"DDRisierung des Sports"

von André Schulz
26.05.2014 – Die Streichung der Mittel für nichtolympische Sportarten wie das Schach durch das BMI kommt vielen bekannt vor. 1973 beschloss die DDR, dass 25 nichtolympischen Sportarten der "Leistungsauftrag" entzogen wurde. Nach dem Beschluss des BMI gibt es viel Unterstützung für das Schach. Auch die "Grünen" kritisieren in einer Pressemitteilung die Entscheidung. Mehr...

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Die "DDRisierung" des deutschen Sports

Die Streichung der Fördermittel für den Schachbund ist eines von einigen Bauernopfern, die das Bundesinnenministerium im Zuge der Umorientierung der Fördermittel in Richtung "Spitzensport" vornimmt. Insgesamt hat das BMI die Mittel erhöht, nach eigener Darstellung um 8 Mio. Euro. In einem Artikel des Deutschlandfunks wurde allerdings vorgerechnet, dass es sich nur um 2,7 Mio. Euro handelt.

In der Neuausrichtung der Sportförderung soll vor allem der Spitzensport und dort in erster Linie die bei Olympischen Spielern erfolgreichen Sportarten gefördert werden. Sportarten, die keine Medaillen erbringen, oder gar nichtolympische Sportarten müssen mit Kürzungen oder gar der Streichung der Fördermittel rechnen. Während der Schachbund (minus 130.000 Euro) und die Jugendwettbewerbe “Jugend trainiert für Olympia” und “Jugend trainiert für Paralympics” (minus 350 000 Euro) aus der Förderung heraus fallen, werden die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele (plus 3.000.000 Euro), zusätzliche Trainer und Betreuer (plus 1.000.000 Euro) und die Dopingbekämpfung durch die NADA (plus 1.000.000 Euro) mit zusätzlichen Mitteln bezuschusst. Auf der Seite "Schach im Vogtland" hat Frank Bicker, Vorstand des Vogtländischen Schach-Clubs Plauen 1952 e.V, dies dezidiert dargestellt.

Nicht nur im Schach gibt es Widerstand, auch die Politik ist hellhörig geworden. Neben der Anfrage von André Hahn im Bundestag hat der Sprecher für Bildungs- und Sportpolitik der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Deutschen Bundestag, Özcan Mutlu, eine Presserklärung der Grünen zur Streichung der Schachförderung veröffentlicht. Darin kritisiert er die willkürliche Begründung des BMI.

Der Deutsche Schachbund erfährt derzeit viel Unterstützung, nicht nur durch die in ihm organisierten Vereinsspieler, und hat auf seiner Homepage eine Themaseite zur Streichung der Sportförderung eingerichtet, auf der man viele Stellungnahmen, Kommentare und Presseartikel findet. 90.000 organisierte Schachspieler werden sich bei der nächsten Bundestags-Wahl vielleicht noch an die Entscheidung des BMI zur Streichung der Mittel erinnern.

Der Sinn der Sportförderung kann nicht darin bestehen, die Anzahl der gewonnenen Medaillen bei Olympischen Spielen zu erhöhen. Wenn man dies im Wettbewerb mit Verbänden erreichen möchte, die weniger Gewicht auf Dopingvermeidung legen, braucht man ja nur an dieser Stelle die Mittel zu kürzen und spart dabei auch noch Geld. Der eigentliche Sinn der Sportförderung, nämlich sein Volk körperlich und geistig (!) gesund zu halten, also den Breitensport zu fördern, wurde inzwischen offenbar völlig aus den Augen verloren. Mancher Kommentator und Sportpolitiker vermutet dies als Folge des Zusammenschlusses des Deutschen Sportbundes mit dem Nationalen Olympischen Komitee zum Deutschen Olympischen Sportbund und der damit einher gehenden Fokussierung auf die Olympischen Sportarten.

Die Olympischen Spiele sind inzwischen doch längst zu einer gigantischen TV-Show verkommen, bei der die überhöhte Aufmerksamkeit der Medienvertreter sich offenbar nur noch auf die Sieger und Goldmedaillengewinner konzentrieren mag. Selbst ein zweiter Platz wird ja schon als Enttäuschung aufgefasst. Von dieser Schieflage in der Berichterstattung lassen sich die Sportfunktionäre und Sportpolitiker wohl zu sehr beeindrucken.

Den Schachspielern, die in der DDR aufgewachsen sind, kommt die Entscheidung des BMI sicher bekannt vor. 1973 beschloss der DTSB zur „Rolle der Sportverbände der DDR im internationalen Sport“, dass 25 nichtolympischen Sportarten der sogenannte Leistungsauftrag entzogen wird, wodurch die entsprechenden Sportverbände nicht mehr an „internationalen Meisterschaften und an Sportwettkämpfen mit nichtsozialistischen Ländern“ teilnehmen durften. Begründet wurde dieser Beschluss damit, dass „den Sportlerinnen und Sportlern die Aufgabe gestellt [wird], [...] die DDR auf der Grundlage von festgelegten Leistungszielen und Leistungsaufträgen durch hohe sportliche Leistungen würdig zu repräsentieren. Diese Konzentration auf eine bestimmte Anzahl von Sportarten macht sich notwendig infolge unserer begrenzten materiellen, ökonomischen und finanziellen Möglichkeiten, der relativ geringen Einwohnerzahl unseres Landes sowie aus kadermäßigen Erwägungen.“ Zu den betroffenen Sportarten gehörte damals auch das Schach. An den Schacholympiaden nahm die DDR danach nicht mehr teil. Den Vergleich zwischen der aktuellen Ausrichtung der deutschen Sportpolitik mit dem DDR-Sport zog 2012 schon Herbert Fischer-Solms in einem Beitrag, der bei der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht wurde.

Eberhard Gienger, Sportpolitischer Sprecher der CDU, hatte indes eine prima Idee, wie man dem Schach helfen kann: Gegenüber den Stuttgarter Nachrichten machte er folgenden Vorschlag „Schach als Kulturgut in den Vordergrund zu stellen ist sicher ein guter Ansatz. Da kann ich mir schon vorstellen, dass bei einer relativ bescheidenen Summe, um die es da geht, ein Versuch nicht ganz chancenlos ist.“

Und auf der Seite Spielbox.de wurde das Schach schon herzlich begrüßt:

"Schachspieler, seid willkommen in der Förderwüste der Brett- und Denkspieler!"
 


Dokumentation beim Schachbund

 

 

Themaseite des Schachbundes...

 

 

Presseerklärung der "Grünen"
 

 

"Schachmatt verhindern – de Mazière muss Kürzung im Schachsport zurücknehmen


Zur Streichung der Leistungssportförderung für den Deutschen Schachbund (DSB) erklärt Özcan Mutlu, Sprecher für Sportpolitik:

Die Streichung der Mittel ist ein weiteres Beispiel für die Intransparenz der Entscheidungen in der Sportförderung des Bundes. Die Nachricht über die Streichung der Fördermittel überraschte die Öffentlichkeit und scheinbar auch den Deutschen Schachbund. Das Bundesministerium hielt es auch nicht für notwendig, die Mitglieder des Sportausschusses während der Haushaltsberatungen über die Streichung zu informieren.

Wie uns das Ministerium in der aktuellen Antwort auf eine schriftliche Frage mitteilte, beruft sich Minister de Maizière zur Begründung der Streichung auf den einstimmigen Beschluss der Mitgliederversammlung des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) vom 07. Dezember 2013. Die Mitgliederversammlung hat jedoch am gleichen Tag auch einstimmig beschlossen, den Schachsport auf Grund seiner besonderen Rolle weiterhin von der Systematik auszunehmen. Das wirft die Frage auf, warum sich das Herr de Maizière an den einen Beschluss des DOSB gebunden fühlt und an den anderen nicht? Anscheinend ist die vielgeäußerte Autonomie des Sports nicht grenzenlos.

Dazu ist auch zu fragen, warum die Kürzung jetzt plötzlich in einem Schritt und nicht über zwei oder drei Jahre verteilt erfolgt. Vertrauen bildet das nicht.

Die Fraktionspressestelle auf Twitter: @GruenSprecher

Presserklärung der Grünen...

 

Hintergründe zu den Kürzungen der Sportförderung im Breitensport

In seinem Artikel "Schach matt durch die Politik" stellt Frank Bicker, Vorstand des Vogtländischen Schach-Clubs Plauen 1952 e.V., auf der Seite "Schach im Vogtland" die Streichung der Schach-Förderung durch das BMI in einen Gesamtzusammenhang.

 

 

Schach im Vogtland: Schachmatt durch die Politik (vollständiger Artikel)...

 

 

"Schach ist Kulturgut"
 

 

Artikel in der Stuttgarter Nachrichten (pdf)...

 

 

Zur "DDRisierung" der Sportförderung

 

...

 

Auszug:

"Beobachter des organisierten deutschen Sports registrieren, dass spätestens mit der Zäsur im Jahre 2006, als Deutscher Sportbund (DSB) und Nationales Olympisches Komitee (NOK) zum Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) fusionierten, die deutsche Sportführung einen Weg übersteigerter nationaler Stärke eingeschlagen hat. Eine Zustandsbeschreibung lautet: "schlecht verhüllte sportpolitische Großmannssucht". Der Ungeist des DDR-Sports scheint wiederauferstanden. "Muss man jedes Wettrüsten mitmachen?", fragt die "Süddeutsche Zeitung" und stellt klar: "Dass vor allem autoritäre Staaten ihre Athleten zunehmend mit Geld vollpumpen, um Welt und Volk die eigene Großartigkeit zu beweisen, muss ja nicht für das wertegeleitete Sportsystem Vorbild sein, wie es hierzulande propagiert wird." Ein Hinweis, der offenkundig jene schon nicht mehr erreicht, die bereits an der Kopie eines neuen deutschen "Sportwunders" arbeiten.

...

"DDRisierung des deutschen Sports"

"Die wichtigste Säule, wenn nicht das tragende Fundament des deutschen Sports ist der Breitensport. Die gesellschaftliche Bedeutung des Breitensports kann nicht überschätzt werden": Was Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede zur Gründung des Deutschen Olympischen Sportbundes im Mai 2006 propagierte, klingt wie eine Botschaft aus dem vergangenen Jahrhundert. Wenn in der Bundesregierung die Wertigkeit des Breitensports wirklich so hoch eingeschätzt wird, dann stellt sich die Frage, warum dies keine Folgen für die praktische Politik hat.

Nach den von der Pisa-Studie aufgedeckten Lerndefiziten deutscher Schülerinnen und Schüler haben sich auch körperliche Mängel immer mehr breitgemacht. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der krankhaft fettleibigen Schulkinder verdoppelt. Im gleichen Zeitraum ist die körperliche Leistungsfähigkeit im Durchschnitt um zehn bis 15 Prozent eingebrochen. Zwei Schritte rückwärts zu balancieren ist für jedes dritte Kind eine nicht zu bewältigende Aufgabe. – Zu diesen beängstigenden Ergebnissen kommt die Jugendgesundheitsstudie des Robert Koch-Instituts. Ein Armutszeugnis für die selbsternannte Sportnation Deutschland."
 

Ganzer Beitrag beim der Bundeszentrale für politische Bildung...

 

 

Taschenspielertricks beim BMI

 

 

Ganzer Artikel beim Deutschlandfunk...

 


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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