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Interview von Evgeny Surov für chess-news.ru. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
E. Surov: St. Louis, wir sitzen hier zusammen mit Alexander Ipatov, ein recht junger Großmeister, und diskutieren. Alexander, wie alt sind Sie?
A. Ipatov: Vor zwei Wochen bin ich 24 geworden.
E. Surov: Sie haben in Ihrer Karriere bereits einige Länder vertreten: die Ukraine, Spanien und die Türkei. Es taucht die Frage auf: Was machen Sie hier in St. Louis?
A. Ipatov: Hier absolviere ich mein einjähriges MBA (Master of Business Administration). Ich beschloss, eine Zeitlang vom Schach Abstand zu nehmen und mich meinem Studium zu widmen. Wie es weitergeht, werde ich dann sehen.
E. Surov: Eine recht unerwartete Entscheidung, vor allem für einen Großmeister: dem Schach den Rücken zu kehren und sich der Ausbildung zu widmen.
A. Ipatov: Großmeister sind nicht gleich Großmeister, nicht wahr? Es gibt welche mit 2450 und andere mit 2780. Ich bin irgendwo in der Mitte, soll heißen ein durchschnittlicher Großmeister. Man muss irgendwie überleben und Open-Turniere spielen. Meiner Meinung nach findet heute im Schach ein Kampf ums nackte Überleben statt. Entweder bist du in den Top 10 oder einfach nur ein Großmeister. Eine recht traurige Lage.
E. Surov: Verstehe ich das richtig, dass Sie diesen Überlebenskampf nicht aushalten konnten? Oder was wollen Sie damit sagen?
A. Ipatov: Nein, das denke ich nicht, ich liebe es zu kämpfen. Ich glaube einfach, dass es keinen Sinn macht, diesen Überlebenskampf ausgerechnet in der Schachwelt zu führen. Das Leben ist zu kurz, um es nur mit Schach zu verbringen. Ich ziehe es vor, mich etwas anderem zuzuwenden und Schach nur zum Vergnügen zu spielen. Ein Profispieler möchte ich nicht sein, ich sehe keinen Sinn darin. Meine aktuelle Elozahl ist 2650. Ich kann sie auf 2720 verbessern – das macht keinen großen Unterschied. Es ist besser, Geschäftsmann zu werden und Handel zu betreiben.
E. Surov: Sie gehen also davon aus, dass Sie nicht die Spielstärke erreichen werden, um hin und wieder Einladungen für Elite-Turniere zu bekommen?
A. Ipatov: Ich denke, dass ich in der Lage bin, das Niveau der Top 20 zu erreichen, aber was macht das schon? Man muss in die Top 10 kommen und dafür braucht man auch Glück. Mit meinen 24 bin ich nicht mehr so jung, eher irgendwie Durchschnitt. Ab 35 würde sich meine Spielstärke allmählich verschlechtern. Heute wird man mit 13-14 Jahren Großmeister. Ich wurde es mit 17, in die Top 100 kam ich mit 23 Jahren. Das ist nicht gerade vorbildlich. In der Tat ist das alles sehr traurig, weil ich mein ganzes Leben lang nur Schach gespielt und nur dies erreicht habe.
E. Surov: Mit welchem Alter haben Sie mit Schach begonnen?
A. Ipatov: Mein Vater zeigte mir, wie man Schach spielt, als ich 4 war. Mit 6 Jahren brachte meine Mutter mich in einen Schachverein.
E. Surov: Seitdem haben Sie ihr ganzes Leben dem Schach gewidmet?
A. Ipatov: Ich habe noch einen Bachelor-Abschluss geschafft, fünf Sprachen gelernt, sehr viel gelesen … Aber es stimmt: Im Grunde habe ich mich nur mit Schach beschäftigt.
E. Surov: Nicht nur, wie sich herausstellte.
A. Ipatov: Im Grunde schon. Ich habe meinen Lebensunterhalt nur mit Schach verdient, obwohl ich auch anderen Hobbys und Interessen nachgegangen bin.
E. Surov: Haben Sie damals geglaubt, dass Sie eine große Schachzukunft vor sich haben?
A. Ipatov: Nein. Neulich bin ich alte Interviews von mir durchgegangen und über das mit Evgeni Atarov für Whychess gestolpert. Er hatte mich 2012 interviewt, nachdem ich die Weltmeisterschaft U20 gewonnen hatte. Schon damals hatte ich gesagt, dass ich kein Schachprofi sein möchte. So rational war ich schon.
E. Surov: Seitdem sind fünf Jahre vergangen …
A. Ipatov: Ja. Möglicherweise hätte ich mich schon früher vom Schach abwenden sollen.
E. Surov: Wann genau haben Sie die endgültige Entscheidung getroffen, dass es kein Zurück mehr geben soll?
A. Ipatov: Im Juli 2015, als mir angeboten wurde, an der St. Louis Universität zu studieren. Erst jetzt im Juni habe ich mich dort eingeschrieben – ich musste noch einige Prüfungen ablegen, gleichzeitig ein paar Turniere und die Schacholympiade spielen, Diverses erledigen. Also habe ich vor fast zwei Jahren diese Entscheidung getroffen.
E. Surov: Verdanken Sie Ihre Entscheidung, Geschäftsmann zu werden, dem Verlangen, diese Tätigkeit auszuüben?
A. Ipatov: Ja, das interessiert mich. Auch hier gibt es den Überlebenskampf und ein hohes Risiko. Wenn ich mich nicht täusche, scheitern neun von zehn Startups innerhalb der ersten fünf Jahre. Das Risiko ist also enorm, aber mich interessiert das. Es ist schwierig, dies in einem Interview zu erklären, jedenfalls finde ich die Businesswelt interessanter als nur Schach zu spielen.
E. Surov: Wann schließen Sie ihr Studium ab?
A. Ipatov: Nächstes Jahr im Juni, die Ausbildung dauert ein Jahr. In der Regel dauert MBA zwei Jahre, ich mache aber das verkürzte Intensivprogramm.
E. Surov: Planen Sie, in den USA zu bleiben?
A. Ipatov: Ich weiß es noch nicht, mal sehen. Das hängt von den Umständen ab und diese ändern sich täglich.
E. Surov: Welche Staatsbürgerschaft haben Sie aktuell?
A. Ipatov: Die Ukrainische.
E. Surov: Sie sind scheinbar ein sehr selbstkritischer Mensch, richtig?
A. Ipatov: Nicht nur selbstkritisch, sondern auch in Bezug auf andere kritisch. Aber wie ich schon sagte, ich versuche objektiv zu bleiben.
E. Surov: Was ich Sie noch fragen möchte: Gibt es neben den fehlenden großartigen Schachhöhen (abgesehen von Ihrem größten Erfolg – dem Gewinn der Weltmeisterschaft U20) auch andere Aspekte im Schach, die Sie als nicht erfüllend betrachten? Es gibt sicherlich noch etwas anderes. Wenn das Spiel Spaß macht, denkt man womöglich nicht nur an die finanzielle Seite.
A. Ipatov: Auf jeden Fall mag ich das Spiel sehr. Vor ein paar Jahren aber kam mir der Gedanke: Was mache ich, wenn ich eine Familie gründe? Wie verdiene ich meinen Lebensunterhalt, wenn ich 30 oder 35 Jahre alt bin?
E. Surov: Noch haben Sie keine Familie gegründet?
A. Ipatov: Ich habe eine Freundin, der ich einen Antrag gemacht habe und sie hat angenommen. Offiziell habe ich noch keine Familie, aber im Herzen schon. …
Zurück zu Ihrer Frage, womit ich im Schach nicht zufrieden bin: Ich habe einfach keine Möglichkeit gesehen, als Schachprofi eine Familie zu versorgen. Das ist das Problem. Ich mag es, Schach zu spielen und ich hätte noch lange spielen können. Irgendwann wäre die Zeit gekommen, in der ich Turniere spielen müsste, um Geld für die Familie zu verdienen. Das ist nicht so einfach. Zum einen bedeutet das viel Stress, zum anderen ist Schach als Spiel ein wenig unfair. Man kann neun Runden lang ausgezeichnet spielen und mit dem letzten Zug in der letzten Partie irgendetwas übersehen. Hier endet dann alles. Ich habe ähnliche Erfahrungen gemacht. Ein ungenauer Zug bedeutet einen riesigen Preis-Unterschied. Aber die Höhe meiner Geldprämie würde nicht nur mich betreffen, sondern ebenso meine Familie. Als ich die Entscheidung traf, mit dem Schach aufzuhören, dachte ich vor allem an meine Familie.
E. Surov: Ich weiß, dass es Schachspieler mit etwa Ihrer Elozahl gibt, die ihr Leben lang von einem Open zum nächsten fahren, damit sie ihren Lebensunterhalt verdienen und mit ihrem Leben zufrieden sind.
A. Ipatov. Das ist durchaus möglich. Menschen sind unterschiedlich und jeder hat seine eigene Lebensphilosophie. Schachspieler sind tolle Menschen, aber in gewisser Weise habe ich Mitleid mit ihnen. Heutzutage gibt es weniger Geldpreise, die Konditionen haben sich verschlechtert, es gibt mehr Konkurrenz, beispielsweise aus Ländern wie China und Indien. Die Sachlage hat sich geändert.
E. Surov: Ich möchte nur begreifen, ob es diese Problematik wirklich gibt. Während unseres Gesprächs fange ich an zu verstehen, dass dem so ist. Es gibt eine Vielzahl an Schachspielern, die sich eine Familiengründung nicht erlauben können.
A. Ipatov. Ich beklage mich nicht, das war meine persönliche Entscheidung. Möglicherweise hätte ich auch Schach spielen können, zu den Open fahren, gelegentlich etwas gewinnen oder den geteilten zweiten Platz schaffen, vielleicht auch mal zehntausend Euro verdienen. Einmal kann das passieren, das nächste Mal, dass ich so viel Geld verdiene, kann aber vielleicht erst in drei Jahren sein.
E. Surov: Ist Schach überhaupt ein Beruf?
A. Ipatov. Für viele schon.
E. Surov: Kann Schach als Beruf durchgehen? Oder bleibt es ein Spiel?
A. Ipatov. Eine philosophische Frage. Schach ist ein Spiel, eine Sportart, Kunst, Beruf. Es ist schwierig, eine genaue Definition zu formulieren.
E. Surov: Was passiert gerade in Ihrem Leben, neben dem Studium an der Uni in St. Louis?
A. Ipatov: Ich liebe es, Fremdsprachen zu lernen. Hier habe ich mit Chinesisch angefangen, werde aber mangels Zeit nächstes Jahr damit weitermachen. Ich halte viel von Selbstbildung. Überhaupt denke ich, dass neben der formalen Hochschulbildung auch eine Selbstbildung notwendig ist. Auch liebe ich es, zu reisen. Die höchste Priorität in meinem Leben bleibt aber die Familie.
Ich habe mich nicht aus dem Schach zurückgezogen, weil ich mehr Geld, sondern eine Familie will. Ich möchte meinen Kindern Dinge geben, die viele Schachspieler nicht geben können. So wie eine gute Schulbildung ... Ich sah einfach keine Möglichkeit, eine Familie mit Schach zu ernähren. Mit Glück könnte ich unter die Top 20 kommen, ansonsten als Top 50-Spieler bei Open in den USA und Europa auftreten oder bei irgendwelchen Cups mitspielen und in der zweiten oder dritten Runde ausscheiden ... Und all das würde zu nichts führen. …
Ich finde es gut, auf dem Höhepunkt meiner Karriere den Schlussstrich gezogen zu haben. Mein letztes Turnier war die Olympiade in Baku. Wir haben gegen Georgien gewonnen, ich spielte als Letzter und dank meines Sieges gelang es der Türkei, sich für die Weltmeisterschaft zu qualifizieren, bei der sie dieses Jahr in Chanty-Mansijsk sehr erfolgreich war. Hätte ich diese Partie verloren, wäre die Türkei auf Platz 24 gelandet. Aber ich gewann und die Türkei fuhr zur Weltmeisterschaft, während ich meine Karriere beendete. Für viele Schachspieler wäre sie gerade angefangen.
E. Surov: Jetzt denken Sie nicht mehr daran, welches ihr nächstes Turnier sein wird.
A. Ipatov: Das weiß ich schon – ich werde Ende Dezember für die Uni-Mannschaft von St. Louis spielen.
E. Surov: Das heißt, Sie spielen dennoch weiterhin Schach?
A. Ipatov: Ich muss. Mein Stipendium ist nicht umsonst. Ich spiele für die Uni.
E. Surov: Werden Sie sich vorbereiten, Eröffnungen einstudieren? Oder geht es um ein nicht ganz ernst zu nehmendes Turnier?
A. Ipatov: Ich spiele besser, wenn ich mich nicht vorbereite und versuche kreativ zu sein. Eine zu intensive Vorbereitung sorgt für Stress. Das Wichtigste ist, gut ausgeschlafen zu sein.
E. Surov: Wie hat die Türkei auf Ihre Entscheidung zu gehen, reagiert?
A. Ipatov: Ich glaube, es ist denen egal. Ich meine, dem Schachbund war es egal, während die Schachspieler erstaunt waren. Selbst die Eltern einiger Schachspieler waren erstaunt.
E. Surov: Gab es unter den Schachspielern welche, die dich für deine Entscheidung gelobt haben? Oder meinten sie eher: „Was bist du für ein Idiot, so etwas zu tun?“
A. Ipatov: Letztes Jahr hat mich Alexey Dreev gelobt, er sagte, das sei die richtige Entscheidung. Auch einige andere kluge Leute sagten mir, dass ich es richtig mache. Es gab auch welche, die kein Verständnis hatten. „Warum gehst du? Man kann noch Schach spielen“. Menschen sind halt verschieden, jeder hat seine eigene Meinung.
E. Surov: Vielen Dank, Alexander. Wissen Sie, diesbezüglich erinnere ich mich an eine holländische Schlagzeile aus dem Jahr 1975. In einer Juli-Ausgabe der Zeitung stand: „Noch jemand, der die Freiheit wählte“.
A. Ipatov: Viktor Kortschnoi?
E. Surov: Ja. Ich musste, warum auch immer, daran denken.
A. Ipatov: Es ist noch zu früh, darüber zu reden. In zwanzig, dreißig Jahren sehen wir weiter. Die Zukunft wird es zeigen.
E. Surov: Wir reden in zwanzig, dreißig Jahren wieder. Vielleicht auch eher.
A. Ipatov: Das hoffe ich. Vielen Dank.
E. Surov: Ich danke Ihnen!
Foto: Evgeny Surov
Quelle: http://chess-news.ru/node/23523