Die Harmonie des Vassily Smyslov

von ChessBase
22.11.2004 – Wenn in Moskau große Schachveranstaltungen anstehen, dann ist Vassily Smyslov einer der gern gesehenen Ehrengäste. Mit 83 Jahren ist er der älteste lebende Schachweltmeister und kann auf eine fast 70-jährige Schachkarriere zurück blicken. Als er zuletzt in einem Kandidatenfinale stand, war er bereits 63 Jahre alt. 1997 spielte er noch die FIDE-Weltmeisterschaft in Groningen mit. Smyslovs zweite große Liebe gilt der Musik. Dort war er als Opernsänger ebenfalls sehr erfolgreich. Seine Erfolge in zwei scheinbar so verschiedenen Disziplinen erklärt er sich mit seinem Gefühl für Harmonie. Dagobert Kohlmeyer führte während des Moskauer Superfinales der Russischen Meisterschaft ein Interview mit dem Exweltmeister. Interview mit Vassiliy Smyslov...

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Das Wichtigste ist die Harmonie
Interview mit  Exweltmeister Wassili Smyslow
Von Dagobert Kohlmeyer

Wassili Smyslow ist eine lebende Schachlegende. Der Moskauer spielte in den 50er Jahren dreimal mit seinem berühmten Vorgänger Michail Botwinnik um die Schachkrone, wobei er einmal ein 12:12 - Unentschieden erreichte, einmal gewann und einmal verlor. Den WM-Titel eroberte er 1957. Im Jahr darauf musste er ihn im Revanchematch gegen Botwinnik zwar wieder abgeben, blieb aber noch über Jahrzehnte einer der weltbesten Spieler. Wladimir Kramnik sagt über Smyslow: „Er verkörpert die Wahrheit im Schach und ist derjenige Großmeister mit der höchsten Reinheit des Spiels.“

Der heute 83-jährige Exweltmeister wohnt seit fünfzig Jahren mit seiner Frau Nadjeshda mitten in Moskau in einem riesigen Hochhaus aus der Stalinzeit. Trotz seines Alters verbringt Smyslow  täglich noch etliche Stunden im Arbeitszimmer und entwirft neue Schachstudien. Ein Buch mit seinen gesammelten Etüden ist derzeit in Vorbereitung. Neben dem Schach war in Smyslows Leben die Musik seine zweite Leidenschaft. Der Großmeister mit dem lyrischen Bariton nahm in seiner russischen Heimat zahlreiche Schallplatten sowie CDs auf und gab bis zu seinem 80. Lebensjahr Konzerte.

Dagobert Kohlmeyer sprach am Rande des Superfinales der russischen Landesmeisterschaft mit Wassili Smyslow über sein Leben sowie die Veränderungen in der Schachszene.

Wie sind Ihre bisherigen Eindrücke vom Turnier?

Es ist interessant, dass hier Spieler verschiedener Generationen aufeinander treffen. Neben Vitali Zeschkowski ist Garri Kasparow schon der zweitälteste. Was die Teilnehmerzahl angeht, so dominieren die jungen Großmeister eindeutig das Turnier. Damit habe ich aber noch nichts über die Qualität ihres Spiels gesagt.

Was sagen Sie dazu, dass Anatoli Karpow und Wladimir Kramnik ihre Teilnahme im letzten Moment zurückgezogen haben?

Das ist sehr bedauerlich. Wissen Sie, zu meiner aktiven Zeit gab es nie so hohe Preisgelder. Schon deshalb hätten alle gespielt. Was die moralische Seite der Angelegenheit betrifft, möchte ich, da ich ja auch zum Kreis der Weltmeister gehöre, jetzt keinen meiner Kollegen verurteilen. Sie werden ihre Gründe gehabt haben und sollen darum ihr Verhalten selbst verantworten.

Wer ist Ihr Turnierfavorit?

Ich denke, dass Kasparow hier die meiste Beachtung verdient. Als ich ihn am Eröffnungsabend der Meisterschaft sah, fragte ich scherzhaft: „Garri, was ist los - Sie spielen hier?“ Er hob die nur Hände und erwiderte: „Was soll ich denn tun, ich kann doch nicht auch noch wegbleiben!“ Da konnte ich nicht anders, als ihm Erfolg zu wünschen.

Sie haben selbst eine lange, erfolgreiche Schachlaufbahn hinter sich. Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Turnierpartie?

Ja, das war Anfang der 30er Jahre in einem Moskauer Pionierhaus, das direkt am Moskwa-Fluss stand. Die erste von mir veröffentliche Partie stammt aus dem Jahre 1935.

Und wann spielten Sie ihre letzte Wettkampfpartie.

Im Jahre 2002 in Amsterdam beim abschließenden Wettkampf Ladies gegen Veteranen.  Meine Gegnerin war die Chinesin Zhu Chen und das Spiel endete, obwohl ich besser stand, remis.

Über Jahrzehnte hinweg haben Sie große Leistungen gezeigt. Wie erklären Sie dieses Phänomen?

Es liegt an der Spezifik des Schachs und an meiner gesunden Lebensweise. Ich konnte deshalb meine Form lange Zeit konservieren. 1984 spielte ich mit 63 Jahren das Kandidatenfinale gegen Garri Kasparow, 1993 nahm ich noch am Interzonenturnier in Biel und 1997 an der FIDE-WM in Groningen teil.

Nur wenige Großmeister können auf eine 70-jährige Schachkarriere zurückblicken. Was hat Ihnen das königliche Spiel gegeben?

Sehr viel. Ich hätte am Anfang nicht im Traum daran gedacht, dass ich eines Tages Weltmeister sein werde. Zudem es ja, wie Sie wissen, in meinem Leben mit der Musik noch eine zweite große Leidenschaft gab.

Was war denn wichtiger für Sie - Schach oder Musik?

Jeder Bereich hatte zu bestimmten Zeiten Vorrang. Für beide Gebiete ist eines entscheidend - die Harmonie. Nicht nur in der Musik müssen die Töne stimmen.

Erläutern Sie bitte das Verhältnis von Schach und Harmonie genauer.

Ich betrachte das Spiel genau wie die Musik als eine Kunst. Beim Schach habe ich mich stets um eine harmonische Figurenaufstellung bemüht. Eines meiner wichtigsten Bücher heißt "Auf der Suche nach Harmonie". Ich bin der Ansicht, dass sie auch in jedem schöpferischen Beruf angestrebt werden sollte.

Meinen Sie damit die Bereiche Kunst oder Wissenschaft?

Zum Beispiel. Wenn ein Professor der Mathematik oder einer anderen Wissenschaft einen Vortrag hält, dann betont er auch, wie wichtig es ist, eine Strategie oder einen Plan zu haben, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Ich nenne das ein Gespür  für Harmonie, weil man es in allen Lebensbereichen braucht. Immer geht es darum, schnelle, richtige Entscheidungen zu treffen.

Hat Harmonie generell etwas mit Ihrem Schachstil zu tun?

Ja. Die permanente Suche nach ihr charakterisiert mein Schachverständnis und mein Spiel. Das ist eine bestimmte Art zu spielen, die auch Lasker und Capablanca auszeichneten. Sie sprachen von der Koordination der Figuren und Bauern auf dem Brett. Der geniale Capablanca hat die Stellung sehr gut gefühlt. Wer die Koordination erreichen will, muss die Harmonie erspüren, also die enge Verbindung zwischen den Figuren und dem, was auf dem Brett geschieht. Ich nenne es das menschliche Schachverständnis.

Alle Koryphäen wie Lasker oder Capablanca haben die für das Spiel so notwendige Begabung mitgebracht. Wie definieren Sie den Begriff Talent im Schach?

Es ist die Fähigkeit, Figuren und Bauern auf dem Brett optimal zu koordinieren, so wie die Großen der Zunft es meisterhaft beherrschten.

Sie haben viele Genies kommen und gehen sehen. Was hat sich in der Schachwelt im Gegensatz zu früher geändert?

Etliches. Früher gab es volle Spielsäle, heute verfolgen die Leute die Turniere vorwiegend zu Hause im Internet. Die Spieler bereiten sich nur noch mit dem Computer vor. Auf jeden neuen Zug in einer bestimmten Eröffnungsvariante weiß die Maschine eine Antwort. Sie übernimmt für den Menschen das Rechnen. Deshalb werden die Eröffnungen immer wieder in Frage gestellt und präzisiert. Das macht aus dem Schach einen Kräfte zehrenden Prozess, bei dem die Rolle der Wettkampfvorbereitung wächst.

Gefällt Ihnen diese Entwicklung?

Wie bei allen Dingen gibt es auch hier Plus und Minus. Dass neue Züge gesucht werden, die den Gegner verblüffen sollen, ist normal und gehört zum Schach. Die negative Seite ist, dass heute am Brett nicht mehr so viel gearbeitet wird. Wenn ein Schachspieler früher einen überraschenden Zug vorgesetzt bekam, musste er während der Partie selbst entscheiden, wie er weiterspielt. In unserer Zeit haben wir unerwartete Situationen selbst gemeistert und entschieden. Durch den Computer wird die Kreativität des Schachspielers von heute sehr beeinflusst. Er wird davon abgelenkt, am Brett selbständige Entscheidungen zu treffen.

Welches ist Ihr beliebtester Partieanschnitt?

Ich habe immer allen Partiephasen große Aufmerksamkeit geschenkt. Garri Kasparow sagt, dass es bei mir mehr interessante Eröffnungsideen gibt als bei anderen Großmeistern. Auch im Mittelspiel fühlte ich mich wohl. Und im Endspiel habe ich eine genaue Technik. Es ist eine Sache der Intuition. Man muss nicht so viele Züge vorausrechnen, sondern die Stellung verstehen. Reti hat einmal gesagt, dass man immer nur einen Zug voraus denken muss. Seit einiger Zeit wird dieser Satz kurioserweise mir zugeschrieben.

Sie gelten als der Endspielkünstler schlechthin und haben auch Bücher darüber veröffentlicht.

Ja, wie alle Weltmeister schenke ich diesem Partiestadium besondere Beachtung. Von Lasker über Capablanca und Aljechin bis zu Karpow waren die meisten Champions Endspielvirtuosen. Die heutige Schach-Generation legt dagegen mehr Wert auf Eröffnungen. Dem Endspiel gehört meine besondere Sympathie. Sein Verständnis ist  d e r  Zauberschlüssel, um dem Geheimnis der schachlichen Meisterschaft auf die Spur zu kommen. Nach meiner Schachkarriere habe ich zwei Bücher darüber geschrieben. Das eine trägt den Titel „Die Kunst des Endspiels“, das andere „Geheimnisse des Turmendspiels“.

Was für Partien zeigen Sie dort?

Vor allem Beispiele aus meiner eigenen Praxis, denn diese Partien kenne ich natürlich am besten. Man kann die eigenen Spiele tiefgründiger analysieren, weil man ja seine Gedankengänge während des Wettkampfes schon einmal vollzogen hat.

Was sollte jeder Schacheleve in Bezug auf die Endspiele beherzigen?

Man muss diesen Partieabschnitt ganz gründlich studieren, ehe man überhaupt Turniere spielt. Fehler, die man im Endspiel begeht, sind in der Regel nicht mehr zu korrigieren. Man sollte deshalb sehr genau spielen, um Erfolg zu haben. Dabei darf man aber nicht zu ängstlich sein, sondern sollte seine Figuren maximal aktivieren.

Sie haben sich auch als Studienkomponist einen Namen gemacht. Wie umfangreich ist ihr Gesamtwerk?

Inzwischen hat es die Zahl von 100 schon überstiegen. Ein Buch mit 64 speziellen Aufgaben habe ich schon veröffentlicht, ein weiteres ist in Vorbereitung.

Welche Glanzpartien aus Ihrer Laufbahn sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

In meiner langen Karriere habe ich über 3000 Turnierpartien gespielt. Darunter befinden sich etliche von hoher Qualität. Es fällt mir deshalb schwer, jetzt einige wenige zu nennen.

Wenn Sie sich aber für drei denkwürdige Spiele entscheiden müssten...?

Dann würde ich folgende anführen: Aus meinem ersten WM-Kampf 1954 gegen Michail Botwinnik mag ich besonders die neunte Partie. Es ist ein Franzose, wo ich mit Weiß die Dame mitten auf dem Brett geopfert habe. Sehr schön habe ich im gleichen Match auch mit Schwarz in einem Königsinder gewonnen. Dort waren drei Leichtfiguren von mir stärker als die gegnerische Dame. Und dann, lassen Sie mich überlegen...

Nennen Sie als drittes Beispiel bitte noch ein gelungenes „Alterswerk“!

Nun, meine Partie gegen Zoltan Ribli aus unserem WM-Kandidatenmatch in London 1983 war sehr interessant. Das ist zwar auch schon über zwei Jahrzehnte her, aber damals war ich bereits 62 Jahre alt

Drei Lieblingspartien von Vassily Smyslov...


Zu Ehren der Teilnehmer des Superfinales der russischen Landesmeisterschaft komponierte Wassili Smyslow die folgende Studie.

W. Smyslow 2004

Weiß zieht und hält remis

 

 

 

 

 

 


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