Carlsen gibt Einblicke

von Sagar Shah
28.11.2022 – Beim Meltwater Champions Chess Tour Finale in San Francisco war Magnus Carlsen in bestechender Form und gewann das Turnier überzeugend. In Runde 6 spielte er gegen den indischen Nachwuchsstar Praggnanandhaa und gewann nach spannendem Matchverlauf 2,5-0,5. In einem anschließenden Zoom-Interview mit Sagar Shah, der das Match in Indien bis in die frühen Morgenstunden online verfolgt und kommentiert hatte, zeigte sich Carlsen sehr auskunftsfreudig und ließ die kritischen Momente des Wettkampfs noch einmal Revue passieren. | Foto: Amruta Mokal

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Ein munterer Weltmeister

[Ein Video des Interviews finden Sie am Ende des Artikels.]

IM Sagar Shah (SS): Hallo Magnus, herzlichen Glückwunsch zu deinem starken Wettkampf gegen Pragg. Kannst du uns etwas über den Wettkampf und die kritischen Punkte des Wettkampfs verraten?

Magnus Carlsen (MC):

Danke! Ja, das Match war hart. Gleich in der ersten Partie hat er mich aus der Eröffnung heraus stark unter Druck gesetzt, aber ich glaube, ich habe die Probleme ganz gut gelöst.

 

Die Stellung nach dem 18. Zug. Carlsen hat soeben die Neuerung 18...d4 gespielt

SS: 18...d4 war ein sehr schöner Zug! 

MC: Ja, aber ...d4 war aus der Not geboren, denn wenn ich ...a5 spiele, dann hat er Sd4. Wenn ich rochiere, hat Weiß 19.b4 Qb6 20.Nd2. Ich hatte also keine große Wahl. Ich musste nur aufpassen, dass ich nicht sofort verliere, und dann stehe ich gut, zumindest praktisch gesehen.

Danach kam eine schwierige Phase, in der wir beide gewissermaßen auf Sieg spielten. Ich glaube, er hat ein bisschen überzogen, aber dennoch war die Stellung für mich sehr schwer zu spielen. Und mit nur noch wenigen Sekunden auf der Uhr kann alles passieren.

SS: Wie schwer ist es, hier einen Zug wie ...Ld2+ zu sehen?

MC: Oh, ich habe das gar nicht gesehen. Gibt es einen Unterschied zwischen Ld2+ und Lc1+? Oh ja, Lc1+ Sg7 gewinnt für Schwarz.

 

Nach Bd2+ kann Schwarz nicht Sg7 spielen, weil Schwarz dann nach exf6 Matt gesetzt wird. Schwarz muss  ...Kh8 spielen, und dann endet die Partie nach Dh5+ und Dg4+ mit Dauerschach. Aber nach Lc1+ Sg7 ist exf6 nicht möglich, weil der weiße Turm auf d1 hängt und Schwarz Txd1+ spielen kann.

Mit nur noch wenigen Sekunden auf der Uhr ist das wirklich schwer zu finden. Also muss ich Remis machen, oder? Ich dachte, ...Sb6 wäre eine gute praktische Chance für mich, aber all diese Varianten habe ich nicht gesehen.

 

Carlsen hat soeben 33...Sb6, und jetzt hätte Weiß mit Sf6+ gxf6 Ld2+ Remis erzwingen können. Aber in der Partie hat Praggnanandhaa diese Möglichkeit verpasst und am Ende noch verloren. Besser als 33...Sb6 war 33...a5.

Das wäre ein passendes Ende der Partie gewesen (lächelt).

 
 

SS: Die nächste Partie war ebenfalls sehr interessant.

MC: Ja, ich glaube, er hat die Stellung irgendwann besser behandelt als ich. Ich war ins Schwimmen gekommen und er hat mich überspielt. Aber wenn man nur noch wenig Zeit hat, dann kann alles Mögliche passieren, und das hat diese Partie gezeigt.

SS: Ja, es gab da einen sehr hübschen Moment. Als er ...Dxg2 gespielt und den Bauern genommen hat, hast du dir Sorgen über deine Stellung gemacht?

 

Stellung nach 32...Dxg2

MC: Ja, ich ich habe nur noch von Zug zu Zug gespielt und wollte nicht verlieren. Ich dachte, wahrscheinlich gibt es irgendeine genaue Fortsetzung, mit der er sehr gute Gewinnchancen bekommt, aber wie gesagt, ich habe einfach nur versucht, nicht gleich zu verlieren. Ich hielt 33.d5+ Dg1+! 34.Kd3 Dxh2 für eine sehr natürliche Fortsetzung, zumindest aus menschlicher Sicht. Aber immerhin muss er sich hier um den Freibauern, und das gibt mir gewisse Chancen, zumindest praktisch gesehen. Doch, das war eine schwere Partie. Aber ich verrate dir noch etwas Lustiges über dieses Endspiel.

 

Stellung nach 57.Kf5. Ob Sie es glauben oder nicht, aber Schwarz hat nur einen Zug, um sich ins Remis zu retten! Sehen Sie, wie Schwarz Remis halten kann?

Nun, ich hatte das Motiv ...g3 gesehen, aber ich habe nicht geglaubt, dass das funktioniert. Ich dachte, mein König würde noch rechtzeitig kommen, aber offensichtlich stimmt das nicht.

 

57...g3!! ist ein phantastisches, studienartiges Bauernopfer und der einzige Zug, mit dem Schwarz sich rettet, denn die Stellung nach 58.hxg3 Sb6 59.Kxf6 Kxa7 sollte remis sein. Es ist sehr wichtig, den weißen Bauern auf die g-Linie zu zwingen, da Schwarz den Bauern auf der h-Linie nicht aufhalten kann. In der Partie hat Praggnanandhaa das nicht gesehen und stattdessen 57...Sb6 gespielt und verloren.

Interessanterweise war Boris Gelfand vor ein paar Wochen in Oslo. Wir hatten eine Trainingsession mit ein paar Jugendlichen aus meinem Verein. Ich bin eine Weile dabei gewesen, und tatsächlich hat er mir das folgende Läuferendspiel gezeigt.

 

Schwarz am Zug — kann er sich retten?

Die Pointe ist, dass Schwarz nur einen einzigen Zug hat, der zum Remis führt, wenn Weiß Lf5 spielt: nämlich ...g3!!. Schwarz muss ein Tempo gewinnen, und nach ...g3 muss der weiße König den g-Bauern nehmen, da hxg3 zu einem ziemlichen einfachen Remis führt. Aber nach Kxg3 spielt Schwarz ...Kg7 und kann die Stellung Remis halten, weil er ein Tempo gewonnen hat!

 

...g3 ist ein sehr raffiniertes Beispiel für einen Desperado!

Dieses Motiv war mir noch sehr gut im Gedächtnis, aber irgendwie habe ich geglaubt, dass ich auch dann rechtzeitig komme. Aber wenn der Computer "Nein" sagt, dann liege ich offensichtlich falsch (lächelt).

SS: Ja, das war ein schweres Endspiel, denn Pragg musste eine ganze Reihe einziger Züge finden — zum Beispiel musste er nach ...g3 hxg3 ...Nb6 spielen. Wenn er das nicht spielt, dann steht er auf Verlust.

MC: Oh, natürlich hatte ich nach ...g3 hxg3 Kxa7 gesehen, dass ich Sd5 spielen kann, wonach Weiß auf Gewinn steht. Aber ja, zu erkennen, dass es einen großen Unterschied zwischen ...Sb6 und ...Sc7 gibt, ist ebenfalls nicht leicht, wenn man in Zeitnot ist.

 
 

SS: Definitiv. In der letzten Partie hast du offensichtlich nach einem Gewinn gesucht, aber dann schienst du auch mit einem Remis zufrieden zu sein.

 

Stellung nach 32. hxg6

MC: Ja, ich hätte ...fxg6 Tg3 und dann ...Lxf2+! spielen können. Er muss Kxf2 spielen, und dann mache ich ...De8. Das habe ich gesehen und hier steht Schwarz auf Gewinn. Aber das hielt ich in dieser Situation für unangebracht.

Magnus Carlsen, Praggnanandhaa

So benimmt sich ein Gentleman — er muss nicht 3-0 gewinnen, um das Match für sich zu entscheiden. | Foto: ChessBase India

 
 

SS: Okay, Magnus, hier in Indien ist es 4:30 morgens, und wir haben dir alle gerne zugeschaut. Du hast dieses Turnier einfach komplett dominiert und auch die Champions Chess Tour gewonnen. Was ist das für ein Gefühl?

MC: Ich muss zugeben, dass es mir leid tut, dass ich die Partien nicht etwas länger ausdehnen konnte, denn dann hätten die Leute morgens aufstehen können, um sich die Partien anzusehen (lacht).

Ich finde es toll, was du machst, Sagar, und es ist unglaublich, all die indischen Talente und Fans zu sehen. Also, ein dickes Kompliment an euch alle!

SS: Danke, wir freuen uns darauf, dich bald wieder in Indien zu sehen, wann immer das auch sein wird. Mach's gut, Magnus!

MC: Danke! Ich habe die Zeit in Indien diesen Sommer [bei der Olympiade] sehr genossen, und ich hoffe, dass ich wiederkommen werde. Leider war ich in der letzten Zeit ein bisschen zu viel auf Reisen, und habe es nicht zum Tata Steel Chess India Turnier geschafft, aber ich werde das Turnier mit großem Interesse verfolgen.

(Ein großes Dankeschön auch an Harshil und Ayushi, die dieses Interview von San Francisco aus auf die Beine gestellt haben. Ohne ihren großartigen Einsatz wäre dieses Gespräch mit dem Weltmeister niemals möglich gewesen.)

Übersetzung aus dem Englischen: Johannes Fischer


ChessBase India

Tata Steel Rapid and Blitz...


Sagar Shah ist ein junger Internationaler Meister aus Indien. Er ist zugleich ausgebildeter Wirtschaftsprüfer und würde gerne der erste indische Wirtschaftsprüfer sein, der Großmeister wird. Sagar berichtet leidenschaftlich gerne über Schachturniere, denn so begreift er das Spiel, das er so liebt, besser. Aus Leidenschaft für das Schach betreibt er auch einen eigenen Schachblog.