Erinnerungen an Jefim Geller

von Dagobert Kohlmeyer
17.11.2023 – Heute vor 25 Jahren starb mit Jefim Geller einer der besten Schachspieler der Geschichte. Geller stammte aus Odessa, gewann zwischen 1952 und 1980 sieben Mal Mannschaftsgold bei Schacholympiaden und nahm an sechs Kandidatenturnieren teil. Mit seinem aggressiven Stil war er in der Lage, jeden zu schlagen. Gellers sportliche Karriere begann aber mit dem Basketball, weiß Dagobert Kohlmeyer in seinem Portrait zu berichten. | Foto: Geller beim Hoogoven-Turnier 1965 (Dutch National Archive)

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Erinnerung an den stillen Schachhelden Jefim Geller

Heute vor 25 Jahren, am 17. November 1998, starb mit Jefim Geller einer der weltbesten Schachmeister des vergangenen Jahrhunderts. Weil die junge Generation von heute mit dem Namen des ukrainischen Figurenkünstlers vielleicht etwas weniger anfangen kann, soll hier an ihn erinnert werden.

Gellers Grab in Moskau

Ich bin froh, diesen großartigen und zugleich so bescheidenen Schachspieler mehrmals getroffen zu haben. Solche Typen wie ihn gibt es heute unter den namhaften Schachcracks nicht mehr.

Jefim Petrowitsch Geller wurde am 8. März 1925 in Odessa geboren. Die Hafenstadt am Schwarzen Meer hat viele bedeutende Persönlichkeiten hervorgebracht, darunter den virtuosen Geiger David Oistrach und eine ganze Reihe hervorragender Schachspieler. Geller war Doktor der Ökonomie, aber gab den Beruf des Wissenschaftlers früh zugunsten des Sports auf.

Jefim Geller in jungen Jahren | Foto: Via David Llada auf X

Zum professionellen Schach kam der Ukrainer relativ spät, seine erste große Leidenschaft galt dem Basketball. Man mag es kaum glauben, aber trotz seiner untersetzten Statur, die eher einem Ringer ähnelte, schaffte er es bis in die ukrainische Landesauswahl. „Meine geringe Körpergröße machte ich durch Schnelligkeit und gute Technik wett“, erzählte er mir einmal. Gellers Basketballtrainer spielte zufällig auch Schach und gab ihm eines Tages den Rat, doch lieber den Denksport zu betreiben. Das stellte sich als Glücksfall heraus, denn im Schach machte Jefim mehr Furore, und zwar in ganz schnellem Tempo. 1949 hatte er bereits den Meistertitel erworben und schaffte es bis ins Finale der sowjetischen Landesmeisterschaft. Dort erreichte er sensationell den dritten Platz hinter Wassili Smyslow und David Bronstein. 1952 wurde Geller Großmeister und zählte seitdem zur erweiterten Weltspitze.

Seine größte Zeit aber begann 1962, als er sich im Interzonenturnier von Stockholm punktgleich mit dem späteren Weltmeister Tigran Petrosjan hinter Bobby Fischer qualifizierte. Beim historischen Kandidatenturnier auf Curacao wurde er mit knappem Rückstand Zweiter hinter Petrosjan. Nur ein halber Punkt fehlte ihm, um Herausforderer des amtierenden Weltmeisters Michail Botwinnik zu werden. Geller hätte gute Chancen gegen ihn gehabt, denn er war dessen Angstgegner.

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Bis heute rätseln Schachhistoriker, was passiert wäre, wenn Petrosjan, Keres und Geller bei jenem Kandidatenturnier nicht schnelle Remisen untereinander gemacht hätten, um Kräfte zu sparen. Der Viertplatzierte Fischer hat das den „sowjetischen Verschwörern“ nie verziehen.

In diesem Spiel zeigte Geller, der auch ein Angstgegner des Amerikaners war, seine überragende taktische Meisterschaft.

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Zwischen 1952 und 1980 wurde Jefim Geller mit dem UdSSR-Team siebenmal Olympiasieger.

Er spielte in sechs Kandidatenturnieren. Der Großmeister gewann 20 internationale Turniere von Rang, darunter 1969 in Wijk aan Zee und 1975 in Moskau vor Spasski, wobei er diesen sowie Tal und Kortschnoi bezwang. 1989 siegte Geller im A-Turnier bei den Dortmunder Schachtagen. 1991 und 1992 spielte er ebenfalls im westfälischen Revier. Ich erinnere mich gut an einen feuchtfröhlichen Abend in einer Dortmunder Schachkneipe, wo auch sein schwergewichtiger Sohn Alexander zugegen war. Beide aßen mit großem Appetit und lehnten keinen Wodka ab.

Geller in Dortmund 1991

Beim internationalen Open „Berliner Sommer“ war Geller ebenfalls ein gern gesehener Gast. 1992 erfüllte sich in Bad Wörishofen doch noch ein Traum von ihm. Er wurde Schachweltmeister bei den Senioren.

Zwanzig Mal nahm Jefim Geller an UdSSR-Meisterschaften teil. Er gewann das härteste Championat der Welt zweimal: 1954 und1979. Dazwischen lag ein Vierteljahrhundert! Dieses Bravourstück ist einmalig in der Schachgeschichte.

Eine meiner Lieblingspartien von ihm ist die folgende.

Jefim Geller legte seine Partien scharf an und war für jeden ein gefährlicher Gegner. Er schlug in seiner langen Laufbahn acht Weltmeister und hatte einen positiven Score gegen Botwinnik, Smyslow, Petrosjan und Fischer. Bei den Treffen Ladies gegen Veteranen schlug Geller auch im Alter immer noch eine scharfe Klinge. Mit Vergnügen beobachtete ich u.a., wie er 1993 in Wien die damalige Weltmeisterin Xie Jun mattsetzte oder Sofia Polgar vom Brett fegte. Zu diesen Events wurde Geller von seiner charmanten Frau Oksana begleitet. Beide hatten sich 1957 kennengelernt, als Freunde ihm die junge Ballerina vom Odessa-Theater vorstellten. Er war schon berühmt, aber sehr zurückhaltend. Sechs Monate später heirateten sie. 1968 zog die Familie nach Moskau, wo sie mit dem Sohn Alexander im Künstlerviertel Peredelkino lebte.

Ständig war Geller auf der Suche nach neuen Ideen und bereicherte die Schachtheorie in vielen Eröffnungen, vor allem im Königsinder, Sizilianer und Spanier. Bekannt ist Botwinniks geflügeltes Wort: „Vor Geller wussten wir nicht, was das ist - Königsindisch.“ Dynamisch war sein Spielstil, der gute Mann verließ sich nur auf sein eigenes Urteil. Jefim Geller war freundlich und gab sein Wissen dem Nachwuchs und vielen WM-Kandidaten und-finalisten weiter. Bei der Schacholympiade 1962 in Varna rettete der beste Analytiker seiner Zeit in langer Nachtarbeit Botwinniks berühmte Partie gegen Fischer.

Ich fragte Jefim Geller einmal in Berlin nach dem Geheimnis seines Erfolges. „Das Wichtigste im Schach neben Talent und Siegeswillen sind starke Nerven“, lautete die Antwort. Großmeister Wolfgang Unzicker, der mit den Geller befreundet war, lobte dessen gewaltige Kampfkraft sowie sein großes strategisches und taktisches Können. Bei der Schacholympiade 1982 in Luzern war der Münchner unzufrieden mit seinem Spiel und sprach darüber am Rande des Turniers mit Jefim Geller. Dieser erwiderte ihm: „Du bist zu nervös.“ 

Geller. Karpow, Furman

Der hilfsbereite Großmeister war auch ein gefragter WM-Sekundant. So unterstützte er Boris Spasski 1972 bei seinem Match gegen Bobby Fischer in Reykjavik und danach Anatoli Karpow in mehreren Wettkämpfen ab dessen Kandidatenfinale 1974 gegen Viktor Kortschnoi. Bereitwillig stellte Jefim Geller dem künftigen Champion sein enzyklopädisches Schachwissen zur Verfügung, weil Karpow zwar hochtalentiert, aber nicht besonders fleißig im Eröffnungsstudium war. Im folgenden Spiel erteilte der Trainer seinem Zögling eine starke Lektion.

Geller – Karpow, Moskau 1976

Ein spannendes Partiefinale aus der UdSSR-Meisterschaft. Der junge Weltmeister gewann das Turnier und erlitt in 17 Partien nur eine Niederlage. Diese fiel allerdings drastisch aus. Gegen Geller hatte Karpow zum ersten Mal die Französische Verteidigung gewählt und wurde furchtbar überspielt. Nach 20 Zügen ergab sich diese Stellung. Mit einem Bauern weniger steht Schwarz schon total an der Wand. Wie Weiß danach mit den Figuren zaubert, ist sehenswert.

Jefim Geller lebte Schach intensiv wie kaum ein Zweiter. Seine Frau Oksana verriet einmal: „Manchmal spricht er Züge im Schlaf.“ Gellers Gesundheit war in den letzten Lebensjahren nicht mehr die beste. Leider rauchte er auch zu viel.

Die Schachwelt ist seit seinem Tod ärmer geworden. Jefim Geller wurde zum besten Sportler Odessas des 20. Jahrhunderts gewählt. Im April 2016 ist eine Straße seiner Geburtsstadt nach ihm benannt worden. Ehre, wem Ehre gebührt!

Wir beschließen unsere Erinnerungen mit einem schneidigen „Alterswerk“ von ihm.


Dagobert Kohlmeyer gehört zu den bekanntesten deutschen Schachreportern. Über 35 Jahre berichtet der Berliner bereits in Wort und Bild von Schacholympiaden, Weltmeisterschaften und hochkarätigen Turnieren.