Nachdruck
mit freundlicher Genehmigung.
Schach den tradierten Rollenmustern
Interview mit Bertina Henrichs
Von Dr. René Gralla
Ein paar unscheinbare Holzfiguren verändern
ihr Leben. Als Eleni, die in einem Hotel auf der griechischen Ferieninsel
Naxos arbeitet, in einem Gästezimmer ein aufgebautes Schachspiel entdeckt und
beim Staubwischen die Position unbeabsichtigt verändert, ist fortan nichts
mehr, wie es war. Den Aufbruch der Eleni in eine neue Welt beschreibt die
gebürtige Frankfurterin BERTINA HENRICHS (39), die seit 18 Jahren in Paris
wohnt: Der Debüt-Roman "Die Schachspielerin" ist der literarische
Überraschungserfolg dieses Frühjahrs. Mit der Autorin, die hauptberuflich als
Filmemacherin arbeitet, hat DR. RENÉ GRALLA gesprochen.
Dr. René Gralla: Die Protagonistin Ihrer
Geschichte emanzipiert sich, indem sie beginnt, Schach zu lernen. Viele
Menschen haben allerdings ein gespaltenes Verhältnis zum so genannten
Königlichen Spiel: Sie halten die Meister dieser Disziplin zwar für schlau,
aber zugleich auch für ziemlich verschroben. Wie also kann ausgerechnet das
in der öffentlichen Wahrnehmung eher sperrige Schach zum Vehikel einer
weiblichen Selbstfindung werden?
Bertina Henrichs: Eleni ist eine wenig
gebildete Frau. Sie weiß nichts vom Schachspielen, als sie zum ersten Mal auf
das Spiel stößt. Sie ahnt, dass es ein schwieriges Spiel ist, für das sie
eigentlich nicht gemacht ist. Sie fürchtet, nur die höhere Bildungsklasse
könne Schach spielen, und dazu gehört sie ja nun wirklich nicht. Aber
letztlich ist ihre absolute Unwissenheit in Sachen Schach auch ihre Stärke,
denn im Grunde hat sie keine Vorurteile. Sie weiß nichts vom Ruf der
Verschrobenheit der Meister. Und letztlich wird sie ja auch weder verschroben
noch wirklich Meisterin. Aber sie entdeckt etwas für sich, was ihr wichtig
ist, was sie leidenschaftlich gerne tut und was ihr alleine gehört, wozu sie
weder ihren Ehemann noch ihre Kinder braucht. Man könnte sagen, es wird zu
ihrem persönlichen Schicksal. Und damit verändert sie auch das Schicksal
ihrer Gemeinschaft, ohne das jemals wirklich angestrebt zu haben.
Dr. R. Gralla: Warum eigentlich haben Sie
überhaupt das vergrübelte Schach zum Leitmotiv Ihrer Erzählung erhoben? Wäre
nicht zum Beispiel Poker viel plausibler gewesen, um die Transformation einer
schüchternen und gedrückten Frau zur coolen Kämpferin zu beschreiben und
augenfällig zu machen?!
Bertina Henrichs: Am Anfang interessiert sich
Eleni für das Schachspiel, um mit ihrem Mann zu spielen, wie sie das bei dem
französischen Paar beobachtet hat, in dessen Zimmer sie ein Schachspiel zum
ersten Mal gesehen hat. Es geht also auch um den Traum einer anderen Form von
Partnerschaft, denn Schach spielt man ebenso mit- wie auch gegeneinander.
Eine gemeinsame Leidenschaft verbindet. Außerdem hält sie es für ein
elegantes Spiel, was man von Poker nicht in dieser Form behaupten kann. Auch
spielt man Poker schlecht zu zweit.
Was sie später am Schachspiel fasziniert ist die
Tatsache, dass es festgefahrene Ideen über den Haufen wirft. Es verwundert
sie, dass die einzige weibliche Schachfigur, die Dame, die mächtigste Figur
ist und der König das schwächste Glied, um den sich jedoch alles dreht.
Eleni selber ist mit der Figur des Bauern zu
vergleichen, der Schritt für Schritt vorangeht und nicht zurückkann. Aber am
anderen Ende des Schachbretts angelangt, kann diese banale Figur sich in eine
Dame verwandeln.
Dr. R. Gralla: Spielen Sie selber Schach?
Bertina Henrichs: Ja, aber leider ziemlich
schlecht.
Dr. R. Gralla: Wann haben Sie das Spiel
gelernt?
Bertina Henrichs: Ich habe es nie ernsthaft
gelernt. Wann und wie ich es doch irgendwie gelernt habe, weiß ich nicht
mehr.
Dr. R. Gralla: Spielen Sie in einem Verein?
Haben Sie schon einmal an einem Turnier teilgenommen?
Bertina Henrichs: Nein. Ich spiele gerne, aber
unregelmäßig.
Dr. R. Gralla: Schachspieler sind, was die
Genauigkeit der Beschreibung des Spiels bei Nicht-Fachleuten angeht, äußerst
penibel und - wie die notorischen Oberlehrer - ständig auf der Suche, um
angeblichen Laien Fehler nachzuweisen. Auch wenn Sie persönlich Schach
spielen, so sind Sie ja, wie wir gehört haben, keine Profispielerin. Haben
Sie daher keine Angst vor der Beckmesserei der oberschlauen Semi- und
Total-Profis unter den Schachspielern?!
Bertina Henrichs: Nein, überhaupt nicht, denn
ich habe ja keinen Roman über Schach geschrieben, wenngleich das Spiel auch
eine große Rolle spielt. Bis jetzt hat mir noch kein ernsthafter
Schachspieler vorgeworfen, ich hätte völligen Unsinn geschrieben, und ich
habe inzwischen einige Leser kennen gelernt, die leidenschaftliche Spieler
sind. Ich bin aber für jede Kritik sehr empfänglich.
Die Hauptfigur des Romans ist Zimmermädchen, ich bin
es nicht. Er spielt in Griechenland, wo ich nicht lebe. Ich denke, man muss
ja nicht unbedingt Spezialist auf einem Gebiet sein, um darüber schreiben zu
können. Sonst könnte man schließlich nur über ganz wenig Dinge schreiben.
Dr. R. Gralla: Schach ist ein Denksport, in
dem die Männer dominieren. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum sich
prozentual nur vergleichsweise wenige Frauen ernsthaft mit Schach
beschäftigen?
Bertina Henrichs: Ich glaube, dafür gibt es
verschiedene Gründe.
Erstens hat Schachspielen entfernt schon etwas mit
mathematischem Denken zu tun, was vielen Frauen offenbar nicht so liegt oder
ihnen manchmal sogar Angst macht.
Zweitens spielen Vorurteile eine Rolle.
Drittens sind die meisten Frauen stark in Beruf und
Kinderbetreuung eingebunden und haben überhaupt wenig Zeit zum Spielen.
Zumindest glauben sie das.
Viertens ist es schon eine sehr symbolische und
abstrakte Form des Kriegsspiels, was Frauen weniger interessiert, da sie wohl
im Allgemeinen etwas weniger aggressiv sind. Immer wissend, dass alle diese
Verallgemeinerungen mit höchster Vorsicht zu genießen sind.
Und fünftens weiß ich es eigentlich auch nicht.
Dr. R. Gralla: Nicht zuletzt unter jungen
Mädchen ist - im Vergleich zu Jungen - ein mangelndes Interesse am Schach zu
beobachten. Woran liegt das?
Bertina Henrichs: Weiß ich nicht. Ich finde es
faszinierend und bin auch eine Frau.
Dr. R. Gralla: Ganz anders die asiatische
Schachkultur, die, vor allem in China mit seinem spannenden Chinaschach
namens "XiangQi" - um einen "roten" und einen "schwarzen Palast", die der
"Gelbe Fluss" trennt - , eine besondere Haltung zum Denk- und Strategiespiel
entwickelt hat. Und größer könnte nun insofern der Unterschied zwischen
westlicher und östlicher Welt nicht sein.
Zwei exemplarische Fälle: Als - einerseits - der
Deutschrapper Smudo in einen vielwöchigen Karibik-Urlaub mit der Freundin
auch seinen Laptop mit runtergeladener Schachsoftware mitgenommen hatte und
dann an tropischen Abenden damit begann, Schach zu üben, mit übrigens
mittlerweile sehr respektablem Ergebnis, da fragte die Freundin, wie Smudo
mir angelegentlich eines Interviews berichtet hat, nur höchst genervt, ob es
"auch langweiliger" ginge. Als - andererseits - ich persönlich kürzlich
chinesisches Schach mit chinesischen Freunden gespielt habe, haben die
chinesischen Lebenspartnerinnen der Freunde, obwohl angeblich nur wenig
bewandert im Spiel, sehr interessiert zugeguckt; und als ich dann nach
stundenlangem Spiel - und die Einstellung von Smudos Freundin im Hinterkopf -
die Chinesinnen gefragt habe, wie sie das denn finden würden, dass wir hier
stundenlang gespielt haben, da haben die nur gesagt: "Das ist doch schön!"
Wie erklären Sie sich die unterschiedliche
Grundeinstellung zum Schach einerseits bei Asiatinnen - auch bei Japanerinnen
steht es hoch im Kurs, wenn Männer das Japanschach "Shogi", das noch viel
schwieriger ist als das chinesische Schach, von unserem Schach ganz zu
schweigen, beherrschen - und andererseits bei Frauen im Westen?
Bertina Henrichs: Das einzige, was ich dazu
sagen kann, ist, dass Konzentration, Ruhe, die Schönheit der vollendeten
Geste usw. in der asiatischen Kultur und Tradition entscheidende Werte sind.
Man braucht nur an die Teezeremonie zu denken. Diese Werte findet man beim
Schachspielen wieder.
Dr. R. Gralla: Selbst die besten
Schachspielerinnen haben kaum eine Chance gegen männliche
Großmeisterkollegen. Sogar der weibliche Topstar der Szene, die gebürtige
Ungarin und Wahl-Amerikanerin Judit Polgar, konnte bei der Schach-WM im
Herbst 2005 den Titelgewinn des Bulgaren Topalow nie ernsthaft in Gefahr
bringen. Woran liegt das?
Bertina Henrichs: Das ist vielleicht auch eine
Nervenfrage, bei der die Tatsache, dass Frauen so stark in der Minderheit
sind, also zusätzlich etwas beweisen müssen, auch eine Rolle spielt.
Ansonsten, muss ich gestehen, weiß ich nicht, woran es liegt.
Dr. R. Gralla: Eine Spitzenspielerin hat
den Unterschied zwischen Frauen und Männern im Schach mal so erklärt: Mädchen
seien weniger fanatisch und verbissen als Jungen und würden deswegen der
sportlichen Karriere nicht alles unterordnen - und gerade das wäre im äußerst
trainingsintensiven Schach notwendig, weil nur die- oder derjenige, die oder
der quasi rund um die Uhr trainiert, eine Chance hat, später bis zur
Weltspitze durchzustoßen. Da Mädchen dazu aber viel seltener als Jungen
bereit seien, für die oft vage Aussicht auf Erfolg im Schach alles andere
zurückzustellen - obwohl bei der Massenarbeitslosigkeit von heute einerseits
und den auf Turnieren zu gewinnenden Preisgeldern andererseits Schach
durchaus auch eine Karrieremöglichkeit sein kann - , würden die Frauen am
Ende mehrheitlich eben nicht das Leistungsniveau der Männer erreichen, obwohl
die Frauen eigentlich das Potenzial dazu hätten.
Stimmen Sie dem zu?
Bertina Henrichs: Sie wird es besser wissen
als ich. Aber andererseits haben Spitzensportlerinnen jeder Art ja auch ein
durchaus trainingsintensives Leben, dem sie sehr viel unterordnen müssen.
Trotzdem machen sie es.
Dr. R. Gralla: Warum nicht also auch im
Schach?
Bertina Henrichs: Natürlich spielt die
traditionelle Rollenverteilung bei diesen Dingen eine Rolle. Frauen waren am
Anfang der Entwicklungsgeschichte für die Hausarbeit, die Kindererziehung und
die Aufrechterhaltung der sozialen Beziehungen zuständig. Sie waren eher
Sammlerinnen, die Männer Jäger. Aus rein physischen Gründen; diese sind ja
auch nicht wegzudiskutieren.
Und außerdem können Frauen Kinder bekommen und Männer
nicht. Das ändert das Weltbild und setzt andere Prioritäten.
Des Weiteren hat man, glaube ich, herausgefunden,
dass es Unterschiede in den Gehirnstrukturen gibt. Bei Frauen ist das
Sprachzentrum stärker entwickelt, bei Männern die Orientierungsfähigkeit im
Raum usw. Über das Schachzentrum habe ich allerdings keine Informationen.
Vielleicht fehlt es Frauen einfach an Testosteron,
was sie weniger kämpferisch macht. Aber dafür bin ich nun wirklich keine
Spezialistin. Es wäre aber interessant, jemanden zu befragen, der sich mit
diesen Dingen ernsthaft befasst.
Dr. R. Gralla: Oder ist es ein Zeichen für
die am Ende doch größere Klugheit der Frauen, nicht so fanatisch zu sein wie
die Männer?
Bertina Henrichs: Ja. Fanatismus ist immer ein
Problem, aber Durchhaltevermögen, Ausdauer und konsequentes Verhalten sind es
nicht.
Dr. R. Gralla: Ist das mangelnde Interesse
bei Frauen für Schach nicht auch deswegen sehr schade, weil inzwischen
nachgewiesen ist, dass Kinder, die Schach frühzeitig lernen, später
Mathematik und Naturwissenschaften und sogar Sprachen leichter und besser
lernen. Sollte deswegen nicht doch versucht werden, auch viel mehr junge
Mädchen so früh wie möglich für Schach zu begeistern?! Und das kann schon ab
dem Alter von vier Jahren geschehen: Wäre das dann nicht auch ein
überraschender und spielerischer - und vielleicht deswegen am Ende höchst
erfolgreicher - Weg, von einer anderen Seite aus eingefahrene und tradierte
und sich übrigens gerade leider auch wieder verfestigende Geschlechterrollen
aufzubrechen?! Und das auf eine Weise, die auch noch richtig Spaß macht?!
Bertina Henrichs: Da bin ich ganz ihrer
Meinung. Was Schach auf alle Fälle fördern kann, ist das
Konzentrationsvermögen und die Nervenstärke. Des Weiteren hilft es sicher,
Aggressionen zu kanalisieren, Strategien zu entwickeln und schließlich
verlieren zu lernen.
Wenn es verfestigte Geschlechterrollen aufzubrechen
hilft, ist es natürlich noch besser. Ich muss allerdings gestehen, dass ich
dachte, wir wären schon viel weiter in der Frage der Rollenverteilungen, der
Gleichberechtigung usw. Ich bin sehr erstaunt über die im Augenblick in
Deutschland gerade wieder aufflackernde Diskussion. Es scheint da immer noch
viel Verwirrung und Missverständnisse zu geben. Frauen und Männer sind
unterschiedlich, werden und müssen es bleiben, sollen aber natürlich
dieselben Chancen haben. Und das kann nicht heißen, dass die Frauen die
doppelte und dreifache Arbeit leisten müssen, um Beruf, Kinder, Partnerschaft
und Freiräume zu haben. Aber das hatten wir alles doch schon mal, oder? Wie
kommt es, dass wir da immer noch nicht weiter sind?
Dr. R. Gralla: Vielleicht kann dafür sogar
Ihr Buch einen Beitrag leisten?
Bertina Henrichs: Das wäre sehr schön.
Dr. R. Gralla: Um noch einmal auf die
Eingangsfrage zurückzukommen: Da aber nun Schach - wenigstens momentan - eine
Männerdomäne ist, bringt der Kampf Ihrer Heldin um ein selbst bestimmtes
Leben dadurch, dass die Frau ausgerechnet die Männerdomäne Schach für sich
entdeckt und darin brilliert, den Emanzipationsprozess Ihrer Protagonistin
auf den Punkt?
Bertina Henrichs: Ja, ich denke schon. Sie
spielt ja bis zuletzt Schach auf ihre Art, mit den ihr zur Verfügung
stehenden Mitteln, wie zum Beispiel Intuitivität, Durchhaltevermögen,
Fantasie, die man als weibliche Attribute erachten kann, wenn es so eine
Trennung überhaupt wirklich gibt. Ich bin da immer sehr skeptisch.
Außerdem geht es ihr ja auch gar nicht darum,
Weltmeisterin zu werden. Es macht ihr Spaß, sie entdeckt beim Spielen Seiten
an sich, die sie vorher nicht kannte, und das ist ihr wichtig.
Das ist dasselbe mit dem Parfum. « Eau sauvage » ist
ursprünglich ein Männerparfum, aber das weiß sie nicht, als sie sich in den
Duft verliebt. Als sie es dann erfährt, hindert es sie aber nicht daran, das
Parfum zu kaufen und zu benutzen.
Dr. R. Gralla: Nach Garri Kasparow, der
jahrelang der Medienstar im Schach gewesen war - der jetzt aber vom aktiven
Sport zurückgetreten ist, um eine Wahlkampagne für die nächste
Präsidentenwahl in Russland als Herausforderer von Putin zu starten -, ist
der neue und sehr attraktive Medienstar im Schach: der neue Weltmeister
Topalow aus Bulgarien. Hätten Sie Lust, mal eine Partie zu spielen gegen
Topalow? Und das dann womöglich auch literarisch zu verarbeiten - nach dem
Muster des Romans "Lushins Verteidigung" von Vladimir Nabokov? Auch in "Lushins
Verteidigung" gibt es ja ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen einem
begnadeten Schachspieler - der allerdings ziemlich verrückt ist, während
Topalow höchst normal ist - und einer Frau.
Bertina Henrichs: Ich fürchte, ich hätte nicht
die leiseste Chance gegen Herrn Topalow. Er würde sich bestimmt schrecklich
langweilen. Aber der Gedanke von einem großen Schachspieler zu lernen ist
sehr reizvoll. Nur für ihn wäre es natürlich weniger spannend.
Dr. R. Gralla: Vom 19. Mai bis 5. Juni 2006
findet zum 37. Mal Schach-Olympia statt, und zwar dieses Jahr im
italienischen Turin. Fahren Sie hin? Vielleicht als Inspiration für ein neues
Werk?
Bertina Henrichs: Nein. In meinem nächsten
Roman wird es nicht um Schach gehen.
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"Die Schachspielerin", Verlag Hoffmann + Campe, 142 Seiten, 15,95 Euro
Die Schachspielerin: Rezension beim WDR...