Sein Name
wird seit fünf Jahrhunderten verbunden mit einer Mannschaftsaufstellung, die
der schwarze Spielführer tunlichst vermeiden sollte. Und doch pilgern an
diesem Frühlingswochenende wieder die Fans in die portugiesische Region
Alentejo, um dort, im weiten Hinterland der Algarve, dem Mann bei einem
der stärksten Schnellturniere auf der Iberischen Halbinsel ihre Reverenz zu
erweisen. Während des zweitägigen "22. Open Internacional Damiano" vom 16.
auf den 17. Mai 2009 in Odemira, der Heimatstadt des Großen Verkannten der
Schachgeschichte.
Unzählige
Generationen von Neueinsteigern in die Mutter aller Battle Games sind
schließlich gewarnt worden vor der berüchtigten "Verteidigung des Damiano",
dem gerade bei Anfängern beliebten Stützzug 2. ... f6?!? gegen 1.e4 e5 2.Sf3
... . Tatsächlich aber hat besagter Pedro Damiano, der 1512 in Rom eines der
ersten Schachlehrbücher publizierte und damit gleichzeitig einen
Bestsellererfolg landete, die ihm zugeschriebene Vorgehensweise niemals
empfohlen.
Um den guten
Ruf seines Landsmannes wieder herzustellen, hat der Autor MÁRIO SILVA ARAÚJO
aus Lissabon, ein 84-jähriger Bankmanager im Ruhestand und Teilnehmer an der
15. WM der Senioren 2005 im italienischen Lignano Sabbiadoro, eine Studie
vorgelegt, die Monographie "Damiano, O Português E A Sua Obra", übersetzt: "Damiano,
der Portugiese und sein Werk". Im Gespräch mit ChessBase-Mitarbeiter DR.
RENÉ GRALLA erläutert der rüstige Hobbyhistoriker die wichtigsten Ergebnisse
seiner Recherchen, die er auf schmalen, aber gehaltvollen 58 Seiten
niedergelegt hat. Die Materialien zur Studie hat Mário Silva Araújo
zusammengefasst in der Dokumentation "Damiano, esse ilustre desconhecido",
zu deutsch: "Damiano, dieser berühmte Unbekannte".
DR. RENÉ GRALLA:
Fast
jeder Aktive wird früher oder später abgestraft, weil er irgendwann auf den
Gedanken verfällt, die notorische "Damiano-Verteidigung" - mit der Matrix:
1.e4 e5 2.Sf3 f6?!? - auszuprobieren. Und das häufig auch noch, ohne
überhaupt den einschlägigen Fachbegriff für die immergrüne Vabanque-Nummer
zu kennen. Was wissen wir eigentlich über den unfreiwilligen Namensgeber
dieses zweifelhaften Systems?
MÁRIO SILVA
ARAÚJO: Damiano war ein portugiesischer Apotheker, der Ende des 15.
Jahrhunderts in der Kleinstadt Odemira südlich von Lissabon lebte. 1512
veröffentlichte er in Rom ein Handbuch für jenes radikal veränderte Schach,
das an der Schwelle zur Neuzeit die bis dahin auch in Europa vorherrschende
arabische Version "Shatranj" zu verdrängen begonnen hatte. Im Orient kannte
man weder raumgreifende "Läufer" noch die fast omnipotente Überfigur "Dame",
statt dessen zogen schwerfällige "Elefanten" und ein trippelnder "Wesir"
über die 64 Felder. Im Gegensatz zum ursprünglichen Szenario ist das
westliche Reformmodell viel dynamischer und hat sich folgerichtig als
Mehrheitsschach durchgesetzt. Der Titel von Damianos epochalem Werk: "Libro
Da Imparare Giocare A Scachi: Et de belitissimi Partiti".
DR. R.GRALLA:
Warum hat
Damiano sein Kompendium in Rom auf den Markt gebracht?
ARAÚJO: Weil
er Jude war. Im Dezember 1496 hatte Portugals König Manuel I. per Dekret die
Ausweisung aller Juden unter Androhung der Todesstrafe binnen einer Frist
von zehn Monaten verfügt. Damiano fand 1497 Zuflucht in Rom, wo er wieder
als Apotheker arbeitete. Nebenbei erteilte er zahlungskräftigen Kunden
Nachhilfe im Schach.
DR. R.GRALLA:
Der
Internet-Enzyklopädie Wikipedia entnehmen wir, dass Damiano wohl ca. 1480
geboren wurde und um 1544 starb ...
ARAÚJO: ...
diese Jahresangaben sind nicht belegt und bleiben Spekulation.
DR. R.GRALLA:
War
Damiano der erste Fachautor, der sich mit dem neuen Schach beschäftigt hat?
ARAÚJO: Nein.
Gegen 1500 verfasste der spanische Geistliche und Schachprofi Luis Ramirez
de Lucena in Salamanca eine Einführung samt ausgewählter Partien: "Repetición
de amores e arte de axedrez". Ungleich größeren Einfluss hat jedoch Damiano
gewonnen, die Strategie- und Taktikfibel des Portugiesen wurde insgesamt
acht Mal aufgelegt. 1560 folgte eine französische Ausgabe, zwei Jahre
später lag Damianos Spielanleitung auch in England vor. Und als
bemerkenswerter Nachzügler editierte 1859 der preußische Diplomat Tassilo
von Heydebrand und der Lasa endlich eine deutsche Fassung in Berlin: "Die
Schachpartien und Endspiele des Portugiesen Damiano, nebst der Kunst, aus
dem Gedächtnis zu spielen."
DR. R.GRALLA:
Sie,
Senhor Araújo, vermuten sogar einen Zusammenhang zwischen Damianos
Bestsellererfolg und dem parallel dazu vollzogenen Kurswechsel der Kurie,
Schach den Gläubigen künftig nicht mehr zu verbieten.
ARAÚJO: Eine
zeitliche Koinzidenz, die kein Zufall gewesen sein kann. Nachdem sich das
vierte römische Laterankonzil 1215 pauschal gegen sämtliche Spiele
ausgesprochen hatte, war zunächst unklar, ob diesem Kirchenbann auch Schach
unterfiel. Bis spätere Synoden zu Trier 1227 und 1310, in Mainz 1316 und
Würzburg 1329 das generelle Verbot dahingehend präzisierten, auf jeden Fall
sei Schach den Klerikern untersagt. 1512 kam Damianos Buch in den Handel,
und ein Jahr später vollzog Papst Leo X. seinen spektakulären Kurswechsel in
der Schachpolitik und gestattete wieder die Beschäftigung mit der Mattkunst.
Zumal gerade auch der Heilige Vater gerne mal eine Partie wagte und dabei in
guter Gesellschaft war mit Prominenten aus Klerus und Adel, allen voran die
charismatische Isabella d'Este, Herzogin von Mantua. Deswegen ließ sich Leo
X. - das ist meine These - nach der Lektüre des Damiano nur zu gerne davon
überzeugen, dass dem königlichen Spiel ein wissenschaftlicher,
künstlerischer und erzieherischer Wert zuzubilligen sei.
DR. R.GRALLA:
Wenn
Damiano ein derart kluger Kopf in Sachen Schach gewesen ist - wie passt dazu
bloß eine Eröffnung, die in der Literatur unter "Verteidigung des Damiano"
firmiert und die mit 2. ... f6?!? nach 1.e4 e5 2.Sf3 ... meist schnurstracks
in den Untergang führt?!
ARAÚJO: Viele
Exegeten und Kommentatoren haben eben das Gebot der Fairness sträflich
ignoriert und die Reputation des Damiano in unerhörter Weise beschädigt. Das
Etikett "Damiano-Verteidigung" ist einfach ungerecht! Damiano hat nämlich
die viel zitierte "Verteidigung", die bis heute mit ihm in Verbindung
gebracht wird, weder erfunden noch empfohlen. Das einschlägige Manöver ist
auch ohne Damianos Zutun während der Renaissance äußerst beliebt gewesen.
Damianos Buch erwähnt lediglich die sattsam bekannte Zugfolge und erörtert
anschließend Alternativen, die eindeutig zielführender sind. Folglich dürfen
wir mit Fug und Recht annehmen, dass Damiano den problematischen
Defensivaufbau 1.e4 e5 2.Sf3 f6?!? als schwach bewertet und demnach
abgelehnt hat.
DR. R.GRALLA:
Vielleicht deutet sich ja neuerdings ein Umdenken an. Der US-amerikanische
Schachjournalist Sam Sloan setzt die "Damiano-Verteidigung" als Bluff ein,
und sogar Bobby Fischer selig biss sich im Rahmen einer Simultanshow an der
wackeligen Formation überraschend die Zähne aus.
ARAÚJO:
Einzelfälle aus der Praxis, selbst wenn daran ein Bobby Fischer beteiligt
gewesen sein mag, bieten trotzdem keine ausreichende Grundlage, um das
bisherige negative Urteil über die "Damiano-Verteidigung" zu revidieren.
DR. R.GRALLA:
Was kann
ein Aktiver im dritten Millennium von Damiano lernen?
ARAÚJO: Der
Portugiese hat strategische Prinzipien formuliert, die über die Jahrhunderte
Bestand haben. Zwei Beispiele: "Führe niemals einen Zug aus, ohne ein
bestimmtes Ziel zu haben." Oder: "Wenn Deine Steine eine überlegene Position
eingenommen haben, darfst Du das nicht durch den Raub eines unwichtigen
Bauern auf's Spiel setzen."
DR. R.GRALLA:
Mittlerweile hat Odemira dem lange verlorenen Sohn, den es einst verstieß,
ein Denkmal errichtet.
ARAÚJO: Die
Statue ist allerdings der freien Phantasie des Künstlers entsprungen.
Porträts des echten Damiano sind nicht erhalten.
DR. R.GRALLA:
Wie stark
war Damiano im direkten Kräftemessen Mann gegen Mann?
ARAÚJO:
Ausführlich hat Damiano das Blindspiel untersucht, das heißt, Schach ohne
Ansicht von Brett und Figuren. Offenbar muss er diese schwierige Kunst
beherrscht haben. Überdies ist die älteste überlieferte Partie, an der ein
Portugiese beteiligt gewesen ist, von keinem Geringeren als Damiano gewonnen
worden - und zwar schneidig in 14 Zügen.
DR. R.GRALLA:
Und Sie,
Senhor Araújo: Mischen Sie trotz Ihres stolzen Alters noch in der
Schachszene mit?
ARAÚJO: Aber
ja! Ein Highlight der jüngeren Vergangenheit war die 15. WM der Senioren im
italienischen Lignano Sabbiadoro 2005, an der ich teilgenommen und 50
Prozent der möglichen Punkte geholt habe. Das reichte für einen Platz im
Mittelfeld.