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Schach-WM ein Jahrmarkt der Eitelkeit
Von Dagobert Kohlmeyer
Zurück aus Moskau, möchte ich einige Erlebnisse vom WM-Match schildern und was sonst noch um das Ereignis herum passierte. Auch wenn die erste Hälfte mit sechs Remis nicht das ganz große Spektakel war, so gab es doch vor und hinter den Kulissen viel Interessantes zu sehen. Sehr viel Prominenz kam, denn jeder wollte dabei sein.
Die Eröffnung mit der Maleinlage von beiden WM-Finalisten sowie Michail Gorbatschow als Ehrengast und dem anschließenden Konzert – das war der erste Höhepunkt. Vom Austragungsort der Tretjakow-Galerie schwärmten alle, jetzt mussten die beiden Protagonisten nur noch gutes Schach zeigen.
Sponsor Andrej Filatow mit Tochter und Mutter
Filatow und Iljumschinow
Der FIDE-Präsident mit Tochter Alina
Blut floss in der ersten Halbzeit wenig, auch wenn Anand die muntere dritte Partie vielleicht gewinnen konnte. Aber er war in großer Zeitnot und fand deshalb die beste Fortsetzung nicht.
Die vierte Partie bot nach 16 Zügen ein kurioses Bild (siehe Foto).
Ich drückte im Pressezentrum auf den Auslöser. Wann ist die d-Linie schon mal so voller Figuren. Die Symmetrie löste sich dann aber bald wieder auf.
Mich interessierte auch, wie es auf und hinter der Bühne aussah. Vor dem Match durfte man noch an den WM-Schachtisch, der aus der Nähe ganz schlicht aussieht.
Beide Spieler haben einen gemeinsamen Ruheraum, der am Eröffnungstag so aussah (Foto).
Als das Match lief, hatte ich dort natürlich keinen Zutritt mehr, und Nastia Kalowitsch war so nett, ein Foto mit den gedeckten Tischen für uns zu schießen.
Das Medieninteresse an der WM ist groß. Im Pressezentrum sind weit über 100 Journallisten akkreditiert, die von allen Kontinenten kommen: Ian und Cathy Rogers vertreten wie immer Australien, sehr viele Kollegen aus Indien und Israel verfolgen das Match. Zur vierten Partie kam die israelische Botschafterin in Moskau, Frau Dorit Golender. Das russische Fernsehen sendet auf allen Kanälen, auf vielen Webseiten kommentieren Großmeister online das Geschehen.
Die Schachprominenz gibt sich in diesen Tagen in Moskau die Klinke in die Hand, zumal die Veranstalter renommierte Großmeister als WM-Kommentatoren gewonnen haben.
Mark Dworetzky
Nigel Short war zu Beginn hier und sagte, er würde sein Geld auf Anand verwetten. Jan Timman kam zur dritten Partie und meinte, er sei nicht sicher, in welcher Form sich der Weltmeister befindet.
Womit er mit seiner Meinung nicht allein ist. Die ganze Zeit über kommentiert Ilja Smirin hier im russischen WM-Studio, abwechselnd begleitet von Sergej Rublewski, Dmitri Jakowenko, Viorel Bologan, Alexander Grischuk und Peter Swidler. Im englischen Studio kommentierten Short, Timman und später Peter Leko die Partien. Gegen Ende des Matchs wird noch Wladimir Kramnik erwartet.
Ilya Smirin mit Rublewsky
Sergei Rublewski
Anatoli Karpow, der schon zur Eröffnung erschienen war, kam zur siebten Partie und erlebte den ersten Sieg des WM-Zweikampfes. Er wandte sich in beiden Sprachen an die weltweite Fangemeinde, die das Match im Internet verfolgt. Tags zuvor war sein Nachfolger auf dem Schachthron, Garri Kasparow, zu Gast. Und der sorgte richtig für Unterhaltung.
Kasparows Besuch
Wer am sechsten Spieltag über das erneute Remis betrübt war, wurde durch den Auftritt des Exweltmeisters entschädigt. Er analysierte im WM-Studio die laufende Partie, den Verlauf der ersten WM-Halbzeit und äußerte darüber hinaus noch manch anderen interessanten Gedanken.
Zunächst gab es eine Pressekonferenz, die fast eine Stunde
dauerte. Wie immer war Kasparows Auftritt lebhaft und emotional. Der Schachzar
kennt beide Finalisten sehr lange und hat früher oft mit ihnen die Klingen
gekreuzt. Er stellte fest, dass Anands Motivation nachgelassen habe und meinte
auf die Frage, wie er die bisherigen Partien einschätzt: "Bislang ist noch nicht
viel geschehen, er würde sich etwas mehr Action wünschen. Aber da er selbst
viele Weltmeisterschaftskämpfe gespielt habe, wisse er, dass die Situation einen
manchmal zwingt, bestimmte Dinge zu tun."
Boris Postowski und Garry Kasparov
Kasparow weiter: „Ich sah Anand beim Turnier im Dezember 2011 in London und bemerkte, dass er nicht mehr mit der Energie spielt wie früher. Ich denke, er hat einfach Angst zu verlieren, und Gelfand geht es ähnlich. Mit Blick auf die laufende Partie prognostizierte er: „Es wird wieder ein Remis geben. Die nervliche Anspannung und die Furcht, Fehler zu machen, werden bei beiden Spielern mit jeder Partie größer.“ Kasparow verglich das Moskauer Match mit vergangenen Duellen um die Krone und sagte: „Bei den letzten drei WM-Kämpfen 2006, 2008 und 2010 waren die Spannung und Dramatik größer.“
Was das russische Schach angehe, so habe es seine Vorherrschaft in der Welt verloren. Das sehe man an den Ergebnissen der WM, der Olympiaden und anderer Wettbewerbe. Computer spielten heute eine immer größere Rolle in der Vorbereitung der Top-Spieler. „Es fing 1995 bei meinem Match mit Anand in New York an. Dort überprüfte ich meine Neuerung in der berühmten 10. Partie vorher mit dem Rechner. Die Schachprogramme gingen meine damalige Neuerung durch und überprüften die danach entstehenden Varianten Das hat mir Sicherheit gegeben.“
Im Jahre 2000 hätte Kramnik gegen ihn in London mit der Berliner Verteidigung ein neues Kapitel eröffnet. „Das war eine Revolution. Kennen Sie einen Spieler aus den Top 10, der die Berliner Mauer nicht im Programm hat?“ Gelfands Eröffnungs-Vorbereitung beim Match in Moskau sei in Ordnung, aber nicht revolutionär.
Die Frage, ob er sich vorstellen könne, hier in Moskau am Brett zu sitzen und die WM zu spielen, beantwortete Kasparow mit einem klaren Nein. Mit Augenzwinkern: „Ich möchte meine Bilanz im klassischen Schach mit den beiden nicht verderben: Gegen Anand steht es 15:3 für mich, gegen Gelfand habe ich neunmal gewonnen und nie verloren. Wenn man jahrelang pausiert hat, arbeitet das Gehirn nicht mehr in dem Algorithmus, wie es auf Top-Level nötig ist.“ Im Blitz aber könne er sicher noch mithalten, erklärte Kasparow.
Von beiden WM-Finalisten sei Vishy Anand der bessere Spieler, keine Frage. Die Tatsache, dass Gelfand fast 20 Jahre keine klassische Partie gegen ihn gewonnen habe, spreche für sich. Das sei ein Fakt, den man nicht ignorieren könne. Aber Gelfand zeige starke Nerven. Am nächsten Tag bewies Boris dann mit seinem schönen Sieg, dass er gegen Vishy noch gewinnen kann.
Eine politische Frage wurde Kasparow auch gestellt. So wollte eine russische Kollegin wissen, wie er das intellektuelle Klima im Land einschätzt. Die Antwort fiel erwartungsgemäß negativ aus. Kasparow verwies darauf, dass viele junge Leute Russland verlassen, weil sie keine rechte Perspektive sehen. Der Oppositionspolitiker zitierte Zar Peter den Ersten, der einmal sagte: „Russland hat nur zwei Schätze: die Armee und Flotte.“ Putins Schätze heute seien nur Öl und Gas. Das sei zu eng gedacht. Und was Iljumschinows Politik als FIDE-Chef angehe, so hätten seine Besuche bei den Diktatoren Gadaffi und Assad sowie die Fotos davon jeden Sponsor vergrault.
Nach der Pressekonferenz gesellte sich Kasparow zu den Online-Kommentatoren und beurteilte in Russisch und Englisch die Züge der noch laufenden Partie. Anschließend gab er eine Simultanvorstellung an 14 Brettern. Seine Gegner waren starke russische Nachwuchsspieler. Zwei von ihnen erreichten ein Remis, darunter die erst neunjährige Jekaterina Golzewa. Nach 45 Zügen willigte Kasparow ins Unentschieden ein. Die Schach-Elevin hatte sich im Partieverlauf erfolgreich verbarrikadiert, und der Ex-Champion kam trotz vorherigen Qualitätsopfers nicht durch.
Tags darauf war dann auf der Bühne mehr los, endlich gab es die
erste Gewinnpartie. Würde der Sieg Boris Gelfand noch mehr Sicherheit geben als
die Tatsache, dass er im bisherigen Matchverlauf noch nicht gegen Anand verloren
hatte? Großmeister Sergej Schipow verwies vor seinem Live-Kommentar darauf, dass
die Situation Boris evtl. auch belasten könne, denn eine Führung gegen Anand sei
er nicht gewöhnt. Vielleicht mache ihn auch der Gedanke, den WM-Titel bald in
Reichweite zu haben, nervös? Schipow sollte sich als Prophet erweisen.
Gelfand spielte die Eröffnung nicht gut und ließ sich dann auch noch auf ein
abenteuerliches Abspiel ein. Nachdem sich seine Dame in Anands Stellung verirrt
hatte und nicht mehr ohne Schaden herauskam, waren gerade 17 Züge gespielt.
Boris warf das Handtuch und markierte damit unfreiwillig einen historischen
Rekord.
Er produzierte die kürzeste Verlustpartie aller Zeiten in einem
WM-Match. Der Negativrekord stand bisher bei 19 Zügen, gespielt in der 20.
Partie des Duells Steinitz-Zukertort 1886.
Am heutigen Ruhetag muss Boris versuchen, die Schlappe aus dem Kopf zu bekommen
und morgen wieder eine gute Partie, dann mit Weiß, zu spielen.
Der Reporter verfolgt das Match jetzt wieder vom heimischen Computer in Berlin aus. Er hat viele schöne Erinnerungen aus Moskau im Kopf, wo er sechs Jahre nicht mehr gewesen war. Am schönsten sind ja die Begegnungen mit den Persönlichkeiten des Schachs, die man seit langem kennt, von den Legenden Juri Awerbach und Isaak Linder bis zum jungen Sergej Karjakin.
Waleri Krylow, der begnadete Physiotherapeut, inzwischen 70 Jahre alt, war auch mehrmals in der Tretjakowka.
Er hat keinen geringen Anteil daran, dass seine Schützlinge Karpow oder Kramnik mehrmals Schachweltmeister wurden. Wie Anand und Gelfand sich während des Matchs fit halten weiß ich nicht. Vishys Gattin Aruna ist seit Beginn an seiner Seite in Moskau, Boris‘ Frau Maria wollte erst gegen Ende des Matchs einfliegen. Das wird ihm dann sicher gut tun. Ich erinnere mich an Brissago 2004. Wladimir Kramnik lag gegen Peter Leko vor der letzten Partie 6:7 zurück. Seine französische Verlobte Marie kam, er gewann das letzte Spiel und blieb Weltmeister.
P.S.: Eine Stunde durch die Tretjakow-Galerie habe ich mir auch gegönnt. Meine Lieblingsgemälde: Repins Tolstoi-Porträt
und sein Bild mit Iwan dem Schrecklichen.
Der Zar soll ja beim Schach umgekommen sein ...