Gotthold Ephraim Lessing, Juan Huarte und das Schachspiel

von ChessBase
06.02.2002 – In Ulm und um Ulm herum, von Baden-Baden bis Berlin, von Dresden bis Bremen und sogar in Washington wird in diesen Wochen Lessings dramatisches Gedicht "Nathan der Weise" (1779) in Theatern aufgeführt. Während manche Theaterkritiker der Ansicht sind, dass Lessing in Deutschland nur vor dem Hintergrund 'Auschwitz' wahrgenommen werden kann, inszeniert Claus Peymann im Berliner Ensemble "Nathan der Weise" als Reaktion auf den Terroranschlag vom 11. September. In welchem Kontext auch immer - mit "Nathan der Weise" kommt das Schachspiel auf die Bühne. Schon 1752 veröffentlichte Lessing die Übersetzung eines Werkes aus dem Jahre 1575, in dem das Schachspiel gewürdigt wurde. Ein Beitrag von Gerald Schendel. Mehr...

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Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), Juan Huarte (1529-1588) und das Schachspiel

Lessing war von 1770 an Bibliothekar in Wolfenbüttel und hatte dort Zugang zu Schachliteratur. Zuvor hatte er den deutschen Dichter F. G. Klopstock (1724-1802) in Hamburg als "guten Schachspieler" kennen gelernt (vergl. Lessing Chronik - Daten zu Leben und Werk, zusammengestellt von Gerd Hillen, Carl Hanser Verlag 1979, S. 55). Am Beginn von Lessings Freundschaft mit dem Buchhalter und Philosophen Moses Mendelssohn (1729-1786) im Jahre 1754 soll die Empfehlung durch einen gemeinsamen Bekannten als "guter Schachspieler" gestanden haben (vergl. Lessing Chronik, S. 28; ferner mit weiteren Quellenangaben: M. Steinschneider, Schach bei den Juden in: Antonius van der Linde, Geschichte und Literatur des Schachspiels, Reprint Olms 1981, Bd. 1, S. 193). Lessing war zweifellos am Schachspiel sehr interessiert.

Der Schachhistoriker van der Linde erwähnt in seinem 1874 erstmals publizierten Standardwerk (s.o., Bd. 2, S. 419 ff.) im Abschnitt Würdigung des Schachspiels ein Buch, das 1557 geschrieben, 1575 erstmals gedruckt und 1752 von Lessing aus dem Spanischen übersetzt wurde: Johann Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften, Zerbst 1752. Wieviele Ausgaben dieses Werkes seit dem ersten Druck 1575 erschienen sind, wusste van der Linde nicht genau. Er nannte einen Experten, der 14 Ausgaben in spanischer und "wenigstens" 27 in lateinischer, französischer, italienischer und englischer Sprache gezählt habe.

Martin Franzbach, der 1968 das Werk des spanischen Arztes Juan Huarte (1529-1588) Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften (Examen de ingenios para las ciencias) als Nachdruck der Lessing-Übersetzung von 1752 mit einer kritischen Einleitung und einer Bibliographie neu herausgab (Wilhelm Fink Verlag München), listete von der Erstausgabe 1575 in Baeza (Spanien) bis zur Ausgabe Gainesville 1959 (Florida/USA) insgesamt 77 Ausgaben mit 89 Titelvarianten auf, darunter 31 Ausgaben in Spanisch, 25 in Französisch, 8 in Englisch, 7 in Italienisch, 3 in Lateinisch, 2 in Deutsch und 1 in Holländisch!

Schon diese Zahlen vermitteln eine Ahnung von der Wirkung des Buches. Ausgaben des Examen de Ingenios befanden sich in zahlreichen bedeutenden Privatbibliotheken. In der Zeit, in der Lessing seine Übersetzung in Angriff nahm, war das Buch "als bestes und umfassendstes Kompendium auf seinem Gebiet im täglichen Gespräch und gehörte zum festen Bildungsbesitz der Professoren" (Franzbach). Lessings Vater, ein evangelischer Pfarrer, hatte bei seiner Magisterarbeit 1712 in Wittenberg als lateinische Quelle Huartes Scrutinium Ingeniorum angeführt, und Gotthold Ephraim Lessing erwarb am 29. April 1752 in Wittenberg durch lateinische Vorarbeiten zur Biographie und Kritik Huartes den Magistertitel. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Huartes Buch eifrig von Schopenhauer gelesen und kommentiert. Seither erst hat der spanische Autor nur noch historische Bedeutung.


Herder schrieb nach dem Tode Lessings: "Das erste Buch, das ich von ihm habe, ist seine Übersetzung Huartes. Eine Übersetzung aus dem Spanischen war in Deutschland 1752 wieder ein seltnes Ding, so häufig unsre liebe Vorfahren ein Jahrhundert vorher aus dem Spanischen übersetzt hatten, zumal die Übersetzung eines so paradoxen Schriftstellers, als Huarte ist. In der kurzen Vorrede zu ihm ist Lessing schon ganz kenntlich."
 



In der Vorrede erklärte Lessing, dass er sich hauptsächlich wegen des geringen Werts der lateinischen Übersetzung an eine deutsche Übersetzung gemacht habe. Zur Bedeutung des über 150 Jahre zuvor verfassten Werkes von Huarte sagte er: "Das Buch an sich selbst hat seine Vortrefflichkeit noch nicht verloren, ob gleich die Art zu philosophiren welche man darinnen antrift jetzo ziemlich aus der Mode gekommen ist. Es ist immer noch das einzige welches wir von dieser Materie, deren Einfluß in die ganze Gelehrsamkeit ganz unbeschreiblich ist, haben."

Das von Huarte bearbeitete Grundproblem ist immer noch aktuell - die Begabungsauslese, bzw. in der Sprache des Sportes die Talentsichtung. Während heute jedoch der konjunkturabhängige Personalbedarf der Wirtschaft im Vordergrund steht, der auf der Austauschbarkeit von Arbeitskräften basiert und die Bereitschaft voraussetzt, sich - unabhängig von einer inneren Berufung - auf einen anderen Job/Beruf umschulen zu lassen, ging Juan Huarte von einer anderen Prämisse und einem anderen Bildungsziel aus: "Denn da das menschliche Genie so schwach und eingeschrenkt und nicht mehr als zu einer Sache aufgelegt ist, so habe ich allezeit geglaubt, daß es kein Mensch in zwo Künste zur Vollkommenheit bringen könne, ohne in einer zu fehlen." Dies sei allen alten Weltweisen klar gewesen, nur habe keiner zu erklären gewußt, "was das für eine Natur sey die den Menschen zu einer Wissenschaft fähig und zu einer andern unfähig macht. Keiner hat es bestimmt wie viel Verschiedenheiten des Genies in dem menschlichen Geschlecht anzutreffen sind und welche Künste und Wissenschaften einer jeden davon zukomme. Keiner, welches das Hauptwerk ist, hat uns die Merkmahle woran man diese Verschiedenheiten erkennt, angegeben."

Im achten Hauptstück seines Werkes beschäftigte sich Juan Huarte mit der Frage, "wie man einer jeden Verschiedenheit des Genies diejenige Wissenschaft welche sich besonders für sie schickt anweisen und sie von der welche ihn zuwider ist abhalten soll" (S. 134 ff.). Zunächst widersprach er Cicero, welcher der Ansicht war, dass nur in der Dichtkunst eine besondere Begabung erforderlich sei; "in keiner einzigen Wissenschaft ... wird es derjenige dem das Genie dazu fehlt zu etwas bringen, wenn er auch schon sein ganzes Leben an Erlernung ihrer Grundsätze und Regeln wendet". Sodann teilte Huarte Künste und Wissenschaften in drei Gruppen ein (S. 135 f.):

 

    - solche, die mit dem Gedächtnis erlangt werden: die Sprachkunst, die lateinische oder jede andre Sprache, die theoretische Rechtsgelehrsamkeit, die "positivische" Gottesgelehrtheit, die Geographie und die Rechenkunst;

    - solche, die von dem Verstand abhängen: scholastische Gottesgelehrtheit, die theoretische Arzneigelehrtheit, die Dialektik, die natürliche und moralische Weltweisheit und die ausübende Rechtsgelehrsamkeit (Anwälte/Richter);

    - solche, die eine gute Einbildungskraft benötigen: "alle Künste und Wissenschaften, welche Bilder, Gleichheiten, Harmonie und Verhältnisse zu Gegenständen haben", insbesondere die Dichtkunst, die Beredsamkeit, die Baukunst, die ausübende Arzneigelehrtheit, die Mathematik, die Astrologie, die Regierungskunst, die Kriegswissenschaft, Malen, Zeichnen, Schreiben und Lesen; "gleichfalls hangt es von der Einbildungskraft ab, daß der Mensch artig, höflich, aufgeräumt, scharfsinnig ist; daß er Ränke und Kunststücke erfinden kann; daß er jene Gabe besitzt welche der Pöbel so sehr bewundert, nämlich vier Schreibern auf einmal vier verschiedne Materien in die Feder zu sagen und sich in keiner zu verwirren".


Amüsant ist es, wie Huarte im Folgenden ausführlich zu belegen versuchte, "daß sich die lateinische Sprache mit der scholastischen Theologie sehr schwer verbinden lasse und daß es etwas sehr rares sey, wenn ein großer lateinischer Styliste zugleich ein großer Scholastiker ist". Das zielt ausdrücklich auf Thomas von Aquin und Duns Scotus, die vortrefflichste Gedanken "in dem allerschlechtesten und niedrigsten Lateine vorgetragen haben" (S. 140). Huartes Buch wurde übrigens 1581/83 in Portugal und Spanien auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt! Die nächsten Ausgaben des Buches erschienen daher in anderen Ländern (Venedig, Cremona, Paris, London, Leyden, Antwerpen). Huartes Sohn gab sechs Jahre nach dem Tod des Vaters 1594 eine zensierte Version des Werkes in Baeza heraus.

Huarte zählte mehrere Spiele auf (Primenspiel, Hundertaugen, Triumphspiel, deutsches Primenspiel - "alle Augenblicke kömmt etwas darinne vor wodurch der Spieler zeigt, wie er sich bey gleichen Umständen in wichtigern Sachen, wenn sie ihm vorstossen sollten, verhalten würde"), deren Beherrschung er der Einbildungskraft zurechnete. Dann fuhr er fort:

"Dasjenige Spiel aber woraus man die Einbildungskraft am besten schliessen kann ist das Schachspiel." (S. 147).

Immer wieder betonte Huarte die Trennung von Gedächtnis, Verstand und Einbildungskraft - auch im Zusammenhang mit dem Schachspiel (S. 148):

"Wenn ein gewisser sehr gelehrter scholastischer Gottesgelehrte den ich ganz wohl gekannt habe, dieses eingesehen hätte, so würde er sich gar bald aus dem Zweifel der ihn unruhig machte, gefunden haben. Er spielte nämlich verschiednemal mit seinem Famulo, hatte aber allezeit das Unglück zu verlieren.
" Was soll das heissen? sagt er ganz zornig. Ihr
" der ihr weder die lateinische Sprache, noch die
" Dialektik, noch die Theologie (ob ihr sie gleich
" studiret habt) verstehet, ihr gewinnt mir die Spie-
" le ab, mir der ich ganz mit dem Scotus und dem
" h. Thomas angefüllt bin? Sollte ich nicht mehr
" Witz haben wie ihr? Wahrhaftig, ich kann mir
" es nicht anders einbilden, der Teufel muß euch
" diese Züge eingeben.
Das ganze Geheimnis aber bestand darinne, daß der Herr einen grossen Verstand hatte wodurch er das Schwerste was in dem H. Thomas und Scotus ist, begreifen konnte; es fehlte ihm aber an derjenigen Art der Einbildungskraft welche nothwendig erfordert wird, wenn man gut im Schache spielen soll: der Famulus hingegen hatte einen schwachen Verstand und ein schwaches Gedächtniß dagegen aber eine desto feinere Einbildungskraft."


1575 mochte es durchaus gefährlich gewesen sein, wenn man von einem angesehenen Theologen verdächtigt wurde, mit dem Teufel im Bunde zu sein!

Als Lessing sich später in einem polemischen Streit mit der protestantischen Orthodoxie befand, zitierte er in seinem 4. Anti-Goeze (1778) aus Huarts Prüfung der Köpfe. Martin Franzbach bewertete den Zeitbogen von über einem Vierteljahrhundert als "sichere Bestätigung, daß das Buch seinen inneren Werdegang unauffällig begleitet hat" (aaO., S. XLIII). Das gegen Lessing 1778 verhängte Verbot, sich weiter zu theologischen Themen zu äußern, war dann der Anlaß, das Stück "Nathan der Weise" zu schreiben.

Im 13. Hauptstück seines Werkes ("Wie man es erkennen solle, welcher Verschiedenheit des Genies die Kriegskunst zugehöre und aus welchen Merkmahle man schliessen könne, ob ein Mensch diese Verschiedenheit besitze"; S. 271-324) ging Huarte ausführlich auf das Schachspiel ein (S. 296 ff.).

Der Schachhistoriker van der Linde berichtete (aaO., Bd. 2, S. 420), dass von Oppen die Schachstellen Huartes nach der Übersetzung Lessings in der Schachzeitung (1849, S. 195-200) mitgeteilt habe. Da seither auch schon über 150 Jahre vergangen sind, ist es an der Zeit, die Kenntnis dieser Passagen aufzufrischen, was freilich nicht an dieser Stelle geschehen kann, sondern für die nächste Ausgabe des ChessBase Magazins vorgesehen ist.




In dem gleichen Jahr, in dem Lessings Huarte-Übersetzung erschien, kam von Lessing das Buch Des Herrn von Voltaire kleinere Historische Schriften heraus (Aus dem Französischen übersetzt, Rostock, verlegts Johann Christian Koppe, 1752). Darin enthalten ist Voltaires Abhandlung über die Geschichte der Kreuzzüge (S. 237 - 288), in der Voltaire Saladin würdigte und eine kritische Bilanz der Kreuzzüge zog ("... so wird man finden, daß der Orient das Grab von mehr als zwo Millionen Europäern geworden ist. Verschiedene Länder wurden dadurch entvölkert, und in Armuth versetzet" (aaO., S. 286 f.).

Eine Episode, die Voltaire in seiner Abhandlung nur kurz streifte, veranlasste die (Rück-) Eroberung Jerusalems 1187 durch Saladin. Guido von Lusignan wurde 1186 in einer "Nacht-und-Nebel-Aktion", in die der Großmeister der Templer und der Patriarch verwickelt waren, zum König von Jerusalem gekrönt. Einer der Helfer Guidos war der wegen seiner Habgier und Grausamkeit berüchtigte Reinald von Chatillon. Dieser überfiel trotz einem 1185 auf vier Jahre geschlossenen Waffenstillstandes Ende 1186 eine moslemische Karawane auf dem Weg von Kairo nach Damaskus. Nach manchen Berichten soll sich in dieser Karawane die Schwester Saladins befunden haben: Sitt es Sham, d.h. die Herrin von Syrien. Eine Legende besagt, dass sie den Feldzug Saladins gegen Jerusalem finanziert haben soll, da ihr Bruder all sein Geld weggegeben hatte.




Vielleicht wollte Lessing in Nathan der Weise die vorhandene Legende durch eine weitere "historisch" plausibel ergänzen, indem nämlich Saladins Schwester Sittah das Geld im Schachspiel gewonnen hätte. Vielleicht haben aber auch jene Interpreten recht, die es nicht für einen Zufall halten, dass Saladins Finanznot ausgerechnet beim Schachspiel aufgedeckt wird (Nathan der Weise; II,1 u. 2), insofern nämlich Zeremoniell und Spiele an den absolutistischen Fürstenhöfen zur Zeit Lessings die Funktion hatten, die Souveränität des Fürsten zu repräsentieren, was mit einem beträchtlichen Geldverbrauch verbunden war, der von der aufklärerischen Staatsphilosophie kritisiert wurde (vergl. Lessing: Epoche, Werk, Wirkung, München 1975, S. 285 f.).

Gar zu sehr freilich sollte man nicht in der Geschichte kramen, denn Lessing hielt in einer seiner Notizen zum Stück fest(Gotthold Ephraim Lessing, Das dichterische Werk, dtv 1979, Bd. 2, S. 744 f.): "In dem Historischen was in dem Stücke zu Grunde liegt, habe ich mich über alle Chronologie hinweggesetzt; ich habe sogar mit den einzeln Namen nach meinem Gefallen geschaltet. Meine Anspielungen auf wirkliche Begebenheiten, sollen bloß den Gang meines Stücks motivieren."

Gerald Schendel/6.2.2002

 

 


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