.
Karpow und Kasparow sind jedoch im Personenverzeichnis aufgeführt. Michail Tal
und Anatoli Karpow bestritten und gewannen im Frühjahr 1979 (10.4.-6.5.) ein
Superturnier in Montreal (Kanada), Garri Kasparow gewann zur selben Zeit sein
erstes großes internationales Turnier in Banja Luka (Jugoslawien).
Zurück zu Alexander Jakowlew, dem sowjetischen Botschafter in Kanada.
Landwirtschaftsminister in Kanada war von 1972 bis 1979 und von 1980 bis 1984
Eugene Francis Whelan. Er lud Michail Sergejewitsch Gorbatschow nach Kanada
ein. 1981 hatte Whelan in Moskau den seit 1978 für Landwirtschaft zuständigen
ZK-Sekretär Gorbatschow kennen gelernt. Im Mai 1983 kam Gorbatschow nach Kanada
- es war seine erste größere Reise in ein westliches Land.
Jakowlew: "Schon damals hatte ich den Wunsch, dass er Staatsführer werde."
(a.a.O., S. 424) Jakowlew sprach vor dem Besuch mit dem kanadischen
Premierminister Pierre Trudeau und erreichte, dass Gorbatschow auf höchster
Ebene empfangen wurde, obwohl die Einladung vom Landwirtschaftsminister ausging.
Jakowlew versicherte Trudeau: "Gorbatschow ist der künftige Führer des
Landes." Später erfuhr Jakowlew, dass die englische Regierung darüber
uneinig war, ob man den Moskauer Parteichef Grischin, Politbüro-Mitglied Romanow
oder Gorbatschow als möglichen zukünftigen Sowjetführer einladen sollte. Trudeau
empfahl Gorbatschow, und so wurde Michail Gorbatschow am 15. Dezember 1984 von
Margaret Thatcher zu einem einwöchigen Besuch empfangen. "We can do business
together", sagte Margaret Thatcher hinterher. Grischin und Romanow ließen
sich 1985 pensionieren. Michail Gorbatschow holte Alexander Jakowlew im Herbst
1983 nach Moskau. Er wurde zum Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und
Internationale Beziehungen (IMEMO) ernannt und war parallel zu dieser Tätigkeit
in anderen Angelegenheiten als Berater Gorbatschows tätig. Er begleitete
Gorbatschow im Dezember 1984 bei dessen England-Besuch.
In dem WM-Match war Anatoli Karpow am 18. September 1984 mit 1:0 in Führung
gegangen (3. Partie). Es folgten das 2:0 am 26./27. September (6. Partie), das
3:0 am 28. September (7. Partie), das 4:0 am 5./6. Oktober (9. Partie) und das
5:0 am 23. November (27. Partie), bevor Garri Kasparow am 14. Dezember 1984 den
ersten Punkt zum 5:1 erzielte (32. Partie). Sieger sollte derjenige sein, der
als Erster sechs Partien für sich entscheiden konnte. Eine Begrenzung der
Partienanzahl war nicht vorgesehen.
Der Titelkampf fand im Säulensaal des Gewerkschaftshauses im Herzen Moskaus
statt. Hier wurde Lenin nach seinem Tod 1924 als erster Sowjetführer aufgebahrt.
1936 war der Säulensaal Schauplatz eines internationalen Turniers, das
Capablanca vor Botwinnik und Lasker gewann. Hier wurde 1975 Anatoli Karpow von
FIDE-Präsident Max Euwe zum Weltmeister erklärt.
Nach dem ersten Partiegewinn von Garri Kasparow wurden noch zwei Partien im
Säulensaal ausgetragen - am 17. und 19.12.1984 (jeweils remis). Das Match war
bereits zum Gegenstand von Karikaturisten und Witzemachern geworden. Bei Beginn
der Schacholympiade in Thessaloniki (18.11.-05.12.84) scherzte das Team der
UdSSR: "Sind froh, dass Karpow und Kasparow nicht da sind. So können die
Remisspieler uns die 4:0 Ergebnisse nicht zum 3:1 vermasseln..." (GM Hecht in
Rochade 12-1984, S. 7).
Unterbrechungen des Wettkampfes hatte es schon vorher gegeben. So wurde der
Säulensaal zwischendurch für eine lange vorher geplante Sitzung der Akademie der
Wissenschaften benötigt. Am 20. Dezember 1984 starb Dmitrij F. Ustinow
(1941-1957 Volkskommissar, bzw. Minister für Rüstung der UdSSR, 1976 bis 1984
Verteidigungsminister der UdSSR) - das letzte Mitglied der Kremlführung, das
bereits unter Stalin einen Ministerposten erhalten hatte. Michail Gorbatschow
(und Alexander Jakowlew) unterbrach den Englandbesuch und kehrte nach Moskau
zurück. Der Säulensaal wurde für die Aufbahrung des sowjetischen Nationalhelden
benötigt, und so wurde das WM-Match für eine Woche unterbrochen.
Für Gorbatschows Ambitionen, Generalsekretär der KPdSU zu werden, bedeutete
Ustinows Tod einen herben Rückschlag; mit Ustinows Unterstützung hätte
Gorbatschow rechnen können, dessen Nachfolger jedoch, Marschall Sergei L.
Sokolow, galt als Anhänger Romanows. Sokolow gehörte allerdings nicht dem
Politbüro an. Der Sohn von Außenminister Andrei Gromyko nahm Kontakt zu
Alexander Jakowlew auf und ließ ihn wissen, dass sein Vater Gorbatschow sehr
schätze. Jakowlew informierte Gorbatschow, und so kam es zu
Sondierungsgesprächen zwischen Gromyko und Gorbatschow (vergl. Mária Huber,
Moskau, 11. März 1985. Die Auflösung des sowjetischen Imperiums, dtv 2002,
S. 16 ff.).
Der im Dezember 1984 amtierende KPdSU-Generalsekretär Konstantin U. Tschernenko
(1911-1985) galt schon bei seiner Amtsübernahme nach dem Tode Juri Andropows im
Februar 1984 als eigentlich zu krank für diese Aufgabe. Ende 1984 konnte
Tschernenko kaum noch das Krankenhaus verlassen. Dennoch verlief die Entwicklung
nicht zwangsläufig in Richtung auf Michail Gorbatschow als Nachfolger
Tschernenkos. Der Moskauer Parteichef und Politbüromitglied Viktor Grischin
(1914-1992) erschien permanent an Tschernenkos Seite oder sprach in dessen
Namen, um in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, er sei der von
Tschernenko selbst auserwählte Nachfolger.
Georgi Schachnasarow (1924-2001), ebenfalls ein Berater Gorbatschows, meinte
hierzu (Preis der Freiheit. Eine Bilanz von Gorbatschows Berater, Bonn
1996, S. 46 f.): "Die Vorstellung, dass die Zeit für eine radikale Wende
soweit herangereift war, dass das Land, einer Frau gegen Ende des neunten
Schwangerschaftsmonats gleich, mit dieser unbedingt hätte niederkommen müssen,
ist naiv. (...) Zunächst setzte ein unmerklicher Niedergang ein, bevor es rapide
bergab ging. (...) Es handelte sich jedoch noch nicht um einen Brand, sondern um
ein Schwelen. Die Vorräte an natürlichen Rohstoffen und an menschlicher Geduld
hätten noch für lange Zeit ausgereicht. Alles wäre im alten Trott verlaufen,
wenn man im März 1985 Viktor Wassiljewitsch Grischin zum Generalsekretär gewählt
hätte."
Nachdem der Wechsel hin zu Gorbatschow erfolgt war, schrieb Kasparow in seinem
Buch Child of Change (London 1987; deutsche Übersetzung: Politische
Partie, München 1987): "... ein inneres Gefühl sagte mir, dass die
Entwicklung in die von mir gewünschte Richtung gehen würde. Es war eine Sache
der historischen Zwangsläufigkeit" (Politische Partie, S. 156). Kasparow
wies darauf hin, dass das sowjetische Schach immer politischen Einflüssen
ausgesetzt gewesen sei (Politische Partie, S. 154). Ob es auch in diesem Match
politische Einflussnahme gab? Finstere Machenschaften?
Nachdem Marschall Ustinow "bei minus 22ºC" (Kasparow, Politische Partie, S. 184;
Child of Change, p. 123) beigesetzt worden war, konnten Karpow und Kasparow
ihren Wettkampf im Säulensaal fortsetzen: 26.12. remis (35. Partie), 28.12.
remis, 02.01.1985 remis, 04.01. remis, 07.01. remis, 09.01. remis, 14.01. remis,
16.01. remis, 18.01. remis, 21.01. remis, 23.01. remis (45. Partie).
Der Mediziner und Schachjournalist GM Dr. Pfleger verfolgte die 44. Partie im
halb vollen Saal des Gewerkschaftshauses in Moskau. Die Straße um das Gebäude
war durch einen Polizeikordon für den Verkehr gesperrt. Dr. Pfleger registrierte
"unverhohlene Kritik über die Länge und Zählebigkeit des Wettkampfs". Am 24.
Januar 1985 war er bei Karpow zum Mittagessen eingeladen. Dort traf er Karpows
"Leibarzt" Prof. Gerschanowitsch. Dieser war mit seinem Schützling nicht
unzufrieden: "war der ohnehin nicht kraftstrotzende Anatoli am Ende der WM 1978
um 6 kg leichter, so sind es diesmal nach über 4 Monaten nur lumpige 2 kg (...)
Karpow wirkt äußerlich wie eh und je und keinesfalls müde" (GM Dr. Pfleger in
Rochade, 2-1985, S. 3).
Die Dauer des Matchs erwies sich zunehmend als organisatorisches Problem. Bei
den Mitgliedern von Kasparows Team liefen die Besuchervisa für Moskau aus, die
Großmeister in Karpows Team hatten Turnierverpflichtungen wahrzunehmen. Einige
Filmproduktionen sollten im Säulensaal gedreht werden. Die Kosten des
Wettkampfes kletterten, das kalkulierte Budget war längst überzogen. Kasparow:
"Es mehrten sich die Stimmen derer, die für einen Umzug ins Hotel Sport, zehn
Kilometer vom Moskauer Stadtzentrum entfernt (und vermutlich sehr viel
billiger), eintraten. Karpow konnte mit Hilfe eines seiner vielen hochgestellten
Freunde im Ministerium für Kultur und Sport erreichen, dass wir zunächst einmal
im Gewerkschaftshaus bleiben durften" (Politische Partie, S. 185).
Kulturminister der UdSSR war von 1974 bis 1986 Pjotr Nilowitsch Demitschew
(Foto). Nach 1986 war Demitschew (geboren am 3. Januar 1918) bis zur
Pensionierung 1988 erster stellvertretender Vorsitzender im Präsidium des
Obersten Sowjets der UdSSR. Gemäß einer Publikation des
US Helsinki Watch Committee vom Dezember 1989
(Toward the Rule of Law. Soviet Legal Reform and Human Rights under
Perestroika) soll Pjotr Demitschew Chef einer Kommission zu Fragen der
Staatsbürgerschaft im Präsidium des Obersten Sowjets gewesen sein. In Kasparows
Publikation von 1987 findet man den Namen "Demitschew" im Personenregister
nicht, sein langjähriger Trainer Alexander Nikitin jedoch nannte den Namen
einige Jahre später: Kulturminister Demitschew war "Chef des Wettkampfes"
Karpow-Kasparow (Alexander Nikitin, Mit Kasparow zum Schachgipfel, Berlin
1991, S. 174 u. S. 178). Als ZK-Sekretär von 1961-1974 und Kandidat des
Politbüros von 1964-1988 gehörte Pjotr Demitschew zur Spitze des
Einparteienstaates. Nach einem Gespräch mit Demitschew wurde Alexander Jakowlew
zum Botschafter in Kanada ernannt ("Dann sag bitte, was du möchtest? Ich
würde gerne in ein englischsprachiges Land fahren, zum Beispiel nach Kanada.
Demitschew verstummte. Ich hielt unser Gespräch nicht für offiziell. Am nächsten
Morgen lag ich im Krankenhaus. Zwei Tage später erhielt ich den Beschluss des
Politbüro des ZK über meine Ernennung als Botschafter in Kanada." Jakowlew,
a.a.O., S. 393).
In einem Brief an das Sportkomitee hatte Karpow versprochen, dass das Match
nicht länger als bis Ende Januar 1985 dauern würde (Politische Partie, S. 186),
doch nach einem weiteren Remis am 28. Januar war es Kasparow, der am 30. Januar
in der 47. Partie punktete (5:2) - ein Ende des Wettkampfes war noch immer nicht
abzusehen, und so wurde nach der 47. Partie bekannt gegeben, dass die Spieler
ins Hotel "Sport" umziehen müssten, das weitab vom Zentrum Moskaus lag.
Kasparow: "Das war so etwas wie eine Verbannung, die Degradierung eines
großen Ereignisses" (Child of Change, S. 123; Politische Partie, S. 185).
Der Umzug (10 km) dauerte eine Woche.
Unter dem Eindruck des 5:2-Zwischenstandes schrieb der bekannte deutsche
Journalist Joachim Neander unter der Überschrift Und was kommt danach?
einen Kommentar: "Das Fernsehen, zumindest das westliche, hat seine
Berichterstattung eingestellt. Die Witze über die beiden Remis-Könige von Moskau
(...) sind auch längst alle erfunden. (...) Treu und brav berichten immer noch
die meisten Zeitungen, wenn auch nur kurz. Die Namen der beiden dürften
inzwischen ähnlich bekannt sein wie der von Bobby Fischer vor zehn Jahren. Noch
nie ist Schach über einen so langen Zeitraum regelmäßiger Bestandteil der
Sportberichterstattung in der deutschen Presse gewesen. (...) Aber auch die
Folgen dieses Sitz-Marathons sind zu bedenken. Sie scheinen unabsehbar. Wer wird
sich künftig - im Westen wie im Osten - dann noch um die Ausrichtung eines
solchen Zweikampfes bewerben? Jeder westliche Veranstalter (...) wäre längst am
Ende seiner Möglichkeiten. (...) Überhaupt scheinen die vielen technischen
Auszeiten, die inzwischen den Kampf immer wieder unterbrechen, eine allgemeine
Erschöpfung auch der Veranstalter zu signalisieren. (...) Und gerade eben erst
hat die FIDE den Austragungsrhythmus der Schachweltmeisterschaft von drei auf
zwei Jahre verkürzt. Noch ist gar nicht heraus, wer Weltmeister wird, da sammeln
sich schon in aller Welt die Herausforderer. (...)" (Rochade 2-1985,
S. 1 f.).
Eine mögliche Konsequenz hatte Joachim Neander in seinem Kommentar (bei
einem Zwischenstand von 5:2 zugunsten von Karpow) gar nicht genannt: Falls
Karpow verlieren sollte, "würde es dem Reglement gemäß einen Rückkampf nach
denselben Regeln, jedenfalls mit offenem Ende, geben" (Kasparow, Politische
Partie, S. 195), d.h. der für den Fall einer Niederlage Karpows vorgesehene
Revanchekampf hätte sich ebenfalls zu einem Marathon (und Horror-Szenario für
den Veranstalter) entwickeln können. Wie sollte man aus dieser komplizierten
Situation herauskommen?
Afred Kinzel, Ehrenpräsident des Deutschen Schachbundes und in Moskau
Stellvertreter des FIDE-Präsidenten Florencio Campomanes (Philippinen) sowie
Vorsitzender der Berufungskommission der WM 1984/85, hielt in einer
Stellungnahme vom 20. Februar 1985 fest: "Ende Januar reifte beim
FIDE-Präsidenten der Plan, einen Versuch zu unternehmen, den Marathon-Wettkampf
durch eine Vereinbarung mit beiden Spielern zu begrenzen." Es
ging darum, "einem langwierigen Ringen, das nicht nur für Karpow und mich,
sondern für die ganze Schachwelt, das Publikum eingeschlossen, nervenzehrend und
ermüdend geworden war, ein würdiges und billiges Ende zu bereiten"
(Kasparow, Politische Partie, S. 192).
Zunächst wurde (nach der 47. Partie) über eine Begrenzung des Matchs auf acht
weitere Partien verhandelt, Kasparow schlug den sofortigen Matchabbruch vor.
Nicht strittig war, dass ein neuer, im September 1985 zu beginnender Wettkampf
begrenzt sein sollte (24 Partien). Gestritten wurde über die Annullierung des
laufenden Matchs (bzw. Berücksichtigung der im laufenden Wettkampf erzielten
Punktzahl) und über die Führung des Titels "Weltmeister". Die Verhandlungen,
deren Verlauf aus seiner Sicht Kasparow in seiner Publikation von 1987
ausführlich behandelte (Kapitel Campos Zirkus, Politische Partie S.
190-227, Child of Change, pp. 127-150), zogen sich hin, sodass am 8. Februar
noch eine weitere Partie (insgesamt die 48., die erste im Hotel "Sport")
ausgetragen wurde, die Kasparow gewann: 5:3. Bevor weiter gespielt wurde, nahm
Kasparow eine Auszeit. Danach verfügte FIDE-Präsident Campomanes eine Auszeit.
Am Freitag, den 15. Februar 1985, verkündete Campomanes im Hotel "Sport" in
einer spektakulären Pressekonferenz, die von einem Vertreter des sowjetischen
Außenministeriums geleitet wurde, "dass der Wettkampf ohne Entscheidung
beendet wird. Es wird ein neues Match gespielt werden von null an - null zu null
(...) Mit Zustimmung beider Spieler (...) Dieser Titelkampf (...) hat die
physischen und vielleicht auch die psychischen Reserven aufgezehrt, nicht nur
die der Teilnehmer, sondern aller, die mit dem Wettkampf verbunden sind, wie
lose diese Verbindung auch sein mag. (...)" Schon seit der 32. Partie habe
er über einen Abbruch des Matchs nachgedacht. Als dann Karpow auf dem Podium
erklärte, er sei bereit, das Match am Montag, den 18. Februar, fortzusetzen, und
hinzufügte, mit der Hand winkend: "Ich glaube, wir sollten Kasparow
heraufbitten", schritt der Sprecher des Außenministeriums ein: "Aber die
Entscheidung ist gefallen." (Politische Partie, S. 210; Child of Change, p.
140: "But the decision is taken.") Als auch Kasparow seine Bereitschaft
erklärte, das Match fortzusetzen, beugte sich der Vertreter des
Außenministeriums vor und sagte "Die Pressekonferenz ist beendet." Er
ließ dann Campomanes zunächst fortfahren und empfahl danach eine
"Erholungspause" ("It's better to have a rest."). Nach einer Stunde und
38 Minuten Pause verkündete Campomanes eine Konsensformel: "Der Weltmeister
akzeptiert die Entscheidung des Präsidenten, der Herausforderer unterwirft sich
der Entscheidung des Präsidenten."
Vor der Öffentlichkeit stand FIDE-Präsident Campomanes als "Bösewicht" dar, der
eine unpopuläre und vor allem unsportliche, regelwidrige Entscheidung getroffen
hatte. Tatsächlich hat Campomanes damals die Verantwortung für die
Abbruch-Entscheidung übernommen. Aber war er wirklich der Autor und Regisseur
des Schauspiels, das damals in Moskau inszeniert wurde? Kasparow wusste mehr,
als er 1987 andeutete, wenn er von Absprachen mit "den sowjetischen
Offiziellen" sprach. Karpow habe sich für die Fortsetzung des Kampfes
ausgesprochen, weil man ihm seinen kostbaren Punktevorsprung nehmen wollte.
"Aber das passte den Funktionären nicht ins Konzept", heißt es in der
deutschen Fassung (Politische Partie, S. 215), während im englischen Original
steht: "But the Russians didn't like this" (Child of Change, p. 143)!
Übrigens: Garri Kasparow hat sich nachträglich (1987) zu einer positiven
Bewertung all dieser Vorgänge im Februar 1985 durchgerungen: "Nun, ich hatte
'glasnost' knallhart praktiziert. Da hier ein Konflikt einmal vor aller Augen
ausgetragen und in den Medien offen darüber berichtet wurde, hatte dieser
Skandal, wie ich meine, auch sein Gutes" (Politische Partie, S. 217; Child
of Change, p. 144).
Kasparow hatte die Schilderung des Wettkampfes mit der Aussage eingeleitet, das
sowjetische Schach sei immer politischen Einflüssen ausgesetzt gewesen, aber er
wagte es selbst 1987 nicht, diese Aussage für seinen Wettkampf mit Karpow
1984/85 zu verifizieren und zu konkretisieren. Sein Zorn richtete sich gegen
Karpow, Campomanes, Kinzel, den Schiedsrichter und die Führung des sowjetischen
Schachverbandes, aber nicht gegen bestimmte Personen der politischen Führung der
UdSSR.
Alexander Nikitin berichtete (1991), dass Kasparow am Abend des 13. Februar 1985
vom Chef des Wettkampfes Demitschew angerufen und zum Nachgeben überredet wurde:
"er riet ihm, nicht die Hilfe einflussreicher Persönlichkeiten in Anspruch zu
nehmen. 'Den Wettkampf werden Sie sowieso nicht gewinnen', sagte er zu dem
Jungen. Garri verstand diesen Wink und sah davon ab, sich an Alijew zu wenden"
(Mit Kasparow zum Schachgipfel, S. 178).
Gaidar A. Alijew (1923-2003) arbeitete seit 1941 für die sowjetische
Staatssicherheit und war von 1967 bis 1969 Vorsitzender des KGB beim Ministerrat
von Aserbeidschan. Von 1969 bis 1982 war er Erster Sekretär des ZK der KP von
Aserbeidschan und von 1982 bis 1987 Erster Stellvertretender Vorsitzender beim
Ministerrat der UdSSR sowie von 1982 bis 1987 Vollmitglied des Politbüros der
KPdSU. 1987 musste Alijew Ministerrat und Politbüro "aus gesundheitlichen
Gründen" verlassen, da er Gorbatschows politischen Kurs nicht unterstützte. Von
1993 bis 2003 war er Präsident der Republik Aserbeidschan.
Kasparows Trainer Nikitin behauptete 1991 (a.a.O., S. 174), der Abbruch des
Wettkampfes sei nach der 47. Partie "auf der Ebene des ZK der KPdSU"
beschlossen worden (ohne dies freilich zu belegen): "Die Parteibosse
erteilten dem Leiter der Kasparowschen Delegation Mamedow die Weisung, sich
nicht in das bevorstehende Geschehen einzumischen, das durch einen erfahrenen
Regisseur erarbeitet wurde."
In einer Dokumentation zum Sowjetschach bei BBC (Red Squares, 1.
September 1993) wurde die Aussage Campomanes', er habe den Abbruch des
Wettkampfes allein im Interesse des Schachs beschlossen und er sei heute noch
überzeugt, richtig entschieden zu haben, kommentiert mit der Aussage, in
Wirklichkeit habe Demitschew, Chef des Wettkampfes und Politbüro-Mitglied, die
Anweisung erteilt, das Match zu stoppen (Quelle: Mark Crowther im
Usenet). Aber: Wäre Kulturminister Demitschew, Kandidat und nicht Mitglied
des Politbüros, in der Lage gewesen, sich gegen eine Intervention von Kasparows
Gönner Alijew, Mitglied des Politbüros und stellvertretender Vorsitzender des
Ministerrats der UdSSR, durchzusetzen? Das sowjetische Kulturministerium erhielt
Weisungen vom Ministerrat der UdSSR und vom ZK-Sekretär für Ideologie, das
war von 1976-1987 Michail W. Simjanin (1914-1995).
Auf welchem Level der KPdSU-Hierarchie wurde der Abbruch des Wettkampfes
beschlossen (falls es einen solchen Beschluss gegeben haben sollte)?
Am 6. Februar 1985 (zwei Tage vor der 48. Partie des Karpow-Kasparow-Matches)
bestätigte die "Prawda" offiziell eine ernste Erkrankung Tschernenkos. Am
11. März 1985, einen Tag nach dem Tod Tschernenkos, wurde Michail Sergejewitsch
Gorbatschow zum neuen Generalsekretär der KPdSU gewählt. Es war Alexander
Jakowlew, der die Rede vorbereitete, die Michail Gorbatschow zur Beerdigung von
Konstantin Tschernenko halten sollte. Klar war, dass diese Rede einen
programmatischen Charakter haben würde. Da zur Beerdigung ausländische
Staatsmänner, darunter US-Präsident Reagan, erwartet wurden, bat Gorbatschow
Jakowlew außerdem, ein
außenpolitisches Memorandum vorzubereiten. Es war am 12. März 1985 fertig.
Im Sommer 1985 wurde Jakowlew vom Politbüro als Leiter des ZK-Referats für
Propaganda bestätigt. So konnte er 1985 seine Parteikarriere an der Position
fortsetzen, die er 1973 verlassen hatte: "Jetzt konnte ich beherzter und
kühner agieren, unabhängiger und nicht irgendwo angebunden." (Jakowlew,
a.a.O., S. 465).
An dieser Stelle seiner Autobiografie angekommen, schilderte Jakowlew seinen
ersten Zusammenstoß mit dem KGB. Er setzte sich dafür ein, die Benutzung
anonymer Denunziationen zu verbieten. Danach folgt ein Abschnitt, der
anscheinend (scheinbar?) keine Beziehung zum Kontext hat:
"In jene Zeit fiel eine andere sehr seltsame Geschichte. Ich arbeitete noch
im Institut der Akademie, als ich Zeuge eines Gesprächs zwischen Gorbatschow und
Tschernenko über den Fortgang der Schachpartie zwischen Karpow und Kasparow
wurde. Karpow erlitt eine Niederlage. Tschernenkos Umgebung bestand darauf, man
müsse einen Sieg Kasparows bei diesem Wettkampf um jeden Preis verhindern.
Redereien über die Ermüdung der beiden Wettkampfteilnehmer kamen auf, zudem hieß
es, Kasparow würde im Fall eines Sieges die UdSSR verlassen usw. Ich sagte
damals zu Michail Sergejewitsch, man dürfe Sport und Politik nicht vermengen.
(...)" (Jakowlew, a.a.O., S. 466).
Karpow erlitt eine Niederlage am 14.12.1984 zum Stand von 5:1 zu seinen Gunsten.
Diese Partie hat Jakowlew wohl nicht gemeint, denn am 15. Dezember 1984 traf
Michil Gorbatschow an der Spitze einer Delegation des Obersten Sowjet am
Londoner Flughafen Heathrow ein. Karpow erlitt zwei weitere Niederlagen am 30.
Januar 1985 (5:2) und am 8. Februar 1985 (5:3). Es handelt sich also vermutlich
um eine der beiden letzten Partien vor dem Abbruch des Wettkampfes, die den
todkranken Parteichef Konstantin U. Tschernenko im Gespräch mit Gorbatschow über
Karpow und Kasparow nachdenken ließen. Tschernenko litt an einem Lungenemphysem.
Schon wenige Monate nach seiner Wahl war er nicht mehr in der Lage, bei
öffentlichen Auftritten den auf speziellen Kärtchen geschriebenen Text fließend
abzulesen. Er hatte Probleme beim Atmen, aber er sprach mit Gorbatschow über das
Match Karpow-Kasparow, berichtete Jakowlew.
Jakowlews Erinnerung ist kein Beleg für Nikitins Behauptung, dass der Abbruch
des Wettkampfes Karpow-Kasparow auf der Ebene des ZK der KPdSU beschlossen
wurde, jedoch (zumindest) ein Indiz dafür, dass es auf höchster Ebene
Versuche gab, auf den Matchverlauf Einfluss zu nehmen.
Wer wohl mit Jakowlews Formulierung "Tschernenkos Umgebung" gemeint ist? In
Jakowlews Autobiografie ist mehrfach die Rede von dem "Umfeld Tschernenkos" (a.a.O.,
S. 441 u. S. 445) oder der "Küche von Tschernenko" (S. 445), doch der Autor
konnte oder wollte diese Angabe nicht präzisieren. Wer konnte, gestützt auf
welche Informationen, das Gerücht verbreiten, Kasparow würde im Falle eines
Sieges die UdSSR verlassen?
Kasparow hatte sich 1985 eben erst in das Einparteiensystem der UdSSR
integriert: mit 20 Jahren (1983) wurde er Kandidat der Kommunistischen Partei
und mit 21 (1984) Parteimitglied (Politische Partie, S. 42). Das bedeutete
zugleich, dass man ihn überprüft hatte und für ideologisch zuverlässig hielt.
Kasparows Trainer Nikitin berichtete, dass sein Schützling seit dem Sommer 1983
von einem aserbeidschanischen KGB-Offizier begleitet wurde, der den Auftrag
hatte, Kasparow zu helfen. Dieser KGB-Mitarbeiter war bei allen Auslandsreisen
Kasparows dabei bis zum Wettkampf in Sevilla 1987 (Nikitin, a.a.O., S. 154).
Kasparow erwähnte dessen Namen in der Politischen Partie (S. 287 u. S.
310): Litwinow.
Im Sommer 1993 erschien in der russischen Zeitschrift "Ogoniok" ein
Beitrag, der belegen sollte, dass Garri Kasparow ein Opfer finsterer
Machenschaften war. 1993 - inzwischen war Kasparow aus der KPdSU ausgetreten und
Mitbegründer einer neuen Partei geworden, die UdSSR existierte nicht mehr,
Kasparow war Mitarbeiter des "Wall Street Journal" und die Schachwelt
litt unter der im Frühjahr eingetretenen Spaltung in Weltschachbund FIDE und
Kasparows PCA. Kasparows Privat-Match gegen Nigel Short um die
Times-Schachweltmeisterschaft in London stand bevor.
Vitali Melik-Karamow war der Verfasser des sechs Seiten umfassenden Ogoniok-Beitrages.
Sein erster Satz lautete: "Die Geschichte, die ich jetzt erzählen werde, ist
so unglaublich, dass ich, der ich Zeuge von vier Karpow-Kasparow-Wettkämpfen
war, sie selbst nicht glauben kann." Als Kern des Beitrages wurde in der
Schachpresse (z.B. Die Schachwoche, 36-1993, S. 30) eine neue Variante in
einem alten "Spionagefall" betrachtet. Ein in Frankreich lebender ukrainischer
Großmeister soll der Maulwurf gewesen sein, der Kasparows Spielgeheimnisse bei
der WM 1984/85 an Karpow verriet. Der betroffene GM erhielt durch den Anruf des
Moskauer Korrespondenten der britischen "Sunday Times" Kenntnis von den
Anschuldigungen, berichtete er in einer
Stellungnahme für die französische Schachzeitschrift "Europe Echecs"
(9-1993). Der Autor Vitali Melik-Karamow war ihm als Pressemann Kasparows
bekannt.
Der Text des Ogoniok-Artikels war durch eine in fünf Teilen im Usenet (rec.games.chess)
vom 15.-22.8.1993 publizierte englische Übersetzung von Ted Schuerzinger weithin
bekannt. Während des Lloyds Bank Turniers 1993 in London wurde viel über den
Ogoniok-Artikel gesprochen, berichtete seinerzeit der englische
Schachjournalist
Mark Crowther. Der Verfasser des Ogoniok-Beitrages wurde dann auch
für die am 1. September 1993 ausgestrahlte
BBC-Dokumentation "Red Squares" befragt.
Vitali Melik-Karamow stützte sich in seinem Artikel auf "KGB-Dokumente" und
Aussagen des pensionierten KGB-Oberstleutnants Viktor Petrowitsch Litwinow.
An einer Stelle wird Litwinow folgendermaßen zitiert: "Garri Kasparow,
ein junger Mann von 18 Jahren, der ständig ins Ausland reiste, war nach Ansicht
der Fachleute ein Spieler mit einer glänzenden Zukunft, was, wie wohl bekannt
ist, das Interesse in gewissen Kreisen des Westens (insbesondere in den USA)
erweckte - ein Interesse, das so weit ging, ihm für den bevorstehenden langen
Kampf gegen Karpow die Staatsbürgerschaft anzubieten." Ted Schuerzinger
übersetzte "interests which were prepared to offer him citizenship for the long
struggle ahead with Karpov" und erläuterte, dass ihn diese Textpassage irritiert
habe, doch im russischen Text habe Litwinow das Wort "graschdanstwo" benützt,
das eben "Staatsbürgerschaft" bedeute.
Ein junger Mann von 18 Jahren war Kasparow im Jahre 1981. Es geht hier also um
altes KGB-Material, das KGB-Offizier Litwinow gesehen haben will, das nach
seinen Worten aber wahrscheinlich schon vor dem August-Putsch 1991 vernichtet
wurde. Dieses alte Material ist möglicherweise die Quelle für das durch Jakowlew
bezeugte Gerede 1985, Kasparow würde im Falle eines Sieges über Karpow die UdSSR
verlassen.
Laut Melik-Karamow akzeptierten der junge Mann aus Baku und seine Mutter die
"Betreuung" durch Litwinow, weil sie sich dadurch Schutz gegenüber Moskau und
einen direkten Draht zum Führer Aserbeidschans, Alijew, versprachen.
Litwinow musste in Moskau Generalleutnant Iwan Pawlowitsch Abramow Bericht
erstatten, dem Chef des für die Bekämpfung von ideologischer Subversion
(Dissidenten) zuständigen fünften Direktorats des KGB. Diese KGB-Abteilung wurde
gemäß ZK-Beschluss im Jahre 1967 gegründet und 1989 unter Gorbatschow
abgeschafft. I. P. Abramow war der Nachfolger von Armeegeneral
Filip Denisowitsch
Bobkow, der die 5. Hauptverwaltung des KGB vom 23. Mai 1969 bis 18. Januar
1983 geleitet hatte und dann zum ersten stellvertretenden Vorsitzenden des KGB
der UdSSR befördert wurde. Vorsitzender des KGB der UdSSR war von 1982 bis 1988
Viktor Michailowitsch Tschebrikow (1923-1999).
Ob Alexander Jakowlew Generalleutnant Iwan Pawlowitsch Abramow näher kannte, ist
seiner Autobiografie nicht zu entnehmen. Im kommentierten Personenverzeichnis
ist ein KGB-General Abramow verzeichnet (ohne Vor- und Vatersnamen), der sich
während der Olympischen Spiele in Montreal 1976 mit General Sorin in Kanada
aufhielt (a.a.O., S. 869). Die beiden Generale und ihre Gehilfen machten Jagd
auf den 17-jährigen (nicht volljährigen) russischen Turmspringer
Sergei Nemzanow, der in Kanada um Asyl bat, weil er sich
in eine junge, reiche Amerikanerin verliebt hatte. Nach Ansicht der
KGB-Sportsicherheit waren der kanadische und der amerikanische Geheimdienst
an dieser Geschichte beteiligt. Jakowlew, der damals Botschafter in Kanada war,
wurde wegen dieser Angelegenheit von Moskau "gewaltig" unter Druck gesetzt (a.a.O.,
S. 412 f.).
Nach seiner Rückkehr aus Kanada interessierte sich Alexander Jakowlew, der, wie
oben erwähnt, Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale
Beziehungen sowie Berater Michail Gorbatschows wurde, für die
Ideologieverwaltung des KGB, also für das fünfte KGB-Direktorat. Jakowlew
unterhielt sich über dieses Thema mit Wladimir Alexandrowitsch Krjutschkow (geb.
1924), der von 1974 bis 1988 Chef der ersten Hauptverwaltung des KGB
(Auslandsspionage) und stellvertretender Vorsitzender des KGB der UdSSR war:
"Krjutschkow umschmeichelte mich zielsicher wie einen Freund (...) Er biederte
sich buchstäblich an, rief mich dauernd an, lud mich in die Sauna ein und gab
sich in jeder nur denkbaren Weise als Reformer aus" (a.a.O., S. 448 f.).
Laut Jakowlew kritisierte Krjutschkow in den Gesprächen mit ihm den
KGB-Vorsitzenden Tschebrikow wegen dessen "Konservatismus und professioneller
Schwäche" und den stellvertretenden KGB-Vorsitzenden (und früheren Chef des
5. KGB-Direktorats) Bobkow "als einen Mann, der die Andersdenkenden erwürge
und die ganze Intelligenzija gegen die Partei aufbringe" (a.a.O., S. 449).
Nicht leicht zu verstehen ist, dass Alexander Jakowlew in diesem Zusammenhang
gar nicht I. P. Abramow erwähnt, der seit 1983 als Chef des 5. KGB-Direktorats
den Kampf gegen ideologische Subversion leitete und Nachfolger Bobkows in diesem
Amt war. 1988 unterstützte Jakowlew im Politbüro Krjutschkows Kandidatur für den
Posten des KGB-Chefs: "Zwei, drei Wochen nach seiner Ernennung zeigte
Krjutschkow sein wahres Gesicht. Es war abscheulich, wie er sich unverhohlen
unter den Gegnern der Perestroika einreihte und wiederum die Feinde und die
Einflussagenten als das Böse beschwor" (a.a.O., S. 618). "Ich bedaure es, dass
ich den Wechsel des KGB-Vorsitzenden unterstützte. Aber damals habe ich
geglaubt, dass Krjutschkow die geeignete Figur für die Funktion wäre. (...) Der
Instinkt hatte mich im Stich gelassen" (a.a.O., S. 624 f.). Im
August 1991 leitete W.
A. Krjutschkow den "Putsch"
gegen Michail Gorbatschow.
Eine der ersten ideologischen Lektionen, die Kasparows aserbeidschanischer
KGB-Betreuer Litwinow von seinem Moskauer Chef, Generalleutnant Abramow,
erhielt, bestand in dem Satz: "Der Weltmeister ist eine politische Figur. Wir
glauben, dass Kasparow für diesen Titel noch nicht reif genug ist."
Als Kasparow jedoch in die Bundesrepublik Deutschland eingeladen wurde, wo das
Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL vom 28. Mai bis 4. Juni 1985 ein Match
über sechs Partien gegen den westdeutschen GM Dr. Robert Hübner sowie ein
umfangreiches Interview mit Kasparow arrangierte, erhielt der 22-Jährige eine
Ausreiseerlaubnis. Nikitin: "Erstmals kam in in dieser renommierten
Zeitschrift ein sowjetischer Sportler zu Wort, der offen zu Problemen unseres
Sports Stellung nahm. (...) An dieser Stelle sei nur so viel gesagt, dass das
Staatliche Komitee für Körperkultur und Sport der UdSSR der Reise sein 'okay'
gab (...)" (a.a.O., S. 184). Die ausdrückliche Erlaubnis zu Reise und
Interview hat Kasparow in "Child of Change" erwähnt ("The Sports Committee
gave me permission to travel, but no allowance for out-of-pocket expenses. This
was unusual and should have put me on my guard"; p. 160), in der deutschen
Fassung wurde diese Passage jedoch nicht übersetzt (vergl. "Politische Partie",
S. 242).
Nikitin schrieb, dass Kasparow ohne Trainer, aber in Begleitung einer
"kompetenten" Person (Litwinow) nach Hamburg reiste. Horst Metzing,
Geschäftsführer des Deutschen Schachbundes und Schiedsrichter des
Kasparow-Hübner-Matchs holte Kasparow am 26. Mai am Flughafen Frankfurt/Main ab
und flog mit ihm von dort aus nach Hamburg weiter, kann sich heute aber nicht
mehr daran erinnern, wer Kasparow begleitete. Dass Kasparow in Hamburg nicht
allein war, registrierte seinerzeit der Schachjournalist FM Gerd Treppner:
"Und schließlich gab es da noch Boris Spassky, den offiziellen Sekundanten
Hübners ( Kasparov hatte nur einen Begleiter, aber wohl keinen eigentlichen
Sekundanten)" (Rochade 6-1985, S. 4).
Die ausdrückliche Erlaubnis zu dem SPIEGEL-Interview bewog Vitali
Melik-Karamow, den Verfasser des Ogoniok-Beitrages von 1993, zu der
Spekulation, man habe Kasparow eine Falle stellen wollen. Wenn Kasparows
Temperament mit ihm durchgegangen wäre, hätte man ihn wegen anti-sowjetischer
Aussagen verfolgen und schließlich disqualifizieren können - ein "alter Plan,
den man in der Kortschnoi-Ära angewandt" habe.
Litwinow berichtete, dass der aserbeidschanische KGB eigentlich gegen diese
Reise war. Kasparow hätte sich erst einmal abregen sollen. Doch nicht nur das
ZK, sondern auch das Sportkomitee und die sowjetische Schachföderation hätten
Kasparow geradezu zu diesem Interview gedrängt. Er habe dann mit Garri
vereinbart, dass dieser in dem Interview nur über Schach sprechen würde. Nicht
über die Regierung, nicht über Politik!
Als dann in Heft 23 des SPIEGEL am 3. Juni 1985 zwanzig Seiten zum
Interview und Hübner-Match erschienen, war der Eindruck in der westlichen
Öffentlichkeit wie von Litwinow gewünscht. Das Schach-Echo berichtete zu
Kasparows Hamburger Gastspiel: "Trotz aller Schärfe verhielt sich Kasparow
einige Male auch wie ein geschickter Diplomat, so als er meinte, die politische
Führung in Moskau habe keine Zeit, sich mit den Winkelzügen der Karpomanes und
Genossen zu befassen..." (Schach-Echo, 7-1985, S. 235). FM Treppner
bilanzierte das Kasparow-Interview mit den Worten: "Er ist Mitglied der
KPdSU, und bei aller Schärfe seiner Vorwürfe wird man kaum einen finden, der das
politische, bzw. gesellschaftliche System als Ganzes betrifft. Beim
Pressegespräch unterschied er nochmals sehr deutlich zwischen Personen und Land;
(...) Dieses Vorhaben, einerseits sich gegen einen Klüngel von
Schachfunktionären durchzusetzen und andererseits politisch zumindest nicht auf
Gegenkurs zu gehen, ist natürlich gerade in einem totalitären System, wo Staat
und Sport besonders eng verbunden sind, schwer und brisant" (Rochade,
6-1985, S. 1 u. S. 3). Kasparows Trainer Nikitin hielt als Resultat fest,
"dass die Ergebnisse der Reise anschließend als gut bezeichnet wurden" (a.a.O.,
S. 184).
Kasparow selbst stellte 1986 fest: "Mein Interview in der Zeitschrift 'Der
Spiegel' war buchstäblich in der Menge äußerst unterschiedlicher Erklärungen und
Presseveröffentlichungen untergegangen" (Garri Kasparow,
Weltmeisterschaft 1985, Düsseldorf 1986, S. IV), sprach jedoch auch (S. V)
von einer neuen, der Öffentlichkeit nicht bekannten "Intrige".
Erst in seinem 1987 veröffentlichten Buch enthüllte Garri Kasparow, dass für den
9. August 1985 eine Sondersitzung des sowjetischen Schachbundes anberaumt war,
auf der seine "förmliche Disqualifikation" beschlossen werden sollte. Das
SPIEGEL-Interview hätte der Vorwand dafür sein sollen, Kasparow das Recht
auf die Teilnahme am WM-Match (Beginn 2. September 1985) abzusprechen. Diese
Entscheidung sollte von einer Kampagne gegen Kasparow in der sowjetischen Presse
begleitet werden: "Mysteriöserweise können jetzt jedoch keinerlei offizielle
Unterlagen zu diesen Vorhaben gefunden werden." (Child of Change, p. 163;
Politische Partie, S. 247).
Dominic Lawson von der Londoner "Financial Times" hat die Geschichte von
einer zweijährigen Sperre Kasparows am 19. Oktober 1985 in die Welt gesetzt. Der
frühere KGB-Chef Aserbeidschans und Politbüro-Mitglied Gaidar Alijew habe sich
sofort mit Kasparow ins Flugzeug nach Moskau gesetzt: "Von der Resolution war
nichts mehr zu hören" (Schach-Echo 11-1985, S. 404).
Erst 1987 enthüllte Kasparow, was er im Sommer 1985 unternommen hatte:
"Wieder einmal wandte ich mich an die Regierung meiner Sowjetrepublik ("I
turned, as usual, to my own republic, where the officials were again very
helpful", steht im englischen Text - p. 162), die auch diesmal nicht zögerte,
mir zu helfen. Bald jedoch wurde klar, dass ich diesmal noch mehr politische
Schubkraft mobilisieren musste als zuvor. Im April hatte eine größere
Vollversammlung der Partei stattgefunden, bei der deutlich geworden war, dass
die Zukunft neuen Männern gehörte. Der Mann, an den wir uns diesmal wandten, war
Alexander Jakowlew, heute Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen
Partei der Sowjetunion und Leiter der Propagandaabteilung. (...) Als meine
Gewährsleute ihm das Problem schilderten (englischer Text: "when the problem
was put to him, he said to the officials", p. 163), sagte er zu ihnen:
'Dieses Match wird stattfinden.' " (Politische Partie, S. 246).
Laut Litwinow hat der KGB in Moskau Kasparows Kritik an der sowjetischen
Schachföderation im SPIEGEL zunächst als "anti-sowjetisch" betrachtet.
Litwinow befürchtete Schlimmes und rief Kasparow an, der auf dem Weg zum ZK war.
Später habe ihn Kasparow angerufen: "Es ist alles in Ordnung, Jakowlew hat mich
angehört." Daraufhin sei er zu seinen Vorgesetzten gegangen und habe berichtet,
Garris Reise sei beim ZK gut angekommen, insbesondere bei Jakowlew, und der habe
das Lob nach oben (also zu Gorbatschow) weitergeleitet.
Vitali Melik-Karamow ergänzte, dass ihm Alexander Nikolajewitsch Jakowlew bei
einer Ogoniok-Jubiläumsfeier später gesagt habe, dass sich in den
Archiven des Zentralkomitees sein Bericht über Kasparows Verhalten befinden
müsste, den er für den Generalsekretär vorbereitet habe. Michail Gorbatschow sei
damals ziemlich verärgert über Kasparow gewesen, aber, so Jakowlew, "Ich
sagte ihm, es steht uns nicht zu, die Champions des Sports zu ernennen, und
Michail Sergejewitsch stimmte mir zu."
Da die Glaubwürdigkeit von Usenet-Beiträgen nicht immer über allen
Zweifel erhaben ist, ist es bemerkenswert, dass Alexander N. Jakowlews
Erinnerungen zu der 1993 veröffentlichten Übersetzung des Ogoniok-Artikels
passen.
Jakowlew schrieb (a.a.O., S. 466): "Im Sommer 1985 spitzte sich diese Frage
erneut zu, und so verfasste ich ein kurzes Memo ans ZK, in dem ich meinen
Standpunkt wiederholte, im Sport sei das sportliche Prinzip strikt zu beachten.
Hat einer eine Niederlage erlitten, so ist er eben unterlegen. Im Sekretariat
des ZK stimmten dem alle zu. Kasparow siegte und damit war die Sache zu Ende.
Die Leidenschaften legten sich."
Als die Sondersitzung des sowjetischen Schachverbandes am 9. August 1985
stattfand, war die eigentliche Schlacht schon geschlagen. Der Verband sprach
lediglich die Empfehlung aus, dass sowjetische Großmeister westlichen Medien
keine Interviews geben sollten. Kasparow wurde nicht disqualifiziert und konnte,
nicht zuletzt dank Jakowlews Intervention, am 9. November 1985 Weltmeister
werden.
Gerald Schendel / 28.11.2005