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Max Euwe genießt an diesem Donnerstagmorgen das Frühstück mit seiner Frau. Gerade hatte er eine Depesche von Alexander Aljechin mit einem Remisangebot erhalten. Er hatte die Annahme des Angebots sofort bestätigt und mit dem Boten zurückgeschickt. Die Hängepartie muss nicht mehr weitergespielt werden und er hat einen freien Tag. Die zweite Partie des Wettkampfes stand erst morgen an Heiligabend auf dem Spielplan.
Mit einer Tasse Kaffee in der Hand geht er in sein Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch ist auf dem Schachbrett noch die Abbruchstellung aufgebaut. Doch die ist bereits Geschichte. Ehe er sich an die Vorbereitung für die zweite Partie macht, lehnt er sich zurück und denkt an das Jahr 1926. Welch ein glückliches und erfolgreiches Jahr!
Es hatte mit seiner Promotion begonnen. Die Universität Amsterdam verlieh ihm für seine Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Differentialinvarianten die Doktorwürde. Dann hatte er im Frühjahr Carolina Bergmann zum Altar geführt. Letztlich hatte er auch nach einer langen Pause wegen seines Studiums wieder Erfolg im Schach gehabt. Ein Turniersieg in Weston super mare, einem Kurort in der Nähe von Bristol, und der Gewinn der niederländischen Meisterschaft in Utrecht bedeuteten neuen Ansporn.
Als sein Schachverein, die Vereinigd Amsterdamsch Schaakgenootschap (Vereinigte Amsterdamer Schachgesellschaft), das Angebot machte einen Wettkampf mit einem Weltklassespieler zu organisieren, war er begeistert. Der Vereinspräsident Theodoor van Hoorn war nicht nur ein guter Schachspieler, sondern auch ein noch besserer Organisator. Er fand, dass der 25jährige Meister eine solche Chance verdient habe. Die Amsterdamer Schachgesellschaft war nicht nur der älteste Verein (Gründung 1822) in den Niederlanden, sondern auch der mitgliederstärkste Klub und aufgrund seiner prominenten und betuchten Mitglieder finanziell sehr gut gestellt.
Die Suche nach einem prominenten Schachmeister für den Wettkampf am Jahresende gestaltete sich schwieriger als erwartet. Zuerst fragte man bei Dr. Emanuel Lasker an. Doch der Ex-Weltmeister aus Berlin sagte aus Termingründen ab. Danach versuchte man es bei Efim Bogoljubow. Doch der strahlende Sieger von Moskau 1925 (mit 1,5 Punkten Vorsprung vor Lasker, Capablanca, Marshall, Tartakower, Torre und Reti) und Breslau 1925 (zwei Punkte Vorsprung vor Nimzowitsch und Rubinstein) hatte außergewöhnliche Honorarvorstellungen. Selbst für einen wohlhabenden Verein wie der Amsterdamer Schachgesellschaft überschritt die Forderung das Budget. Beim dritten Versuch fragte man bei Alexander Aljechin an und der sagte zu.
Man vereinbarte einen Wettkampf über zehn Partien in der Zeit von Weihnachten bis ins neue Jahr. Die erste Partie wurde für den 22. Dezember 1926, die zweite für den 24. Dezember. Und so ging es im Zweitage-Rhythmus weiter. Für die Beendigung möglicher Hängepartien waren die Tage zwischen den Partien vorgesehen. Aljechin wollte diesen Wettkampf als Training und Vorbereitung für seinen Weltmeisterschaftskampf gegen José Capablanca nutzen. Deshalb stellte er die Bedingung, dass nach der Regelung der Bedenkzeit, die Capablanca für einen WM-Kampf vorgeschrieben hatte, gespielt werden sollte.
Machgielis Euwe, den alle Welt nur Max nannte, akzeptierte die Forderung. Für ihn konnte dieser Wettkampf den Aufstieg in die Spitzenklasse bedeuten. Allerdings hatte er die Erwartungen seiner Anhänger gedämpft. Bisher hatte er bei Turnieren, bei denen Aljechin und er mitgespielt hatten, deutlich schwächer abgeschnitten. Zum Beispiel 1921 in Budapest und den Haag. Beide Turniere hatte Aljechin gewonnen, Euwe wurde Sechster (Budapest) und Neunter (Haag). Bei den Turnieren 1922 in Bad Piestany war er hinter den Preisträgern Bogoljubow, Aljechin, Spielmann, Grünfeld und Reti Neunter geworden, in London deutlich hinter der Spitzengruppe mit Capablanca, Aljechin, Vidmar, Rubinstein, Bogoljubow, Reti, Tartakower und Maroczy auf Rang elf gelandet. Daher gab er für den Wettkampf eine düstere Prognose ab: Euwe rechnete mit einer 2,5 : 7,5-Niederlage.
Nach dem Remis in der ersten Partie ging Euwe am 24. Dezember frohgemut zum Concertgebouw. In der Konzerthalle, nicht weit vom Rijksmuzeum enfernt, wurde im kleinen Saal gespielt. Mit Weiß rechnete sich Euwe natürlich bessere Chancen aus. Aber es kam ganz anders:
Als dann auch noch die dritte Partie verloren ging, befürchtete man für Euwe das Schlimmste. Doch der Holländer fing sich. Nach drei Remis gewann er in der siebten und achten Runde und glich damit aus. Ein Remis in der neunten Runde bedeutete eine Entscheidungspartie zum Abschluss. Aljechin siegte und gewann den Zweikampf mit 5,5:4,5. Ein Resultat, dass auch das Selbstvertrauen von Max Euwe stärkte.
Auch für Aljechin dieser Wettkampf eine wichtige Erkenntnis für den WM-Kampf 1927 in Buenos Aires geliefert: Er war überhaupt nicht mit der damals noch unüblichen Bedenkzeit zurechtgekommen. In jeder Partie hatte er teilweise haarsträubende Zeitnotphasen überstehen müssen.
Keiner der beiden Meister konnte ahnen, dass sie rund zehn Jahre später in den Niederlanden 55 Partien in zwei WM-Kämpfen gegeneinander spielen würden.