Endlich! Künstliche Intelligenz...

von André Schulz
16.09.2015 – Fachmagazine jubeln. Endlich gibt es richtige künstliche Intelligenz. Matthew Lai vom Imperial College London hat ein Programm entwickelt - "Giraffe" -, das sich selbst Schach beigebracht haben soll, lernfähig ist und nach drei Tagen Lernen angeblich schon auf "Weltniveau" spielt. Der Durchbruch ist geschafft - oder vielleicht doch nicht... ? Was halten Sie davon? Beteiligen Sie sich an der Diskussion! Mehr...

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Das "Wissenschaftsmagazin" Galileo jubelt auf seiner Webseite: "Innerhalb von nur drei Tagen hat erstmals eine künstliche Intelligent sich selbst Schach beigebracht - auf Weltniveau". Der Computer nutze ein System , dessen Aufbau dem menschlichen Hirn nachempfunden ist.

 

Die deutsche Internet-Ausgabe von Wired weiß zu berichten:

"Bereits jetzt würde sich der Computer in den oberen 2,2 Prozent aller Spieler der Welt platzieren können, ein Niveau, für das andere Schachprogramme monatelang verbessert werden müssen. "

MIT Technology Review, von dem die anderen Webseiten ihre Nachricht übernommen haben, geht ins Detail:

"Um Giraffe zu testen, nutzte Matthew Lai eine Datenbank namens Strategic Test Suite. Sie enthält 1.500 Positionen, die zeigen sollen, ob der Computer die verschiedenen strategischen Ideen erkennt. Insgesamt 15.000 Punkte können bei der STS erzielt werden. Laut dem Forscher hatte Giraffe nach 72 Stunden Training knapp 9.700 Punkte erreicht. Das entspreche den besten Schachprogrammen, wird Lai in einem Bericht von MIT Technology Review zitiert."

Alle diese  pseudo-wissenschaftlichen Beiträge, deren wichtigtuerische Gestus kürzlich so schön vom Postillon karikiert wurde, dokumentieren vor allem eines, nämlich die Ahnungslosigkeit der mit der Texterstellung beauftragten Autoren.

 

Die FIDE kennt etwa 460.000 gewertete Schachspieler, solche, die bei internationalen Turnieren mitgespielt haben und deshalb mit ihrer Ratingzahl in der Eloliste erscheinen. Wenn "der Computer sich in den oberen 2,2 Prozent" - die Zahl 2,2 suggeriert hohe wissenschaftliche Genauigkeit - "aller Spieler der Welt" tatsächlich platzieren könnte, so wäre er unter den 10.120 besten Menschen der Welt. Vergleicht man dies mit den Elozahlen in der FIDE-Eloliste, so entspricht das einem Wert von etwa 2300 Elo.

An anderer Stelle wird allerdings berichtet, dass das Programm eine Spielstärke von 2400 hätte. Bei der Ausrechnung des Wertes 2,2% (Dreisatz) ist man offenbar einem zu niedrigen Wert der gewerteten Spieler ausgegangen - tatsächlich gibt es ja sogar noch viel mehr Turnierspieler, da viele nur nationale Turniere spielen und deshalb bei der FIDE nicht gelistet sind. 2300 oder 2400 Elo ist aber letztlich nicht so wichtig.

Nicht berichtet wird, auf welche Weise dieser Elowert ermittelt wurde, durch Partien gegen einen menschlichen oder künstlichen Gegner, oder auf eher virtuelle Weise, durch Hochrechnen der Ergebnisse der "Strategic Test Suite" - hinter dem hochtrabenden Titel verbirgt sich wohl nichts anderes als eine simple Datenbank mit Teststellungen. Wahrscheinlich ist letzteres der Fall. Auf diese Weise - durch Teststellungen - wurde übrigens schon vor zwanzig Jahren versucht, die Spielstärke von Programmen zu ermitteln - bis man merkte, das dies eine Einbahnstraße ist, die zu keinen wirklich brauchbaren Ergebnissen führt.

Wie auch immer die Eloberechnung durchgeführt wurde, von "Weltspitze" kann nicht im Mindesten die Rede sein. Die Weltspitze im Menschenschach bewegt sich im Bereich 2800 plus, der Unterschied von 400 Elopunkten entspricht ungefähr dem vom Clubspieler zum Anfänger. Die Spitze im Computerschach beträgt 3300 und mehr Elopunkte. Ein Schachprogrammm von 2400 Elo würde beim direkten Vergleich von jedem halbwegs guten Spitzenprogramm völlig zerfleddert werden.

Auch die Behauptung, bei der Struktur der Schachprogramme habe sich seit dem Match Kasparov-Deep Blue von 1997 im Prinzip nichts, ist völlig falsch. Heutige Spitzenprogramme haben ausgefeilte Routinen, um blitzschnell herauszufinden, welche Züge und Varianten sich zu berechnen lohnt. Gerade diese unterscheiden die heutigen Spitzenprogramme von den Durchschnittsprogrammen.

Vielleicht hat sich Matthew Ali einen interessanten Ansatz überlegt, mit dem ein Programm sich anhand von vorgefertigten Tabellen auf automatische Weise verbessert. Was das mit "künstlicher Intelligenz" zu tun haben soll, bleibt allerdings im Verborgenen. Jedenfalls klingt das nicht spannender als die Erfindung eines Kühlschranks, der seine Kühlleistung automatisch an die Außentemperatur anpasst. Lernroutinen in Schachprogrammen gibt es übrigens schon seit Fritz 3 (unter DOS, 1995).

Das soll den Ansatz des Programmierers aber nicht schmälern. Einen merkwürdigen Beigeschmack erhält die Geschichte erst durch die völlig sachfremde und uninspirierte Berichterstattung auf den selbst ernannten "Wissenschafts"seiten".

 

 

 

Nachricht bei Galileo...

 

 

 

Artikel in Wired...

 

 

 

MIT Technology Review...

Deutsche Ausgabe von MIT...

 

Download FIDE-Liste mit allen gerateten Schachspielern...

 

 


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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