Martin Breutigam: Reti-Eröffnung - ein modernes Repertoire
Rezension von Sebastian Vigl
Hunde, die nicht bellen, oder: Positionell eröffnen wie Kramnik, Adams oder Aronian
Ein Grundsatz vieler Schachlehrer ist: Für jeden Spielertyp gibt es die passende Eröffnung. Wer in den ersten Züge als Anziehender lieber eine ruhige Kugel schieben will, ohne in Nachteil zu gelangen, dem könnte die Reti-Eröffnung zusagen.
In den meisten Eröffnungen, auch in solchen, die positioneller Natur sind, begegnen uns Abspiele, die stark von taktischen Nuancen geprägt sind. Die hypermoderne Reti-Eröffnung bildet hierbei eine Ausnahme. Wer sie nach den klassischen Vorbildern spielt, weicht sofortigem Kräftemessen im Zentrum zugunsten von sorgfältigem Manövrieren aus. Das heißt jedoch nicht, dass dem Reti-Spieler passive Stellungen ohne Aussicht auf Vorteil erwarten. Dieser Eindruck bestätigt sich nach dem Studium Breutigams Fritztrainer, in dem er ein weißes Repertoire nach den Zügen 1.Sf3 d5 2.c4 anbietet. Seine Repertoire-Empfehlungen sind Großmeisterpartien jüngeren Datums entnommen, weshalb er das Repertoire als „modern“ bezeichnet. Ein interessantes Attribut für eine hypermoderne Eröffnung!
Varianten lernen mit der neuen ChessBase-App
ChessBase hat mit der Veröffentlichung neuer Apps jüngst neue Maßstäbe gesetzt. Für die Arbeit mit dem Reti-Trainer habe ich die neue Eröffnungs-App probiert. Am Brett können hierbei Repertoirezüge eingegeben, gespeichert, kommentiert und mit einer Live-Datenbank abgeglichen werden. Der besondere Clou: Über die sogenannte Drill-Funktion lässt sich das Repertoire auch trainieren, indem die App die bereits eingegebenen Varianten von einem fordert. Auswendig zu lernen gibt es in den von Breutigam empfohlenen Abspielen zunächst eher wenig, da sich viele Züge von selbst erklären, wenn man die prinzipiellen Ideen der Eröffnung verstanden hat. Anders ist das im folgenden Abspiel:
1.Sf3 d5 2.c4 e6 3.b3 Sf6 4.g3 Le7 5.Lg2 0-0 6.0-0 c5 7.Lb2 Sc6 8.e3 b6 9.Sc3 Lb7 10.cxd5 Sxd5 11.Sxd5 Dxd5 12.d4 Tad8 13.Se5 Dd6 14. dxc5 Dxc5:
Screenshot der Eröffnungs-App. Weiß hat hier einen Zug, um in Vorteil zu kommen.
Wem der Zug nicht gleich einfällt, dem hilft die App, indem sie wie hier, die zu ziehende Figur markiert.
Breutigam verweist in dieser Stellung auf den halsbrecherisch anmutenden Zug Sd7, die daraus entstehenden Varianten sollte man jedoch parat haben.
Breutigams Empfehlungen: Ein solides Reti-Repertoire
Baut sich Schwarz mit e6 und d5 auf, propagiert Breutigam das weiße Doppelfianchetto und ähnliche Varianten, die manche vielleicht schon aus Nigel Davis Buch „The dynamic Reti“ kennen. Weiß schlägt nach Möglichkeit nach erfolgter Entwicklung cxd5 und lässt d4 folgen. Verschiedene Strukturen können daraus entstehen, auf deren Charakteristika Breutigam jeweils eingeht.
Gegen „slawische“ Aufbauten von Schwarz mit den Zügen d5 und c6 empfiehlt Breutigam nicht 3.b3, wie es zum Beispiel auch von GM Ramirez in seinem bei ChessBase veröffentlichten Reti-Repertoire empfohlen wird, sondern das kritischere 3.g3. Zwar führt der Zug 3.b3 in ruhigere Fahrwässer, die vielen Reti-Anhängern liegen dürften. Der Zug 3.g3 verspricht aber, den Anzugsvorteil zu bewahren. Nach 3.g3 sollte man darauf vorbereitet sein, was passiert, wenn Schwarz sich den Bauern auf c4 schnappt und sich an den Mehrbauern klammert. Breutigam zeigt hier recht ausführlich, wo die schwarzen Probleme liegen und wie Weiß diese ausnutzen sollte. In der Variante nach 1.Sf3 d5 2.c4 c6 3.g3 Sf6 4.Lg2 dxc4 5.0-0 Sbd7 6.Dc2 Sb6 7.Sa3 Le6 bietet Breutigam zwei interessante Fortsetzungen für Weiß an. Den dynamischen Zug 8.Se5 und das etwas etwas positionellere 8.b3, was meinem Spielstil eher entgegenkommt.
Geschmackssache: Breutigam zeigt hier zwei verschiedene Fortsetzungsmöglichkeiten.
Schwarz hat wie in diesem Abspiel häufig mit einem unterentwickelten Königsflügel zu kämpfen.
Gegen das „New-York-System“ nach 1.Sf3 d5 2.c4 c6 3.g3 Sf6 4.Lg2 Lf5 erkennen wir den Vorteil, den es bedeuten kann, nicht b3 im dritten Zug gespielt zu haben. Dieses Feld wird nach weißem Schlagen auf d5 erstaunlich attraktiv mit der Dame besetzt. Den b7 nun zu decken, kann den unvorbereiteten Schwarzspieler schon zu suboptimalen Zügen verleiten. Breutigam geht auch hier auf die wichtigsten Motive ein und erklärt, warum man sich in der folgenden Stellung an den Zug e4 besinnen sollte.
Hier kann Weiß die Stellung schon mit e4 vorteilhaft aufbrechen.
Gegen 1.Sf3 d5 2.c4 c6 3.g3 Sf6 4.Lg2 Lf5 macht Breutigam mit den Vorteilen eines raschen Se5 vertraut. Laut seinen Ausführungen bekommt man den Eindruck, dass egal, was Schwarz mit seinen Lf5 im Anschluss vorhat, dies Weiß zu einem leichten Vorteil gereicht.
Optiert Schwarz mit seinen ersten drei Zügen für das sogenannte „Triangle-Setup“ mit c6, e6 und d5 bleibt Breutigam den hypermodernen Prinzipien der Reti-Eröffnung treu und hält den d-Bauern in der Eröffnung zurück. Dies kann besonders für Stonewall-Afficionados unangenehm werden, die mit einem raschen weißen e4 rechnen müssen.
Nach 1.Sf3 d5 2.c4 d4 wird einem der hypermoderne Zug 3.b4 ans Herz gelegt, nach 1.Sf3 d5 2.c4 dxc4 der Springerausfall 3.Sa3.
Das Repertoire kann im Anschluss an die 19 Lehrvideos in 15 interaktiven Testfragen vertieft werden. Hierbei fand ich begrüßenswert, dass nicht nur Repertoire-Züge, sondern auch Reti-typische Motive abgefragt werden.
Persönliche Meinung zu Inhalt und Vortragsstil
Der gebürtige Bremer Martin Breutigam vermittelt das Wissen auf eine hanseatisch-trockene und nüchterne Weise, die sehr gut zum Charakter der Reti-Eröffnung passt: Wer Reti spielen will, der behält gerade in den Anfangsgründen der Partie gerne den Überblick und einen adäquaten Ruhepuls.
Was mir besonders gut gefallen hat: Gerade auf Vereinsspieler-Niveau fällt es einem bisweilen schwer, wenn am Ende einer Eröffnungsvariante in Theoriebüchern ein += steht, ohne dass näher erläutert wird, worin der weiße Vorteil besteht und wie dieser vergrößert oder beibehalten werden könnte. Hier kommt Breutigam dem Schachfreund entgegen und gibt kurz darüber Auskunft, welche Elemente Weiß besser dastehen lassen. Mal ist es das Läuferpaar, mal der Druck gegen den schwarzen Zentralbauern auf d5, mal die bessere Bauernstruktur, das Spiel gegen einen Isolani oder gegen hängende Bauern auf c5 und d5. Positionelle Elemente, die der ambitionierte Reti-Spieler mit weiteren geeigneten Büchern oder DVDs vertiefen sollte, um mit dieser interessanten Eröffnung zu punkten. Wer sich eifrig durch die mitgelieferte Datenbank mit 100 Musterpartien (viele mit Kommentar) spielt, dürfte jedoch mit den wesentlichen Motiven dieser Eröffnung schon einigermaßen vertraut werden.
Breutigam zeigt auf, das die hängenden Bauern für Schwarz hier schnell zum Problem werden können.
Fazit
Breutigams Reti-Repertoire ist auf dem neuesten Stand der Theorie und wird es auch für absehbare Zeit bleiben. Breutigam gelingt es aufzuzeigen, was viele schon wussten: Die Reti-Eröffnung ist zeitgemäß und kämpferisch, besonders wenn sie - wie im aktuellen Fritz-Trainer - mit frischen Ideen ausgeschmückt wird. Ich kann diesen Fritz-Trainer positionell veranlagten Spieler mit gutem Stellungsgefühl wärmstens empfehlen. Wer dem aktuellen Trend folgen will und seine Partien mit dem kryptischen 1.Sf3 eröffnet, der kann mit Breutigams Reti-Repertoire einer der wichtigsten schwarzen Antworten, dem Doppelschritt des Damenbauern, kraftvoll entgegnen.
Ich erinnerte mich beim Studium der Reti-Eröffnung an einen Ausspruch meiner Mutter. Demnach sollte ich mich besonders vor solchen Hunden vorsehen, die nicht bellen. Gemäß dem alten Lehrsatz: Hunde, die bellen, beißen nicht. Das Halten eines eigenen Hundes hat mich inzwischen gelehrt, dass das Verhalten der Tiere doch komplexer ist. Wer der Reti-Eröffnung gegenüber steht, darf dennoch gewarnt sein: Nur weil sie anscheinend so ruhig beginnt, heißt es nicht, dass sie früher oder später zubeißt!
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