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Vom Botwinnik-Schüler zum Chef-Coach
der Berliner Trainerakademie
Interview mit Juri Rasuwajew
Von Dagobert Kohlmeyer
Der russische Großmeister ist ein bekannter Schachtrainer und Buchautor. Juri Rasuwajew (Jahrgang 1945) lernte einst beim großen Michail Botwinnik und spielte 1984 beim Match „UdSSR- Rest der Welt“ in London mit. Heute gibt der Moskauer seine Erfahrungen an Schachspieler und Trainer in vielen Ländern weiter. Rasuwajew ist Vorsitzender des Trainerkomitees der FIDE und in dieser Eigenschaft regelmäßig zu Gast in Berlin, wo hochkarätige internationale Lehrgänge an der Trainerakademie des Weltverbandes stattfinden. Der jüngste Kursus wurde speziell für türkische Schachlehrer organisiert.
Nach Beendigung des Lehrgangs hat unser Hauptstadt-Reporter Dagobert Kohlmeyer auf der Datsche von FIDE-Akademie-Koordinator Ernst Bönsch mit Juri Rasuwajew gesprochen.
Wie viele Lehrgänge hast du schon als Ausbilder an der Spree absolviert?
Ich habe sie nicht gezählt, aber denke, es waren bislang vier oder fünf. Hinzufügen möchte ich, dass es eine großartige Idee war, diese FIDE-Trainerakademie vor ein paar Jahren zu gründen und zu realisieren. In Berlin entstand ein modernes Ausbildungszentrum, das weltweit anerkannt ist und sehr erfolgreich arbeitet.
Was tut Ihr konkret?
Die Arbeit ist sehr vielfältig. Viele denken, wir bringen unseren Kursteilnehmern dort bei, wie man Schach spielt. Das ist nicht der Fall. Sie lernen bei uns, wie man Schach richtig lehrt. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Dieser Prozess beinhaltet zum Beispiel Trainingsmethodik, die Anwendung moderner Technologien, psychologische Aspekte der Arbeit mit dem Schach-Nachwuchs usw.
Ohne Technik geht im Schach heute nichts mehr.
So ist es. Im Mittelpunkt steht darum die Arbeit mit ChessBase. Einen ganzen Tag lang machen wir unsere Studierenden mit allen möglichen Programmen bekannt, trainieren u.a. den Umgang mit großen Datenbanken, mit Fritz, Shredder usw. Wir müssen ständig Up do Date sein, was die neuesten technischen Entwicklungen betrifft. Die Trainer lernen von uns auch, wie man die Kinder via Internet unterrichtet.
Du hast auch die Schachpsychologie angesprochen. Was lernten Eure Studenten?
An einem Tag machte Marion Kauke die Teilnehmer mit wichtigen psychologischen Fragen des Spiels vertraut. Sie befasste sich dabei mit dem Thema: „Wie kann man Schach als Modell für die Entwicklung der Kinder nutzen?“ Das ist für ihr Leben sehr wichtig. Dabei hat sie das Ganze nicht vom Standpunkt der Theorie, sondern von der Praxis aus betrachtet.
Worum ging es im Einzelnen?
Um die Spieltheorie, um das Treffen von richtigen Entscheidungen oder um psychologische Aspekte der Kreativität. Über alles hat sie sich seit Jahrzehnten profunde Gedanken gemacht und diese auch in verschiedenster Form publiziert. Ich freue mich, in so einem Team zu arbeiten. Marion ist eine große Spezialistin. Davor lernte ich noch niemanden kennen, der sich so tief mit Schachpsychologie befasst hat. Ich habe Kontakt zu vielen Leuten, die auf diesem Gebiet arbeiten, aber so ein Niveau noch nicht angetroffen.
Du bist ein ehemaliger Botwinnik-Schüler. Der Patriarch der sowjetischen Schachschule hat seinerzeit wohl als Erster in vollem Umfang erkannt, wie wichtig Schach für die Entwicklung der Persönlichkeit ist.
Er leistete Pionierarbeit. Ich war in den 1960er Jahren tatsächlich Schüler in Botwinniks erster Schule. Dort lernte ich gemeinsam mit Anatoli Karpow, Juri Balaschow und anderen Koryphäen. Zudem war ich fünf Jahre lang Assistent von Michail Moissejewitsch. Das war Ehre und Ansporn zugleich. Heute bemühe ich mich, vieles von dem zu vermitteln, was er lehrte.
War der sechste Schachweltmeister eine Art lebendes Denkmal für Euch?
Ich denke, Michail Botwinnik war eine der größten Persönlichkeiten des Schachs im 20. Jahrhundert. In der UdSSR ist er es auf jeden Fall gewesen. Er begründete eine legendäre Schule, und alle späteren Methoden fußen auf Botwinniks Lehre. Es gibt ein geflügeltes Wort Dostojewskis: „Wir alle kommen von Gogols Mantel her". Und Michail Tal sagte einmal ganz treffend, dass wir alle von Botwinnik herkommen, so wie die russische Literatur von Gogols Buch „Der Mantel“. Botwinnik lebt in jedem unserer Schachspieler.
Das klingt sehr begeistert und voller Bewunderung.
Michail Botwinnik war der Schach-Lehrmeister schlechthin. Deshalb bin ich sehr froh, dass ich das Glück und die Möglichkeit hatte, von ihm zu lernen und mit ihm zu arbeiten. Es ist ganz wichtig, jetzt diese wertvollen Erfahrungen an die heutige Generation weiter zu geben.
Was charakterisiert die FIDE-Akademie in Berlin?
Sie hat als erste in der Welt den Begriff der modernen Trainerausbildung geprägt und sich diese Aufgabe auf die Fahne geschrieben. Unser Motto „Train the Trainer!“ wird mit Begeisterung angenommen. Es geht um die modernsten Methoden des Schachtrainings, um die Anwendung der neusten Computertechnologien und die besten pädagogische Wege zur Vermittlung des Schachs.
Können selbst russische Schach-Insider hier noch etwas lernen?
Durchaus! Denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die schachliche Ausbildung bei uns in Russland sehr konservativ ist. In Berlin wird alles zeitgemäßer aufbereitet und dargeboten. Bei jedem Kursus spüre ich das neue Herangehen an die wichtigsten Fragen der Trainerausbildung. Kaum taucht eine neue Methode auf, wird sie schon angewendet. Gemeinsam mit dem Direktor der Trainerakademie, Uwe Bönsch, der viele Ideen einbringt, und mir arbeiten anerkannte Fachleute wie Großmeister Adrian Michaltschischin. Er gehört zu den erfahrensten Schachtrainern weltweit.
Die Lehrtätigkeit ist anstrengend, Du unterrichtest in Englisch, nicht alle Kursteilnehmer verstehen Dich. Dennoch hast Du immer gute Laune.
Ich bemühe mich darum. Mit einem Lächeln arbeitet es sich leichter.
Ihr habt in Berlin Studenten aus der ganzen Welt. Warum war der jüngste Lehrgang ganz speziell für türkische Trainer?
Weil sie dort einen großen Bedarf und ein riesiges Interesse haben. Ich muss dazu sagen, dass die Türkei ein noch junges Schachland ist. Es entwickelt sich stürmisch. Warum ist das so? Weil die Türkei sich die Aufgabe gestellt hat, ihre Wirtschaft stark voranzubringen und den Anschluss nach Europa sucht. Das Spiel soll und kann dabei helfen. Schach ist dort bereits Pflichtfach an den Schulen.
Es gibt ja noch andere Nationen, die Schach ebenfalls überdurchschnittlich fördern.
Große Länder wie China, Indien oder die Türkei, die sich sehr schnell in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik entwickeln, haben ein Interesse daran, das Spiel stärker zu nutzen. Deshalb wird es nicht nur an den Schulen unterrichtet. Sie nutzen auch die Erfahrungen von Schachtrainern aus der früheren Sowjetunion, wie Jewgeni Wasjukow oder Lew Psachis, der jetzt in Indien sehr erfolgreich ist.
Wie war die Gruppe der türkischen Trainer in Berlin zusammengesetzt?
Wir hatten 15 Leute im Alter von etwa 20 Jahren bis Ende 50 mit unterschiedlichsten Voraussetzungen. Alle waren hoch motiviert und zeigten kolossales Interesse an unserer Arbeit. Sie stellten eine Unmenge Fragen. Am Ende legte jeder von ihnen eine Prüfung ab. Sie referierten je eine Stunde und haben alle bestanden.
Eine Stunde kann ganz schön lang werden…
Ja, es ist keine einfache Sache. Auf eine Frage kann man erfolgreich antworten, aber eine ganze Stunde von A-Z auf gutem Niveau zu gestalten, ohne den roten Faden zu verlieren, das ist schon eine Leistung. Die Themen waren ganz unterschiedlich, sie nutzten häufig technische Hilfsmittel wie Computer und Beamer.
Erstaunte dich jemand von den Teilnehmern besonders?
Ja, in der Tat. Einer berichtete in seiner Prüfung, wie er mit Gefangenen in Strafanstalten arbeitet. Er trainiert seit Jahren Häftlinge in verschiedenen Gefängnissen. Und er erzählte uns ausführlich, welche Effekte er damit erzielt. Das Schach hilft diesen Leuten offensichtlich, mit ihrer nicht einfachen Situation besser umzugehen. Das ist ein bedeutende soziale Erfahrung, die beide Seiten machen konnten: der Schachlehrer und die Strafgefangenen. Er hat erstaunliche Ergebnisse vorzuweisen und bei seiner dortigen Arbeit auch Computer eingesetzt.
Wie war die Reaktion der anderen Akademie-Mitglieder auf diesen Bericht?
Wir haben den Mann gebeten, uns seinen Vortrag zur Verfügung zu stellen, damit wir ihn auf unserer Webseite veröffentlichen können. Das ist doch ein Thema, welches viele Leute interessieren dürfte. Dass man im Gefängnis so etwas Erstaunliches erreicht und Leute dazu bringt, auch unter den dortigen Bedingungen kreativ zu werden. So etwas muss man einfach unterstützen.
Eine ungewöhnliche Aktion, die Aufmerksamkeit verdient. Was können wir von diesem Land noch erwarten?
Wenn die Türken dieses große Interesse für unser Spiel und dieses Entwicklungstempo beibehalten, sind sie bald ein Schachland. Talente gibt es überall auf der Welt. Aber wenn eine Nation gute Trainer hat, dann werden sie auch bald über Top-Großmeister verfügen. Der alte Kontinent Europa erscheint schon etwas müde, die von mir genannten Länder aber haben große Reserven und werden uns bald auf den Fersen sein.
Wie wird die Technik aus der Sicht des Trainers das moderne Schach verändern?
Sehr. Ich hatte vor längerer Zeit ein interessantes Gespräch mit Garri Kasparow. Er ist der Meinung, dass die Computer die heutige Art, Schach zu spielen, schon längst gewaltig beeinflussen. Künftig werden etwa 80 Prozent der Kids wie Computer spielen, weil sie mit ihnen aufwachsen. Nur ein kleiner Teil spielt so wie gehabt. Ob das ein Vorteil oder Nachteil ist, muss man abwarten. Auf jeden Fall ändert sich die Spielweise des Menschen. Das ist eine objektive Tatsache.
Wohin kann das noch führen?
Ich denke, Schach wird in vielen Ländern zum Bildungssystem gehören, und es wird sich immer mehr ein neuer Stil herausbilden. Die Zukunft liegt beim Nachwuchs, nirgendwo anders. Voriges Jahr erschien eine Meldung über die USA-Schülermeisterschaft im Schach, an der etwa 50 000 Kinder teilnahmen, auf der Titelseite der New York Times. Das schafft keine normale Schachweltmeisterschaft, es sei denn, es gibt einen Skandal wie in Elista. Es zeigt, dass Kinder heute viel mehr Schach spielen als früher. Sie tun es wegen der Computer. Deshalb ändert sich alles.
Magnus Carlsen gehört zur Generation der Computerkids. Du hast ihn vor mehr als zwei Jahren in Moskau getestet. Wie war er?
Nicht nur ich habe ihn im Frühjahr 2005 geprüft. Kasparow hatte ihm ein Training in Moskau versprochen. Garris ehemaliger Trainer Alexander Nikitin rief mich an und bat, ich solle den Jungen als Erster testen. Ich traf mich mit Magnus, wir unterhielten uns, ich stellte ihm Aufgaben. Wir analysierten verschiedene Stellungen, und aus Magnus‘ Lösungsvorschlägen zog ich meine Schlüsse. Danach beschäftigte sich Nikitin mit Carlsen. Zuletzt kam Kasparow selbst hinzu und absolvierte mit ihm eine Trainingseinheit.
Welche Eindrücke hattet Ihr?
Wir sahen seine großen schachlichen Möglichkeiten. Erstaunlicherweise kamen wir alle drei zu der Einschätzung, dass Magnus ein unglaubliches Positionsverständnis und ein sehr gutes Gefühl für die richtige Stellung der Figuren hat. In dieser Hinsicht besitzt er ein Talent wie Petrosjan. Das überraschte uns sehr.
Verblüffend, denn viele sehen in Carlsen mehr den begnadeten Taktiker.
Auch wir dachten das zunächst. Doch es zeigte sich, dass der Junge in der Variantenberechnung noch Reserven hat. Da ist er längst nicht so gut. Ganz stark wirkt er hingegen schon in strategischer Hinsicht und im Endspiel. In diesem Partieabschnitt zeigt er für sein Alter eine erstaunliche Reife. Sein Gefühl für die Figuren kann man beinahe mit dem von Capablanca oder Karpow vergleichen. Der Junge hat eine große Perspektive.
Wo habt Ihr Euch damals in Moskau getroffen?
In Kasparows Wohnung. Dessen Mutter kochte für uns, und nach dem Mittagessen nahm Garri den jungen Norweger mit in sein Arbeitszimmer. Dort zeigte er Magnus, wie man mit dem Computer arbeitet und Schachprogramme am besten für sein Training nutzt. Nur ihm allein. Ich denke, das war sehr nützlich und eine unvergessliche Lehrstunde für den Jungen.
Was meinst du, hat Magnus Carlsen das Zeug zum Weltmeister?
Wer weiß das schon? Ob man Schachweltmeister wird, bestimmt das Schicksal. Über das Talent von Carlsen kann man etwas sagen. Wie sein weiteres Leben verläuft, das ist eine andere Sache. Kasparow meinte übrigens auf meinen Einwurf, dass Magnus in der Variantenberechnung noch besser werden müsse: „Wichtiger als dieses Manko ist sein gutes Gespür für die Stellung. Das bestimmt die Zukunft eines Schachspielers.“
Vielen Dank, Juri, für das Gespräch!