Expeditionen in die Schachwelt
Von Prof. Dr. Christian Hesse
Ultimately chess is just chess - not the best thing in the world and not
the worst thing in the world, but there is nothing quite like it. W.C. Fields
Schach ist vollkommener als das Leben
Wenn Sie - wie ich - kleine Kinder haben, dann kommt Ihnen die folgende Art
von Dialog vielleicht bekannt vor:
Ihr Kind: Warum kann ich nur ein Glas Apfelsaft haben?
Sie: Weil wir bald essen, ich möchte nicht, dass du dir den Appetit verdirbst!
Ihr Kind: Warum verdirbt Apfelsaft meinen Appetit? Sie: Weil er den Magen füllt
und viel Zucker enthält!
Ihr Kind: Warum kann ich keinen Zucker kriegen?
Sie: Weil er durstig macht und nicht gut für deine Zähne ist!
Ihr Kind: Warum ist Zucker nicht gut für meine Zähne?
Sie: Zucker zu essen zieht Bakterien an und die machen Löcher in deine Zähne!
Ihr Kind: Warum machen Bakterien Löcher in meine Zähne?
An diesem Punkt könnten sich ein paar Dinge erschöpft haben, z.B. Ihre Geduld,
und vielleicht fragen Sie sich, ob dieser Dialog je enden wird. Eine gute Frage.
Logisch gesehen, könnte er tatsächlich nie enden: Fangen Sie mit einer beliebigen
Frage an. Und nach jeder "Weil…." Antwort fragen Sie einfach "Warum?". So wird
ein Trilemma geschaffen, ein Dilemma mit drei und nicht nur zwei unbefriedigenden
Alternativen. Philosophen nennen dieses spezielle das Münchhausen-Trilemma.
Dies sind die drei Alternativen:
1. Die Folge Frage, Antwort, Frage … geht ad infinitum weiter. Das bezeichnet
man als endlosen Regress.
2. In der Folge von Fragen und Antworten könnte im weiteren Verlauf eine frühere
Antwort wieder auftauchen. Das wird Zirkelschluss genannt. Wenn z.B. jemand
behauptet, alle Gegner einer toleranten Einstellung seien dumm, und diese Haltung
dann verteidigt, indem er erklärt: "Wenn sie nicht dumm wären, wären sie nicht
dagegen", dann behauptet dieser Mensch nicht nur etwas, das sich im höchsten
Grade selber widerspricht, sondern unterbreitet auch ein Zirkelschlussargument.
3. Man kann eine Behauptung als selbstverständlich erklären, Ex Cathedra sprechen
oder eine höhere Autorität anrufen (z.B. Gott).
In der Mathematik, zum Beispiel, wird die dritte Möglichkeit gewählt. Man beginnt
eine Theorie aus einem Satz so genannter Axiome zu konstruieren, d.h. Wahrheiten,
die man an den Anfang stellt, die man nicht beweisen kann, aber als selbstverständlich
annimmt. Aus diesen anfänglichen Wahrheiten werden dann weitere Wahrheiten abgeleitet:
Neues Wissen folgt aus altem Wissen durch die Anwendung logischer Argumente
(Rückschlussregeln wie der modus ponens). Berühmt in der Mathematik sind die
Axiome Euklids, mit denen er seine epischen Studien der Geometrie begann, wie
sein Axiom 1: "Dass man von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen
könne."
Alle der drei erwähnten Alternativen sind intellektuell unbefriedigend. Und
angesichts dieses Trilemma ist das Leben irgendwie unvollkommen. Wir können
nie logisch etwas behaupten.
Wie steht's mit Schach?
Schach ist ein in sich abgeschlossenes Universum aus 64 Feldern mit 32 Figuren
und bestimmten, genau festgelegten Bewegungsregeln. Ist es möglich, im Schach
irgendetwas zu behaupten oder zu beweisen? Zum Beispiel die einfache Behauptung:
"In einer bestimmten Stellung steht Weiß besser."
Man könnte versuchen, wie folgt zu argumentieren: Wenn Weiß einen bestimmten
Zug spielt, dann steht Schwarz schlechter. Warum steht Schwarz schlechter? Weil
Weiß nach jedem beliebigen Zug des Schwarzen immer besser steht. Warum steht
Weiß immer besser? Weil Weiß nach jedem beliebigen Zug des Schwarzen, einen
Zug hat, nach dem Schwarz schlechter steht…. Auch das sieht hier nach einem
unendlichen Regress auf, genau wie der, dem wir zuvor begegnet sind.
Aber ein genauerer Blick zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Es gibt kein Münchhausen-Trilemma
im Schach. Im Prinzip gibt es definitive Wahrheiten im Schach und hier kann
man sehen warum.
Verändern Sie für einen Moment den Blickwinkel und beginnen Sie ganz am Ende
der Partie: Stellen Sie sich eine Datenbank vor, die alle Stellungen enthält,
in denen Schwarz matt ist. Sie enthält nur begrenzt viele Stellungen. Dann stellen
Sie sich eine zweite Datenbank vor, die mit der ersten verbunden ist. Diese
zweite Datenbank enthält alle Stellungen, in denen Weiß einzügig Matt setzen
kann. Dann eine dritte Datenbank, die mit der zweiten verbunden ist, und in
der Schwarz sich nicht dagegen verteidigen kann, dass Weiß ihn einzügig Matt
setzt, und so weiter. Immer einen Halbzug weiter weg vom Matt. Man kann - im
Prinzip - diesen Prozess folgerichtig bis zu Stellungen mit allen 32 Figuren
und Weiß am Zug fortsetzen. Dann wird die Menge W all dieser Stellungen mit
32 Figuren über den kürzesten Weg in dieser Folge von Datenbanken mit einer
Mattstellung verbunden. Ausgehend von einer dieser Stellungen mit 32 Figuren,
zeigt der entsprechende Pfad die Züge bei perfektem Spiel beider Seiten. Ist
Schwarz am Zug, dann gibt es keine andere Verteidigung, die länger hinauszögert,
dass er matt gesetzt wird. Ist Weiß am Zug, gibt es keinen anderen Zug, der
ihn schneller Matt setzen lässt. Die Menge W enthält so alle Stellungen, in
denen Weiß den Gewinn erzwingen kann.
Etwas Analoges kann aus Perspektive des Schwarzen gemacht werden, indem man
mit einer Datenbank aller Stellungen beginnt, in denen Weiß matt ist. Indem
man ähnlich wie oben verfährt, erhält man eine Menge B von Stellungen mit 32
Figuren, in denen Schwarz, mit Weiß am Zug, einen forcierten Gewinn hat. Alle
anderen Stellungen mit 32 Figuren, das heißt, alle außer denen in diesen Mengen
W und B, bilden eine Menge D und führen bei bestem Spiel beider Seiten zu Remis.
Als Ergebnis kann man sich eine Datenbank vorstellen, die alle legalen Stellungen
enthält und in der jede einzelne mit einem eindeutigen Urteil versehen ist:
+1, ±0, -1, was Sieg für Weiß, Remis und Sieg für Schwarz bezeichnet. Somit
haben wir im Prinzip einen Algorithmus entwickelt, der zu perfektem Spiel im
Schach führt. In der Praxis ist das natürlich für die gesamte Menge an Stellungen
mit 32 Figuren utopisch. Allerdings nicht mehr für Endspiele mit sechs Steinen
und sogar für manche Endspiele mit sieben Steinen. Aber wichtiger, während objektive
Wahrheit im Leben unmöglich ist, so ist sie, im Prinzip, im Schach möglich.
In diesem Sinne ist Schach vollkommener als das Leben.
Dennoch gibt es im Schach Kuriositäten, die mit dem Thema dieses Beitrags verknüpft
sind. Betrachten Sie zum Beispiel die folgende Stellung aus einer Diskussion,
die sich mit Quantenlogik im Schach beschäftigte:
Vasilenko und Frolkin, 1995
Matt in 2
(a) Diagramm
(b) Nach den ersten beiden Halbzügen
(c) Vor den letzten beiden Halbzügen
Wenn Sie eine Stellung mit der Forderung "Weiß setzt in n Zügen matt" haben
und Sie zwei Halbzüge machen, nämlich den besten weißen Zug und die beste schwarze
Antwort, dann sollten Sie eine Stellung erhalten, an die Sie die Forderung "Weiß
setzt in n -1 Zügen matt" stellen können. Aber im obigen Problem ist das nicht
der Fall.
Ähnlich ist es, wenn Sie von der Ausgangsposition zwei Halbzüge zurückgehen
und den letzten schwarzen Zug (wenn es nur einen gibt) und danach den letzten
weißen (wenn es wieder nur einen gibt) zurücknehmen, und zu einer Stellung kommen
sollten, an die Sie die Forderung "Weiß setzt in n+1 Zügen matt" richten können.
Dies ist ebenfalls nicht der Fall im obigen Problem.
Tatsächlich erreichen Sie in allen drei Stellungen (a), (b), (c), egal, ob Sie
vom obigen Diagramm zwei Halbzüge vor- oder zurückgehen, dennoch stets Stellungen
mit der Forderung "Weiß setzt in 2 Zügen matt". Ein Fall von sehr ungewöhnlicher
Arithmetik auf dem Schachbrett:
2-1=2 und 2+1=2. Und ein faszinierendes Beispiel, wo zwei Stellungen, die sich
durch einen legalen Zug unterscheiden, eine logisch unterschiedliche Zukunft
haben.
Finden Sie die Lösung in jedem der drei Fälle?
Hinweis: Denken Sie an die in Schachproblemen verwendete Konvention, dass das
En Passant erlaubt ist, wenn bewiesen werden kann, dass der letzte Zug vor Erreichen
der Diagrammstellung der Doppelschritt des Bauern war, der geschlagen werden
soll.
Christian Hesse hat an der Harvard University promoviert und war bis 1991 Fakultätsmitglied
der University of California in Berkeley. Seitdem ist er Professor für Mathematik
an der Universität Stuttgart. Nachfolgend war er Gastprofessor und Gastdozent
an Universitäten in der ganzen Welt, von der Australian National University
in Canberra bis zur Universität von Concepcion in Chile. Vor kurzem veröffentlichte
er das Buch "Expeditionen in die Schachwelt" ISBN 3-935748-14-0), eine Sammlung
von etwa 100 Essays, das der Wiener Standard eines "eines der geistreichsten
und lesenswertesten Bücher, die je über das Schachspiel verfasst wurden" nannte.
Christian Hesse ist verheiratet, hat eine sechs Jahre alte Tochter sowie einen
zwei Jahre alten Sohn und lebt in Mannheim.
Ihm gefällt Voltaires Antwort, als sich jemand einmal bei ihm beklagte: "Das
Leben ist hart." - "Verglichen womit?"