Expeditionen in die Schachwelt

von ChessBase
13.07.2007 – Ist Schach endlich? Ist 2+1 im Schach immer 3? Warum kostet Kinder zu erziehen so viel Kraft? Prof. Dr. Christian Hesse, Mathematiker an der Universität Stuttgart und Autor des von Kritik und Publikum begeistert aufgenommenen Buches Expeditionen in die Schachwelt geht solchen und ähnlichen Fragen nach und zeigt, warum Schach vollkommener als das Leben ist. Nebenbei erklärt er, was man unter Münchhausens Trilemma versteht und warum sich im Leben nichts logisch behaupten lässt.Interview mit Christian Hesse...Zum Artikel...

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Expeditionen in die Schachwelt

Von Prof. Dr. Christian Hesse

Ultimately chess is just chess - not the best thing in the world and not the worst thing in the world, but there is nothing quite like it. W.C. Fields

Schach ist vollkommener als das Leben



Wenn Sie - wie ich - kleine Kinder haben, dann kommt Ihnen die folgende Art von Dialog vielleicht bekannt vor:

Ihr Kind: Warum kann ich nur ein Glas Apfelsaft haben?
Sie: Weil wir bald essen, ich möchte nicht, dass du dir den Appetit verdirbst!
Ihr Kind: Warum verdirbt Apfelsaft meinen Appetit? Sie: Weil er den Magen füllt und viel Zucker enthält!
Ihr Kind: Warum kann ich keinen Zucker kriegen?
Sie: Weil er durstig macht und nicht gut für deine Zähne ist!
Ihr Kind: Warum ist Zucker nicht gut für meine Zähne?
Sie: Zucker zu essen zieht Bakterien an und die machen Löcher in deine Zähne!
Ihr Kind: Warum machen Bakterien Löcher in meine Zähne?

An diesem Punkt könnten sich ein paar Dinge erschöpft haben, z.B. Ihre Geduld, und vielleicht fragen Sie sich, ob dieser Dialog je enden wird. Eine gute Frage. Logisch gesehen, könnte er tatsächlich nie enden: Fangen Sie mit einer beliebigen Frage an. Und nach jeder "Weil…." Antwort fragen Sie einfach "Warum?". So wird ein Trilemma geschaffen, ein Dilemma mit drei und nicht nur zwei unbefriedigenden Alternativen. Philosophen nennen dieses spezielle das Münchhausen-Trilemma. Dies sind die drei Alternativen:

1. Die Folge Frage, Antwort, Frage … geht ad infinitum weiter. Das bezeichnet man als endlosen Regress.

2. In der Folge von Fragen und Antworten könnte im weiteren Verlauf eine frühere Antwort wieder auftauchen. Das wird Zirkelschluss genannt. Wenn z.B. jemand behauptet, alle Gegner einer toleranten Einstellung seien dumm, und diese Haltung dann verteidigt, indem er erklärt: "Wenn sie nicht dumm wären, wären sie nicht dagegen", dann behauptet dieser Mensch nicht nur etwas, das sich im höchsten Grade selber widerspricht, sondern unterbreitet auch ein Zirkelschlussargument.

3. Man kann eine Behauptung als selbstverständlich erklären, Ex Cathedra sprechen oder eine höhere Autorität anrufen (z.B. Gott).

In der Mathematik, zum Beispiel, wird die dritte Möglichkeit gewählt. Man beginnt eine Theorie aus einem Satz so genannter Axiome zu konstruieren, d.h. Wahrheiten, die man an den Anfang stellt, die man nicht beweisen kann, aber als selbstverständlich annimmt. Aus diesen anfänglichen Wahrheiten werden dann weitere Wahrheiten abgeleitet: Neues Wissen folgt aus altem Wissen durch die Anwendung logischer Argumente (Rückschlussregeln wie der modus ponens). Berühmt in der Mathematik sind die Axiome Euklids, mit denen er seine epischen Studien der Geometrie begann, wie sein Axiom 1: "Dass man von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen könne."

Alle der drei erwähnten Alternativen sind intellektuell unbefriedigend. Und angesichts dieses Trilemma ist das Leben irgendwie unvollkommen. Wir können nie logisch etwas behaupten.

Wie steht's mit Schach?

Schach ist ein in sich abgeschlossenes Universum aus 64 Feldern mit 32 Figuren und bestimmten, genau festgelegten Bewegungsregeln. Ist es möglich, im Schach irgendetwas zu behaupten oder zu beweisen? Zum Beispiel die einfache Behauptung: "In einer bestimmten Stellung steht Weiß besser."

Man könnte versuchen, wie folgt zu argumentieren: Wenn Weiß einen bestimmten Zug spielt, dann steht Schwarz schlechter. Warum steht Schwarz schlechter? Weil Weiß nach jedem beliebigen Zug des Schwarzen immer besser steht. Warum steht Weiß immer besser? Weil Weiß nach jedem beliebigen Zug des Schwarzen, einen Zug hat, nach dem Schwarz schlechter steht…. Auch das sieht hier nach einem unendlichen Regress auf, genau wie der, dem wir zuvor begegnet sind.

Aber ein genauerer Blick zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Es gibt kein Münchhausen-Trilemma im Schach. Im Prinzip gibt es definitive Wahrheiten im Schach und hier kann man sehen warum.

Verändern Sie für einen Moment den Blickwinkel und beginnen Sie ganz am Ende der Partie: Stellen Sie sich eine Datenbank vor, die alle Stellungen enthält, in denen Schwarz matt ist. Sie enthält nur begrenzt viele Stellungen. Dann stellen Sie sich eine zweite Datenbank vor, die mit der ersten verbunden ist. Diese zweite Datenbank enthält alle Stellungen, in denen Weiß einzügig Matt setzen kann. Dann eine dritte Datenbank, die mit der zweiten verbunden ist, und in der Schwarz sich nicht dagegen verteidigen kann, dass Weiß ihn einzügig Matt setzt, und so weiter. Immer einen Halbzug weiter weg vom Matt. Man kann - im Prinzip - diesen Prozess folgerichtig bis zu Stellungen mit allen 32 Figuren und Weiß am Zug fortsetzen. Dann wird die Menge W all dieser Stellungen mit 32 Figuren über den kürzesten Weg in dieser Folge von Datenbanken mit einer Mattstellung verbunden. Ausgehend von einer dieser Stellungen mit 32 Figuren, zeigt der entsprechende Pfad die Züge bei perfektem Spiel beider Seiten. Ist Schwarz am Zug, dann gibt es keine andere Verteidigung, die länger hinauszögert, dass er matt gesetzt wird. Ist Weiß am Zug, gibt es keinen anderen Zug, der ihn schneller Matt setzen lässt. Die Menge W enthält so alle Stellungen, in denen Weiß den Gewinn erzwingen kann.

Etwas Analoges kann aus Perspektive des Schwarzen gemacht werden, indem man mit einer Datenbank aller Stellungen beginnt, in denen Weiß matt ist. Indem man ähnlich wie oben verfährt, erhält man eine Menge B von Stellungen mit 32 Figuren, in denen Schwarz, mit Weiß am Zug, einen forcierten Gewinn hat. Alle anderen Stellungen mit 32 Figuren, das heißt, alle außer denen in diesen Mengen W und B, bilden eine Menge D und führen bei bestem Spiel beider Seiten zu Remis.

Als Ergebnis kann man sich eine Datenbank vorstellen, die alle legalen Stellungen enthält und in der jede einzelne mit einem eindeutigen Urteil versehen ist: +1, ±0, -1, was Sieg für Weiß, Remis und Sieg für Schwarz bezeichnet. Somit haben wir im Prinzip einen Algorithmus entwickelt, der zu perfektem Spiel im Schach führt. In der Praxis ist das natürlich für die gesamte Menge an Stellungen mit 32 Figuren utopisch. Allerdings nicht mehr für Endspiele mit sechs Steinen und sogar für manche Endspiele mit sieben Steinen. Aber wichtiger, während objektive Wahrheit im Leben unmöglich ist, so ist sie, im Prinzip, im Schach möglich. In diesem Sinne ist Schach vollkommener als das Leben.

Dennoch gibt es im Schach Kuriositäten, die mit dem Thema dieses Beitrags verknüpft sind. Betrachten Sie zum Beispiel die folgende Stellung aus einer Diskussion, die sich mit Quantenlogik im Schach beschäftigte:

Vasilenko und Frolkin, 1995



Matt in 2
(a) Diagramm
(b) Nach den ersten beiden Halbzügen
(c) Vor den letzten beiden Halbzügen

Wenn Sie eine Stellung mit der Forderung "Weiß setzt in n Zügen matt" haben und Sie zwei Halbzüge machen, nämlich den besten weißen Zug und die beste schwarze Antwort, dann sollten Sie eine Stellung erhalten, an die Sie die Forderung "Weiß setzt in n -1 Zügen matt" stellen können. Aber im obigen Problem ist das nicht der Fall.

Ähnlich ist es, wenn Sie von der Ausgangsposition zwei Halbzüge zurückgehen und den letzten schwarzen Zug (wenn es nur einen gibt) und danach den letzten weißen (wenn es wieder nur einen gibt) zurücknehmen, und zu einer Stellung kommen sollten, an die Sie die Forderung "Weiß setzt in n+1 Zügen matt" richten können. Dies ist ebenfalls nicht der Fall im obigen Problem.

Tatsächlich erreichen Sie in allen drei Stellungen (a), (b), (c), egal, ob Sie vom obigen Diagramm zwei Halbzüge vor- oder zurückgehen, dennoch stets Stellungen mit der Forderung "Weiß setzt in 2 Zügen matt". Ein Fall von sehr ungewöhnlicher Arithmetik auf dem Schachbrett:

2-1=2 und 2+1=2. Und ein faszinierendes Beispiel, wo zwei Stellungen, die sich durch einen legalen Zug unterscheiden, eine logisch unterschiedliche Zukunft haben.

Finden Sie die Lösung in jedem der drei Fälle?
Hinweis: Denken Sie an die in Schachproblemen verwendete Konvention, dass das En Passant erlaubt ist, wenn bewiesen werden kann, dass der letzte Zug vor Erreichen der Diagrammstellung der Doppelschritt des Bauern war, der geschlagen werden soll.



Christian Hesse hat an der Harvard University promoviert und war bis 1991 Fakultätsmitglied der University of California in Berkeley. Seitdem ist er Professor für Mathematik an der Universität Stuttgart. Nachfolgend war er Gastprofessor und Gastdozent an Universitäten in der ganzen Welt, von der Australian National University in Canberra bis zur Universität von Concepcion in Chile. Vor kurzem veröffentlichte er das Buch "Expeditionen in die Schachwelt" ISBN 3-935748-14-0), eine Sammlung von etwa 100 Essays, das der Wiener Standard eines "eines der geistreichsten und lesenswertesten Bücher, die je über das Schachspiel verfasst wurden" nannte.

Christian Hesse ist verheiratet, hat eine sechs Jahre alte Tochter sowie einen zwei Jahre alten Sohn und lebt in Mannheim.

Ihm gefällt Voltaires Antwort, als sich jemand einmal bei ihm beklagte: "Das Leben ist hart." - "Verglichen womit?"

Die ChessBase GmbH, mit Sitz in Hamburg, wurde 1987 gegründet und produziert Schachdatenbanken sowie Lehr- und Trainingskurse für Schachspieler. Seit 1997 veröffentlich ChessBase auf seiner Webseite aktuelle Nachrichten aus der Schachwelt. ChessBase News erscheint inzwischen in vier Sprachen und gilt weltweit als wichtigste Schachnachrichtenseite.

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