Von der Willkür
der Dopingkontrollen
Als Dopingkontrollen im internationalen Schach eingeführt
wurden, habe ich weitere Einsätze in der Nationalmannschaft Deutschlands
abgelehnt. Grund dafür war und ist, daß die Maßnahme nicht auf dem Boden des
Menschenrechts stand und steht.
Seinerzeit war nicht zu erfahren, wie kontrolliert wird,
was kontrolliert wird und welche Folgen ein positiver Befund nach sich ziehen
würde. Dies alles ist in der Tat auch unerheblich, denn Doping im Schach ist
völlig unmöglich. Als Doping fasse ich die Erschleichung eines unzulässigen
Vorteils gegenüber dem Mitstreiter durch die Einnahme chemischer Substanzen auf;
andere Versuche können beim Schach ohnehin keine Rolle spielen.
Schach ist kein Sport. In jeder Sportart, sei es Kegeln,
Angeln oder Autofahren, ist der körperliche Einsatz und die
Reaktionsschnelligkeit das Wesentliche. Schach hingegen ist ein
Problemlösungsspiel. Ein Mensch mag schlucken, was er will: es wird ihm in
keiner Weise dabei helfen, zu entscheiden, ob in einer gegebenen Stellung Dd1-e2
oder Dd1-f3 der richtige Zug sei. Er muß sich sein Können in einem langwierigen
Prozeß geistiger Anstrengung erarbeiten – auch wenn mancher dies gern anders
sähe, denn der Wunsch nach sofortiger, müheloser Erreichung aller Ziele und
Vorstellungen ist ein besonders gründlich ausgeprägtes Merkmal unserer Zeit.
Der Wettkampf im Schach ist sinnvoll, weil er die geistige
Anspannung fördert. Er macht Schach nicht zum Sport. Wenn Dopingkontrollen beim
Schach angebracht wären, müßten sie ebenso bei Musikwettbewerben, bei
Professoren, die sich in wissenschaftlichem Wettstreit um Erkenntnis bemühen,
bei Firmenleitern, bei Schriftstellern und überhaupt bei allen Menschen
durchgeführt werden, die eine Leistung anstreben.
Der Unterschied zwischen den Sportarten und Schach samt den
genannten Tätigkeiten im Bezug auf Doping ist leicht einzusehen. Beim Sport soll
durch die Einnahme irgendwelcher Mittel die Fähigkeit selbst gefördert werden,
auf die es ankommt: man hofft, der giftschluckende Sportler wird jederzeit
schneller laufen, höher springen, kräftiger werfen können; seine Fähigkeit auf
dem einschlägigen Gebiet soll grundsätzlich verbessert werden. Im Schach kann
höchstens die Anwendung der Fähigkeit beeinflußt werden. Als Gegner bin ich
jedoch jederzeit froh darüber, wenn mein Spielpartner sein Können voll zur
Entfaltung bringen kann, denn dann lerne ich mehr. Wer anderer Auffassung ist,
wird bald leistungsfördernde Spaziergänge vor der Partie, das Atmen während er
Partie und das lernfördernde Analysieren mit dem Gegner nach der Partie
verbieten.
Daß man für eine geistige Leistung einen gesunden Körper
benötigt, ist eine Binsenweisheit. Wo es auf die Ergebnisse des Verstandes
ankommt, darf jeder seine körperliche Verfassung einrichten, wie er will.
Die Auffassung von der Nutzlosigkeit von Dopingversuchen im
Schach zur Steigerung der Verstandeskräfte ist allgemein anerkannt. Ich habe
noch keinen Unbefangenen, an den mit der Sache verknüpften Machtfragen
Unbeteiligten getroffen, sei er Arzt, Chemiker oder Sportler, der wirksames
Doping im Schach für möglich gehalten hätte. Niemand ist erfindungsreicher als
Schachspieler, wenn es darum geht, entschuldigende Begründungen für die eigenen
Niederlagen zu finden, aber noch nie habe ich vernommen, daß jemand im Ernst
behauptet hätte: „Mein Gegner war gedopt!“
Aus zuverlässiger Quelle habe ich vernommen, daß mindestens
einer der Helfer, die den Spielern beim Weltmeisterschaftskampf in Bonn 2008 zur
Seite standen, einem Test auf Gebrauch unerlaubter Substanzen unterworfen wurde.
Gleich auf den ersten Blick erkennt man, wie wichtig und richtig dieses
Verfahren ist: auch heute noch läßt ein jeder echte englische Lord, wenn er das
dringende Bedürfnis zu körperlicher Bewegung in sich spürt, seinen Butler einige
Runden auf dem Sportplatz laufen.
Aber die erheiternde Sinnlosigkeit des Falles hat auch
ernste Seiten. Er entlarvt die Heuchelei des Geschreis um Doping. Es geht
lediglich darum, die Sensibilität der Allgemeinheit dafür abzustumpfen, daß
immer mehr und immer neue Eingriffe in private Bereiche der Staatsbürger
vorgenommen werden, die nach gesunder Rechtsauffassung geschützt bleiben
sollten. Man soll an die Willkür beliebiger Bestimmungen gewöhnt werden.
Es handelt sich bei Dopingkontrollen im Schach um eine
undemokratische (weil von den Betroffenen nicht mitgetragene) Maßnahme
bürokratischer Machtentfaltung, an der einige Spezialgruppen Interesse haben.
Durch das Aufzwingen sinnloser Kontrollen dringt man in die Privatsphäre des
Einzelnen ein; er lebt in Rechtsunsicherheit und Abhängigkeit. Der Schutz des
privaten Bereichs der Person ist vom Grundgesetz garantiert; Dopingkontrollen im
Schach sind eine Entwürdigung, Entmündigung und Entrechtung des Individuums.
Die Aufhebung des Schutzes der Privatsphäre geschieht zur
Zeit scheibchenweise auf vielfache Art. Es ist beunruhigend zu sehen, wie wenig
Aufmerksamkeit dies erregt und wie wenig Widerstand es findet. Offenbar hat man
aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland nichts gelernt.
Robert Hübner