Freestyling - zwischen Formel Eins und
Advanced Chess
Vor dem 3. Freistil-Turnier am 16./18.
Juni
Arno Nickel (Foto: H.W. Schmitt)
"Nach dem Turnier ist vor dem Turnier",
heißt es auch beim Freestyling. Am 16. Juni startet auf dem
ChessBase-Server playchess.com das 3.PAL/CSS-Freistil-Turnier, wiederum
mit einem Preisfonds von 16.000 US-Dollar und auch dieses Mal offen für
jedermann. Geändert hat sich nur die Bedenkzeit: statt bislang 45 Minuten
Grundzeit und 5 Sekunden Zeitbonus pro ausgeführtem Zug stehen nun jedem Spieler
oder Team 60 Minuten und 15 Sekunden zur Verfügung. Diese Änderung stellte sich
als notwendig und sinnvoll heraus, um die Zentauren (damit wird die Kombination
Mensch/Maschine bezeichnet) im Duell mit den reinen Engines wenigstens etwas von
dem Gespenst der permanenten Zeitnot zu befreien, was auch insgesamt der
Qualität der Partien zugute kommen soll. Wie berichtet, war das Hauptturnier im
März von einem reinen Engine-Spieler namens Varkey mit dem Programm
Rybka und sensationellen 7,5 aus 8 gewonnen worden. Die mehr als 30
Titelträger, darunter auch einige Prominente, hatten es überwiegend nicht
geschafft, sich fürs Finale zu qualifizeren. Dieses entschied am Ende der als
Sponsor des Hydra-Projekts bekannt gewordene Zorchamp aus den
Vereinigten Arabischen Emiraten für sich. Wer oder was verbirgt sich hinter den
Teams, die am Finale teilnahmen? Darüber ist in der Öffentlichkeit bislang kaum
etwas bekannt geworden. Einer der Teilnehmer, der Berliner Fernschach-GM Arno
Nickel alias Ciron, hat hinter die Kulissen geschaut und Bilanz
gezogen. Freestyling bewegt sich seiner Ansicht nach auf einem
Experimentierfeld zwischen den beiden Polen Advanced Chess und einer
Variante des Schachsports, die der Formel Eins im Motorsport vergleichbar
ist.
Der Kick beim Spielen
Es ist nicht üblich, dass Verlierer nach
einem Turnier Begeisterungsrufe ausstoßen, doch was ist schon üblich bei einem
Freestyle-Turnier... Fast nichts, außer dem Kick beim Spielen, der jeden
wie ein Virus befällt, der sich einmal in eine solche Auseinandersetzung
hineingeworfen hat. "Unbedingt wiederholen!" heißt es da in e-mails nach dem
Turnier, frei nach der Devise "Wir hatten keine Chance, aber haben sie
genossen!" Wenn dem so ist, muss etwas dran sein an der freien Form des
Engine-Gebrauchs in einer Schachpartie, und man braucht sich um die Zukunft
dieser neuen Schachform des 21. Jahrhunderts keine Sorgen machen. Noch ist es
ein brachliegendes Experimentierfeld, wo nach den geeigneten Turnierformen,
Bedenkzeiten und Spielregeln gesucht wird. In welche Richtung sich
Freestyling entwickelt, wird nicht zuletzt von den jetzigen Experimenten
abhängen.
Die Grenzen zwischen den verschiedenen
Formen des Advanced Chess und der Methode Dreihirn sind beim
Freestyling fließend. Wahrscheinlich ist es letztlich diese freie Form des
Experimentierens, die sowohl bei Spielern als auch bei den Zuschauern den
besonderen Kick auslöst. Alle Ebenen und Facetten des computerunterstützten
Schachs kommen dabei kaleidoskopartig zum Vorschein, doch man weiß nie genau,
wie es konkret weiter geht, sei es in der Partie oder im Turnier insgesamt. Mal
schlägt das Pendel zugunsten der Advanced Chess Spieler aus, wie beim
1.PAL/CSSFreistil-Turnier 2005, wo drei Großmeister unter die letzten Vier
kamen, ein anderes Mal (2006) dominieren die Engines das Geschehen; sei es,
indem ihr Operator sich aller schachlichen Eingriffe während des Spiels enthält
(wie der Sieger des Hauptturniers Vigi Varkey) oder dass er die Rolle
eines Koordinators und kritischen Anwenders verschiedener Engines nach der Art
des Althöferschen Dreihirn einnimmt. Letzteres dürfen wir vom
diesjährigen Turniersieger Zorchamp annehmen, der zwar Zugriff auf den
vermeintlich leistungsstärksten Schachcomputer der Welt in Gestalt des
Multi-Parallelrechners Hydra hatte, aber sich nicht den Spaß nehmen ließ,
selbst als Zentaur zu agieren. Zorchamp ist auf playchess.com seit
vielen Jahren bekannt für seine hervorragenden Kenntnisse und Fähigkeiten auf
diesem Sektor (nicht zuletzt, was die Erarbeitung engine-gerechter
Eröffnungsbücher betrifft), und er wird auch innerhalb des Hydra-Teams
als Programmtester geschätzt.
Dualrechner und
64-bit-Programme
Eine möglichst leistungsstarke Hardware
spielte diesmal, bei der verkürzten Bedenkzeit von 45 Minuten (plus 5 Sek. pro
Zug), eine noch größere Rolle als beim Turnier im Vorjahr. Wenn wir es auch
nicht von allen Teams mit Sicherheit sagen können, trifft für die meisten
Finalteilnehmer wohl zu, dass sie einen oder sogar mehrere schnelle Dualrechner
im Einsatz hatten. Und, was die erfolgreichste Engine des 2. PAL/CSS-Freistil-Turniers
betrifft, Rybka, so lief diese im Finale überwiegend in der
64-bit-Version (was logischerweise auch ein 64-bit-Betriebssystem auf dem
jeweiligen Rechner voraussetzt). Diese Version ist etwa 30-40 Prozent schneller
als die übliche 32-bit-Version.
Die köpfe hinter Rybka: IM Vasik Rajlich and IM Iweta Radzievicz
Vigi Varkey hatte das Hauptturnier
noch mit der 32-bit-Version gewonnen, dann aber für das Finale auf die
64-bit-Version aufgerüstet. Es hat ihm ausnahmsweise nicht viel genützt,
vermutlich weil die anderen Teilnehmer vorgewarnt waren und sich auf den in
London lebenden indischen Programmierer eingestellt hatten. Dafür klappte es
diesmal bei den anderen beiden Rybka-Engines, Relic und King Crusher,
noch besser als im Hauptturnier. Hinter Relic, der sich durch die
Tie-breaks schlagen musste, dann aber im Finale mit dem dritten Platz
überraschte, steht mit Darren DiAlfonso aus New Jersey (USA) ebenfalls ein
Programmierer, wobei dies in beiden Fällen aber nicht Schachprogrammierer
bedeutet. Der Schwede Björn Osterman mit dem Spielernamen King Crusher
ist ausnahmsweise kein Programmierer, allerdings ein erfahrener Computerspieler
mit über 10.000 Partien auf dem Server und einem entsprechend auf Erfolg
getrimmten Eröffnungsbuch.
IM Vasik Rajlich, Autor von Rybka
Ein Blick in die "black
box"
Handelt es sich bei Freistil-Spielernamen
zunächst mal um eine "black box", in die niemand von außen einen Einblick hat,
so war man besonders neugierig, Näheres über den Zweitplatzierten Rajlich
zu erfahren. Nicht ganz zufällig gelang es dem Rybka-Programmierer als
einzigem, sowohl das Hauptturnier als auch das Finale ohne eine einzige
Niederlage zu überstehen. Doch lag dies nicht etwa an einer besonders sicher
spielenden Privatversion seines Programms, sondern an der geballten
Schachkompetenz seines Teams, das zwei Internationale Meister, Vasik Rajlich
und Iweta Radziewicz, sowie einen Top-Großmeister, Michal Krassenkow,
vereinigte (siehe den Iweta Radziewicz' gelungenen Turnierbericht auf
rybkachess.com). Man braucht nur den pointierten Partiekommentar
Krassenkows zur Spitzenpartie Zorchamp-Rajlich zu lesen (siehe weiter
unten), um zu verstehen, dass dieses Team äußerst professionell zu Werke ging
und es bestens verstand, unnötige Risiken zu vermeiden. Am Ende reichten einige
wenige Arbeitssiege, um die Ernte einzufahren. Unser früherer Online-Kommentar,
wonach sich kein Großmeister für das Finale qualifiziert habe, bedarf insofern
einer kleinen Korrektur. Wenigstens einer kam durch, als Team-Mitspieler.
Eine kommentierte Partie liegt ebenfalls von
IM Dennis Breder alias Klosterfrau vor. Er beschreibt anhand
seiner unnötigen Niederlage gegen Relic in der letzten Runde
beispielhaft, wie schwierig es für Advanced Chess Spieler in diesem
Turnier war, gewinnträchtige Stellungen sauber zu verwerten und nicht
irgendwelche Zeitnotpatzer zu begehen. Diese Niederlage kostete den Godesberger
Bundesligisten den dritten Platz und damit 2.000 US-Dollar. Auch Dennis Breder
spielte nicht allein, sondern wurde von seiner Teampartnerin
Jana Samorukova unterstützt.
IM Dennis Breder und Jana
Samorukova
Schon die Eröffnungswahl unterscheidet die
Advanced Chess Spieler häufig von den reinen Engine-Spielern, wovon man
sich insbesondere beim Nachspielen der überaus originellen Partie
Rajlich-Klosterfrau überzeugen kann (1.Sf3 d5 2.d4 c6 3.c4 e6 4.e3 f5 wurde
mit der zweischneidigen Kampfansage 5.g4 beantwortet). Ein menschlicher Spieler
ohne Engine-Unterstützung würde hier alsbald den Überblick verlieren und im
Schnellschach schnell danebengreifen; hier jedoch wird demonstriert, zu welchen
Kunstgebilden es bei beiderseits intelligentem Computergebrauch kommen kann.
(Die Partie liegt leider nicht ausführlich kommentiert vor, findet sich aber in
der kompletten Turnierdatenbank und wird auch im Turnierbericht des Rajlich
Teams mit kurz gestreift.)
Alle Rekorde hinsichtlich des Umfangs
sprengte das tschechische Team Equidistance. Vier Spieler und sechs
Computer verbargen sich hinter diesem Namen: Patrik
Schoupal, Miroslav Kvicala, Jan Macura and Frantisek Nepustil,
alles Spieler mit einer FIDE-Elo
und zwei von ihnen aktive Fernschachspieler. Es überrascht nicht, dass die
aufwendige Koordination bei einem derart großen Team mehr als einmal zu großen
Zeitproblemen führte. Das konnte auch ein detailliert ausgearbeitetes
Eröffnungsbuch (mit etlichen Spezialvarianten, wie u.a. zum sizilianischen
Morra Gambit) letztlich nicht auffangen. Welches Potenzial das Team um
Patrik Schoupal hat, zeigte es bereits mit seiner Qualifikation zum Finale.
Für das 3. Freistil-Turnier wagte er die Prognose, dass sich wegen der
verlängerten Bedenkzeit nicht mehr als maximal ein reiner Engine-Spieler für das
Finale qualifizieren werde. Wenn dem so sein sollte, wäre dies sehr im Sinne des
Freistil-Konzepts, denn es lebt letztlich vom Einsatz menschlicher Spieler im
Unterschied beispielsweise zu reinen Computerturnieren. Der Witz beim
Freestyling ist allerdings, dass nicht mit Verboten reguliert und
reglementiert wird (sonst könnte man zum Beispiel über irgendeine Quote für
reine Engine-Spieler nachdenken), sondern durch schachlichen Wettkampf
entschieden wird, wer das Sagen hat. Insofern spiegelt ein Freistil-Turnier
immer auch sehr schön die Verhältnisse der Gegenwart wider, einschließlich der
Dominanz bestimmter Programme und der jeweiligen Hardware-Standards. Das ändert
sich im Laufe von wenigen Monaten durchaus signifikant, so dass bei jedem
Turnier stets ein etwas anderes Bild vorherrschen wird als bei den
vorangegangenen. Man darf bereits jetzt gespannt sein, ob und wie lange sich die
außergewöhnliche Dominanz der Rybka-Engines in diesem Jahr noch wird
behaupten können. Die Konkurrenz schläft bekanntlich nie, und mit den
angekündigten Versionen Shredder 10, Deep Fritz 9 und anderen Engines
wird auch hier garantiert immer wieder frischer Wind in der Auseinandersetzung
der Schachprogramme wehen.
Last, but not
least einige Informationen zu meinem eigenen Team namens Ciron. Ich
spielte zusammen mit einem guten Schachfreund, der erfreulicherweise einige
Bereiche und Stärken abdeckt, die mir weniger liegen. Silvo Lahtela ist
ein hervorragender Blitz- und Schnellschachspieler, der auf dem Fritz-Server
unter dem Namen Randori stets zwischen Elo 2400 und 2600 pendelt.
Silvo Lahtela
Mit Fernschach und
Computerschach, also meinen Domänen, hatte er dagegen bislang so gut wie nichts
zu tun. Wir legten bereits in der Vorbereitungsphase eine strikte Arbeitsteilung
fest, die sich als durchaus effektiv erwies, ohne hier ins Detail zu gehen.
Allerdings blieben auch wir vom besonderen Zeitdruck bei diesem Turnier nicht
verschont und sind weiterhin noch auf der Suche nach der idealen Form der
Zusammenarbeit. Wieweit soll man schachliche Fragen ausdiskutieren oder unter
dem Zeitaspekt lieber einem Spieler von vornherein die Führung in der Partie
überlassen? Insgesamt hatten wir den Eindruck, dass auch hier der Verzicht auf
allzu starre Festlegungen eher günstige Auswirkungen hat, zumal bestimmte
Erfahrungen erst gesammelt werden müssen. Wir durften letztlich die alte
Schachweisheit bestätigt sehen, wonach man "immer" (nein, gelegentlich!) die
falschen Partien gewinnt, verliert oder remis spielt, wobei die Niederlage in
der letzten Runde gegen Zorchamp, nach bereits erreichter Gewinnstellung,
dies auf dramatische Weise unterstrich.
Sieger des 2.Pal/CSS-Turniers: Zor- Champ
Auch wir gehen
hochmotiviert in das nächste Freistil-Turnier hinein und freuen uns auf
möglichst starke und ruhmreiche Gegner.
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Wir bieten zwei Datenbanken zum Download an:
1) Die
komplette Datenbank zum 2. PAL/CSS Freistil-Turnier
(CSS; 587 Partien)
2)
64 ausgewählte Partien zum Nachspielen...
Diese 64 Partien schlagen wir zum Nachspielen
vor, wenn es sich auch nicht bei allen um "gute" Partien handelt. Die Leser
mögen bitte bis zu drei Freistil-Partien für Schönheitspreise vorschlagen und
bis 31. Mai 2006 eine E-Mail an redaktion@computerschach.de
senden. (Wenn Sie eine der Partien vorschlagen, die nicht in der
Auswahldatenbank enthalten sein sollte, ist dies auch okay.) Das Ergebnis Ihrer
Wahl veröffentlichen wir einige Tage vor Beginn des 3. PAL/CSS Freistil-Turniers
am 16.-18. Juni.
Ausschreibung zum 3. PAL/CSS Freestyleturnier...
Anmeldung zum 3. PAL/CSS Freestyleturnier...
Siehe auch frühere Artikel:
Vorschau auf das 2. PAL/CSS-Freistil-Finale...
Das 16000-Dollar-Turnier für Jedermann...