Expeditionen in die
Schachwelt
Ultimately chess is just chess - not the
best
thing in
the world and not the worst thing in
the world, but there is
nothing quite like it.
W.C. Fields
Humor im Schach
von Professor Dr.
Christian Hesse
Die Kolumne im letzten Monat betrachtete
Schach aus der Perspektive seiner Unsichtbarkeit. Gestreift wurden
verschiedene Themen wie Blindschach oder die Möglichkeit, Schachturniere
spektakulärer zu machen, indem man ein wenig von großen Boxveranstaltungen
lernt.
Die Kolumne rief etliche interessante und
humorvolle Leserreaktionen hervor.
Ein Leser erinnerte mich an folgenden Witz:
Woher wissen wir, dass der Neandertaler Blindschach gespielt hat? Nun, bei
Ausgrabungen ihrer Stätten hat man weder Schachbrett noch Figuren gefunden.
In Bezug auf den Vorschlag, Boxen als
Vorbild fürs Schach zu nehmen, sandte mir ein Leser folgenden Cartoon:
Diese Reaktionen waren der Anlass, in der
Kolumne dieses Monats einen Blick auf Humor im Schach zu werfen.
Schach ist ein Kriegsspiel, und obwohl es im
Krieg vielleicht nicht viel zu lachen gibt, so gibt es doch im Schach viel
Humor, in der Schachwelt und sogar auf dem Brett.
Natürlich hat sich auch Sigmund Freud mit
dem Humor befasst. Laut seiner psychoanalytischen Theorie des Humors, die er
in seinem Bahn brechenden Werk Der Witz und seine Beziehung zum
Unbewussten formuliert hat, kann ein Witz nur zwei Funktionen erfüllen.
Entweder ist es ein bösartiger Witz, der aggressive Funktionen erfüllt oder
es ist ein obszöner Witz, der bloßstellen soll. Ich persönlich betrachte
diese Sichtweise, Humor auf seine aggressiven oder sexuellen Untertöne zu
reduzieren, als etwas zu eng und dementsprechend als nicht ausreichend, um
alle Formen des Humors zu erfassen. Ganz gewiss wird sie vielem Humor, der
mir gefällt, nicht gerecht.
Auf mich wirkt die Unvereinbarkeitstheorie
des Humors überzeugender. Sie ist sogar noch älter als Freuds Theorie und
geht zurück auf den schottischen Dichter und Essayisten James Beatty, der
1776 schrieb: “Lachen entsteht durch den Anblick zweier widersprüchlicher,
unpassender oder unvereinbarer Teile oder Umstände, die als ein Gesamtobjekt
oder als zusammengehörig gesehen werden.” Diese Sichtweise wird von dem
zeitgenössischen Anthropologen Elliott Oring geteilt, einem Professor an der
California State University in Los Angeles. In seinem Buch Jokes and
Their Relation schreibt er: “Das Begreifen von Humor hängt vom Begreifen
einer passenden Unvereinbarkeit ab – das heißt, die Wahrnehmung einer
passenden Beziehung zweier Elemente aus Bereichen, die generell als
unvereinbar betrachtet werden.” Mit anderen Worten gibt es bei einem Witz
immer Elemente, die scheinbar nicht zusammenpassen. Oring hat mit The
Jokes of Sigmund Freud auch ein Buch über Freuds Humor geschrieben, das
gut aufgenommen wurde, und er behauptet, dass Freuds Repertoire an Witzen
und seine Auffassung des Humors im Allgemeinen mehr über Freud selbst
aussagen als über Humor im Allgemeinen.
Humor funktioniert auf sehr subtile Weise
und viel seines Warum und Wie ist immer noch nicht gut verstanden. Deshalb
bleibt computergenerierter Humor auch weiterhin meist dünn. Hier ein
Beispiel, das von JAPE stammt (Joke Analysis and Production System, eine von
Kim Binsted und Graeme Ritchie entwickelte Software, die Witze produziert):
“What do you call a breakfast food murderer? A cereal killer.” (Wörtlich
übersetzt: “Wie nennt man einen Frühstücks-Essen Mörder? Ein
Zerealien-Killer.” (Der Witz beruht auf der lautlichen Ähnlichkeit von
„serial“ [seriell] und „cereal“ [Zerealien, z.B. Müsli], Anm. des Übers.)
Putzig, aber lustig?
Ich glaube, dass die oben zitierten
Leserbeispiele von der Unvereinbarkeitstheorie des Humors gut erklärt
werden, genau wie viele Beiträge auf meiner
Top 10 Liste
der Dinge, die Sie kennen sollten, wenn Sie schachsüchtig sind
Du weißt, du bist
schachsüchtig, wenn
-
du jemanden anrempelst, J`adoube
murmelst und nicht einmal Französisch sprichst
-
du alles stehen und liegen lässt und
dich schnell umdrehst, wenn jemand hinter dir “Hi Bobby” sagt
-
du ein Schachbuch zur Toilette
mitnimmst und vergisst, auf die Toilette zu gehen
-
du karierte Unterwäsche trägst, auf
der vorne steht: „Du bist am Zug“
-
du deine Briefe und Emails mit “P.S.
1.e4. Ihr Zug!” beendest, weil du hoffst, eine Partie zu beginnen
- du die Zahl deiner
Partner/Partnerinnen/Ehemänner/Ehefrauen von der Zahl der Schachprogramme abziehst, die du je besessen hast, und diese Zahl positiv
ist
-
du erklärst, dass du einen Block
weiter und zwei zur Seite wohnst, genau wie ein Springer zieht
-
du dein erstes Kind Judith oder Fritz
genannt hast
-
du erklärst, dass deine letzte
Beziehung nicht funktioniert hat, weil ihr wie ungleichfarbige Läufer wart
-
du all dies gelesen und nicht gelacht
hast.
Wir wissen alle, dass es im Schach viele
schlaue Köpfe, interessante Charaktere und damit zahlreiche unterhaltsame
und humorvolle Geschichten und Anekdoten gibt. Eine weniger bekannte ist die
folgende: Kasimirz Makarczyk war einer der polnischen Meister, die am
Internationalen Turnier in Hamburg 1930 teilgenommen haben. Eines Abends saß
Makarczyk beim Abendessen in seinem Hotel, als ein anderer Herr den
Speisesaal betrat. Als er an Makarczyk vorbeikam, verneigte er sich leicht
und sagte: “Mahlzeit”. Makarczyk, der kein Deutsch konnte, stand rasch auf
und mit einer ähnlichen Verbeugung entgegnete er “Makarczyk”. Das gleiche
Ritual wiederholte sich am folgenden Abend und den Abend darauf. Am nächsten
Tag erkundigte sich Makarczyk, den dies doch etwas irritierte, ob es in
Deutschland üblich war, sich bei jeder Begegnung vorzustellen. Als
Makarczyk seine Erlebnisse beim Abendessen schilderte, verriet man ihm die
wahre Bedeutung von “Mahlzeit”. Später am gleichen Tag, als es Zeit zum
Abendessen war, beschloss Makarczyk, selber die Initiative zu ergreifen. Als
er den Fremden näher kommen sah, sprang er auf, verbeugte sich leicht und
sagte höchst freundlich: “Mahlzeit”. Der Fremde war verblüfft, doch nach
einem winzigen Moment des Zögerns entgegnete er: “Makarczyk”.
Humor im Schach ist nicht auf die Spieler
beschränkt, sondern kann auch auf dem Brett vorkommen. Was diese Variante
betrifft, betrachten Sie folgendes Diagramm:
Schwarz am Zug
In dieser Stellung spielte Chess Challenger
Voice, gebaut 1979, und der erste Computer, der sprechen konnte, mit
Schwarz. Er konnte mit 1… Dxf3+ Remis erzwingen. Aber er wollte um jeden
Preis gewinnen. Allerdings war keine Gewinnkombination zu sehen. Welche
phänomenale Idee brachte er also aufs Brett? Nun, mit atemberaubender,
unbekümmerter Zockerkunst verwandelte er den weißen Turm auf e8 in einen
schwarzen Turm und spielte dann 1… Te1+, wobei er zugleich in
tadellosem Englisch einzügig Matt ankündigte. Man weiß nicht, ob sein
Programmierer, R.C. Nelson, angesichts dieses Geniestreichs gelacht oder
geweint oder etwas ganz anderes gemacht hat.
2005 gab es ein Turnier für
Studienkomponisten und das Thema dieses Turniers war Humor. Ein
Mitglied der Jury zur Beurteilung der eingereichten Studien war GM Jan
Timman. Die Jury verlieh den ersten Preis der folgenden Studie des
28-jährigen Komponisten Sergiy Didukh, der aus einem kleinen Dorf in der
Ukraine stammt:
S. Didukh, 2005
Humor Tournament
Weiß zieht und macht Remis
Weiß ist materiell im Nachteil, aber verfügt
über kleine Drohungen gegen den schwarzen König, die allerdings nicht zum
Gewinn ausreichen, aber doch vielleicht ausgebaut werden können, um so ein
Remis zu erreichen. Die erste Idee, auf die man verfallen könnte, ist es,
Remis durch Dauerschach herbeizuführen. Dies führt jedoch nicht zum Erfolg.
Nach 1. Ld6 gewinnt Schwarz mit 1… Dc3 2. Te5 Dxe5 3. Lxe5 Txe5 4. Txh7+ Kg8
5. Tg7+ Kf8 6. Sxc5 Td8 7. Sxd7+ Txd7 8. Txd7 Ke8.
Was bleibt einem noch? Die Rettung für Weiß
liegt im Spielen auf Patt. Er tut das auf komische und verblüffende Weise,
indem er sich all seiner fünf Figuren entledigt und seinen König unbeweglich
macht. 1. Le6 dxe6 2. Ld6 Dc3 3. Sd4! Verstellt der schwarzen Dame
die Sicht auf g7, wodurch das Dauerschach wieder möglich ist. 3…Dxd4
(Nach der Alternative 3…Dd3 4. Le5 Txe2 5. Txh7+ Kg8 6. Tg7+ Kf8 7. Ld6+ Ke8
8. Te7+ Kf8 hat Schwarz ebenfalls nicht mehr als Remis und auch Weiß hat
kein Matt.) 4. Te5 Versperrt der Dame wieder die Sicht auf g7.
Stellung nach 4. Te5
5…Dd3
Die schwarze Dame muss h7 entweder direkt
decken oder indem sie den Turm auf g7 fesselt. 5. Te4 Dc3 (5…Dxe4
gestattet 6. Le5 f3 7. Txg3+ Dxe5 8. Tg8+ und Patt.) 6. Td4 Dc2 7. Td3
Db2 8. Tc3 Db1 9. Tc2 Da1 10. Tb2 Nach 10. Tc3 gibt es 10…Ta7!
Stellung nach 10. Tb2
10…Dxb2 11. Le5 f3.
(Hier erlaubt das Schlagen auf e5
mit Turm oder Dame 12. Tg8+ Kxg8 mit Patt und 11…Tf8 12. Txh7+ Kg8 13. Tg7+
führt zum Remis durch Dauerschach.) 12. Txg3+ Txe5 13. Tg8+ Kxg8 Patt.
Patt
Wie die schwarze Dame und der weiße Turm die
Treppe zum süd-westlichen Teil des Bretts hinunter tanzen, hinterlässt einen
starken, amüsanten Eindruck.
Was witzige Endspiele aus der Praxis
betrifft, werfen Sie einen Blick auf
Lowcki-Tartakower
Jurata, 1937
Stellung nach dem 32. Zug von
Weiß
Während seiner Überlegungen, was zu tun ist,
fand Tartakover den einzigen Weg zum Sieg. Wie lautet der?
Mit diesem kleinen Problem verabschiede ich
mich bis zum nächsten Monat.
Hinweis: Denken Sie an das Treppenmotiv aus
der obigen Studie von Didukh.
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Lösung der Aufgabe aus der Kolumne Schach: Das ultimative unsichtbare
Spiel vom letzten Monat
Dies ist die Stellung
nach dem 31. Zug von Schwarz (Topalov)
Weiß (Kramnik) spielte jetzt eine
phantastische Kombination, die wie folgt begann: 32. Lxe5! Lxb5+ 33. Kxb5
Txc5+ 34. Kb6 Txe5 35. Tc1 Txa5. Es scheint, als ob sich Topalov hiermit
retten könnte. 36. Tc7+ Kramnik spielt weiter auf Gewinn. Die
Alternative 36. Kxa5 d5 nebst 37…Ld6 würde Topalov entkommen lassen.
36…Kd8 37. Tfc1 Tc5. Es sieht immer noch so aus, als ob Schwarz
überleben könnte. Alles andere verliert sofort: 37…Ta8 nach 38. Kb7 und
37…d5 nach 38. Kxa5. Aber der Textzug erlaubt 38. T1xc5 dxc5. Und was
jetzt?
Stellung nach 38…dxc5
39. Kc6!!
Entscheidet den Kampf, da es keine Verteidigung gegen die Drohung Tc7-a7-a8.
1:0. Wirklich eine beeindruckende Leistung angesichts der Tatsache,
dass beide Spieler blind spielten.
Über den Autor
Christian
Hesse hat an der Harvard University promoviert und war bis 1991
Fakultätsmitglied der University of California in Berkeley. Seitdem ist er
Professor für Mathematik an der Universität Stuttgart. Nachfolgend war er
Gastprofessor und Gastdozent an Universitäten in der ganzen Welt, von der
Australian National University in Canberra bis zur Universität in
Concepcion-Universität in Chile. Vor kurzem veröffentlichte er das Buch
“Expeditionen in die Schachwelt” ISBN 3-935748-14-0), eine Sammlung von
ungefähr 100 Essays, die der Wiener Standard eines “eines der geistreichsten
und lesenswertesten Bücher, die je über das Schachspiel verfasst wurden”
nannte.
Christian Hesse ist
verheiratet, hat eine sechs Jahre alte Tochter sowie einen zwei Jahre alten
Sohn und lebt in Mannheim.
Ihm
gefällt Voltaires Antwort, als sich jemand einmal bei ihm beklagte: ”Das
Leben ist hart.” - “Verglichen womit?”