Das Traditionsturnier in Hastings - Ein Interview mit Jürgen Brustkern

von Johannes Fischer
13.12.2023 – In der Schachwelt hat der Name "Hastings" einen ganz besonderen Klang. 1895 fand in dem Badeort an der Südostküste Englands eines der bedeutendsten Turniere der Schachgeschichte statt, und bis heute werden dort regelmäßig Schachturniere ausgetragen - kein Turnier der Schachgeschichte hat eine längere Tradition. Der Berliner FM Jürgen Brustkern ist ein großer Hastings-Kenner und hat zusammen mit Norbert Wallet ein Buch über die Geschichte dieser Tradition geschrieben. In einem Interview mit ChessBase verrät er, was ihn an Hastings so fasziniert.

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Hallo Jürgen, das Jahr 2023 nähert sich seinem Ende. Vom 28. Dezember 2023 bis zum 7. Januar 2024 findet dieses Jahr in Hastings mit einem Open und zahlreichen Nebenveranstaltungen wieder der Caplin International Chess Congress statt. Wirst du dabei sein?

Nein. Ich kann mich der Erkenntnis nicht länger verschließen, dass Hastings in seiner heutigen Form seinen Zauber verloren hat und für mich nicht attraktiv ist.

Kein Schachturnier der Welt hat eine längere Tradition als das Turnier in Hastings. Begonnen hat sie 1895, als dort das "erste Superturnier der Schachgeschichte" stattfand. 22 Teilnehmer gingen an den Start, darunter die damals zehn besten Spieler der Welt. Harry Nelson Pillsbury gewann mit 16,5 aus 21 vor Mikhail Tschigorin und dem amtierenden Weltmeister Emanuel Lasker. Seitdem hat der Name Hastings in der Schachwelt einen besonderen Klang. Aber wie kam es, dass dieses große Turnier eine so lange Tradition begründet hat?

Der englische Sinn für Tradition, Spiel und Sport, hat in Hastings, gestützt auf einen spezifischen Unternehmergeist, etwas Einzigartiges, vorher Unbekanntes entstehen lassen. Wiederholte englische Schacherfolge (F. Yates, Sir G. Thomas, C. O. Alexander) verfestigten die Tradition und sorgten dafür, dass dieses Turnier das englische (man denke z.B. an die "Britische Schachexplosion" in den 1980er Jahren) und das moderne Turnierschach in Europa geprägt hat.

Die Teilnehmer des Turniers in Hastings 1895: Pillsbury sitzt als Turniersieger in der Mitte, zwischen Lasker und Tarrasch.

Hastings 1895: Stand nach 21 Runden

Rg. Titel Name Land ELO 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 Pkt. Perf. Wtg.
1 Harry Nelson Pillsbury
0 0 1 1 1 1 1 0 ½ ½ 1 1 1 1 1 ½ 1 1 1 1 1 16.5 / 21
2 Mikhail Ivanovich Chigorin
1 1 1 0 0 1 1 1 1 ½ 0 1 1 1 ½ 1 ½ 1 1 ½ 1 16.0 / 21
3 Emanuel Lasker
1 0 0 1 1 1 0 1 0 1 1 1 ½ 1 1 1 ½ 1 1 ½ 1 15.5 / 21
4 Siegbert Tarrasch
0 0 1 1 1 0 ½ ½ 1 1 1 1 0 ½ 1 1 1 0 1 ½ 1 14.0 / 21
5 William Steinitz
0 1 0 0 1 ½ 1 ½ 1 1 0 ½ 1 1 0 1 1 0 1 ½ 1 13.0 / 21
6 Emanuel Stepanovich Schiffers
0 1 0 0 0 ½ ½ 0 1 1 1 ½ ½ 1 1 ½ 0 1 1 ½ 1 12.0 / 21
7 Richard Teichmann
0 0 0 1 ½ ½ ½ ½ 0 0 ½ 1 1 0 1 1 ½ ½ 1 1 1 11.5 / 21 0.00
8 Curt Von Bardeleben
0 0 1 ½ 0 ½ ½ ½ 0 0 ½ 1 1 1 ½ 1 ½ 1 0 1 1 11.5 / 21 0.00
9 Carl Schlechter
1 0 0 ½ ½ 1 ½ ½ ½ ½ 0 1 1 ½ ½ ½ ½ ½ 1 ½ 0 11.0 / 21
10 Joseph Henry Blackburne
½ 0 1 0 0 0 1 1 ½ 0 1 1 0 0 ½ 0 1 1 1 0 1 10.5 / 21
11 Carl August Walbrodt
½ ½ 0 0 0 0 1 1 ½ 1 0 0 ½ ½ ½ ½ 0 ½ 1 1 1 10.0 / 21
12 Dawid Markelowicz Janowski
0 1 0 0 1 0 ½ ½ 1 0 1 0 ½ 0 ½ 1 0 ½ 0 1 1 9.5 / 21 0.00
13 Amos Burn
0 0 0 0 ½ ½ 0 0 0 0 1 1 0 0 ½ 1 1 1 1 1 1 9.5 / 21 0.00
14 James Mason
0 0 ½ 1 0 ½ 0 0 0 1 ½ ½ 1 0 1 0 ½ 1 0 1 1 9.5 / 21 0.00
15 Isidor Gunsberg
0 0 0 ½ 0 0 1 0 ½ 1 ½ 1 1 1 0 ½ 1 0 0 1 0 9.0 / 21 0.00
16 Henry Edward Bird
0 ½ 0 0 1 0 0 ½ ½ ½ ½ ½ ½ 0 1 ½ 1 0 ½ ½ 1 9.0 / 21 0.00
17 Georg Marco
½ 0 0 0 0 ½ 0 0 ½ 1 ½ 0 0 1 ½ ½ 1 1 0 1 ½ 8.5 / 21 0.00
18 Adolf Albin
0 ½ ½ 0 0 1 ½ ½ ½ 0 1 1 0 ½ 0 0 0 0 1 1 ½ 8.5 / 21 0.00
19 William Henry Kraus Pollock
0 0 0 1 1 0 ½ 0 ½ 0 ½ ½ 0 0 1 1 0 1 0 0 1 8.0 / 21
20 Samuel Tinsley
0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 1 0 1 1 ½ 1 0 1 0 1 7.5 / 21 0.00
21 GM Jacques Mieses
0 ½ ½ ½ ½ ½ 0 0 ½ 1 0 0 0 0 0 ½ 0 0 1 1 1 7.5 / 21 0.00
22 Beniamino Vergani
0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 1 0 ½ ½ 0 0 0 3.0 / 21

Partien

Du bist großer Fan der Turniere in Hastings. Wann hast du das erste Mal dort gespielt und was hat dich an diesem Turnier so fasziniert?

1977 war ich das erste Mal da. Ich sah zum ersten Mal, wie es auf einem Großmeisterturnier zuging, war sehr gelehrig und schrieb alle Züge meiner Idole mit. Aber auch das ganze Drum und Dran machte auf mich einen tiefen Eindruck. Die mit Bildern und Fotos dekorierten Wände des Turniersaals, die uralten Schachbretter aus Holz, die würdigen, unglaublich höflichen Organisatoren, die vielen freiwilligen Helfer und die kiebitzenden Damen und Herren in feiner Garderobe. Die ganze traditionsschwangere, gediegene und leicht morbide Atmosphäre zog mich sofort in ihren Bann.

Die Turniere in Hastings galten lange Jahre als besonders glanzvoll und haben die besten Spieler der Welt angelockt, aber im Laufe der Jahrzehnte hat der Nimbus von Hastings doch immer mehr gelitten. Spieler haben z.B. nach ihrem Besuch in Hastings immer wieder über Dinge wie einen kalten Turniersaal oder unbeheizte Unterkünfte berichtet. Warum hast du Hastings trotzdem die Treue gehalten?

Weil ich ein anhänglicher und wohl auch ein treuer Mensch bin. Von den Klagen der Spitzenspieler erfuhr ich erst viel später, z.B. in einem Buch von John Nunn ("Best Games 1985-1993", Batsford 1995, S.126). Die Auswirkung des feuchten Wetters und der grundsätzlich schlechten Beheizung der meisten Unterkünfte führten dazu, dass viele meiner Bekannten nicht mehr nach Südengland reisen wollten. Nach dem wirtschaftlichen Aufstieg Englands Mitte der 80er Jahre verbesserte sich die Qualität der meisten Unterkünfte.

Hastings bedeutete für mich auch immer ein wenig Abenteuer Es begann schon mit der Anreise, mit der Fähre über den Ärmelkanal. Durch den heftigen Seegang wurde mein Magen oft stark in Mitleidenschaft gezogen. Ich war auch immer sehr glücklich darüber, dem Sylvester-Wahnsinn in Deutschland zu entfliehen, denn in England hört man über Sylvester so gut wie keine Böller. Die Vorteile überwogen, so dass Hastings für mich im Laufe der Jahre ein Sehnsuchtsort, "mein Wohnzimmer", wurde.

Trotz aller Krisen – das Turnier in Hastings findet immer noch statt. Wie kommt es, dass diese Tradition Bestand hat, während andere Traditionsturniere irgendwann eingestellt wurden?

Es gab lange Zeit stabile Gruppierungen engagierter Persönlichkeiten, die mit Geld (z.B. Jim Slater, 1929-2015), Organisationstalent (vor allem Harry Golombek, 1911-1996) und Leidenschaft (der "Vater der Tradition" Herbert Dobell, 1878-1938) die außergewöhnliche Kontinuität des Turniers sicherten, und mit fast nationalen Eifer alles dafür taten, dass Hastings sein internationales Alleinstellungsmerkmal nicht verlor. Das bekannteste Beispiel für den britischen Sportgeist ist das Tennisturnier in Wimbledon, dass seit 1877 durchgeführt wird.

Harry Golombek

Du hast nicht nur regelmäßig in Hastings gespielt, sondern hast im Laufe der Jahre auch viel Material über das Turnier und seine Geschichte gesammelt. Was hat dich dazu motiviert?

Meine Sammlermentalität und Anglophilie, vor allem aber mein brennender Wunsch, einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass dieses fabelhafte Turnier, mit dem mich so viele persönliche Erlebnisse verbinden, nicht in Vergessenheit geriet.

Dieses Material hast du dann zusammen mit Norbert Wallet zu einem Buch über das Turnier in Hastings gemacht. Wie sah die Zusammenarbeit aus, wie habt ihr die Arbeit aufgeteilt?

Das Projekt, ein Buch über Hastings zu schreiben, hatte ich schon zwei Jahrzehnte mit mir herumgetragen. Idee, Grundkonzeption und inhaltliche Vorgaben stammen von mir. Auch für Auswahl und Analyse der Partien war ich zuständig. Dem sprachlich gewandten Norbert, der Journalist von Beruf ist, fiel die lebendige Umgestaltung meiner Texte zu. Darüber hinaus überprüfte er gewissenhaft die von mir recherchierten Fakten.

Das Buch erschien zunächst im Selbstverlag, dann 2021 bei Joachim Beyer, eine englische Übersetzung erschien 2022 bei New in Chess. Das Echo bei Publikum und Kritik war sehr positiv. Aber dennoch richten sich Bücher über die Geschichte von Schachturnieren wahrscheinlich doch eher an ein kleines Publikum. Hat sich die Mühe und die jahrelange Arbeit an diesem Buch dennoch gelohnt?

Auf jeden Fall! Die Möglichkeit, meine Schachleidenschaft nicht nur im eigenen Spiel auszuleben, sondern sie auch im kreativen Prozess des kritischen Schreibens zu bedienen, hat mich mit unbändiger Freude erfüllt – auch wenn das Projekt auch für viel Mühe und Stress gesorgt hat, z.B. bei dem Versuch, für die Darstellung der 125 Jahre Schachgeschichte in Hastings ein griffiges Konzept zu finden. Doch am Ende war und bin ich sehr stolz, dass mein Herzensprojekt das Licht der Welt erblickt hat.

Was zeichnet die Turniere in Hastings aus, was macht sie zu etwas Besonderem und hat sie immer zu etwas Besonderem gemacht?

Hastings garantierte das regelmäßige Zusammentreffen von Spielern der Weltelite, wobei es vor allem in den Jahren des Kalten Krieges von großer Bedeutung war, dass auch immer hervorragende, ja berühmte Meister aus Ost- und Südeuropa am Turnier teilnahmen, die ansonsten im Westen nur äußerst selten zu sehen waren. Zu dem besonderen Flair gehört auch die Stadt selbst. Die gut erhaltenen viktorianischen Gebäude, die zahllosen Parks und die besondere Vegetation (aufgrund des St. Lorenz Stroms gibt es sogar Palmen) und die Lage an der Küste, verströmen ein besonderes Fluidum.

Welche Rolle spielt dabei Tradition und wie wichtig ist Tradition? Oder anders gefragt – warum sollte jemand, der über Silvester ein Turnier spielen möchte, ins relativ kalte und ungemütliche Hastings fahren und nicht eher in den wärmeren Süden?

Die Bewahrung von Tradition ist mir ein wichtiges Anliegen. Traditionen sind für mich auch eng mit menschlicher Kommunikation und sozialem Verhalten verbunden. Der respektlose Ton in den "sozialen" Netzwerken, und die nahezu verschwundene Solidarität in den westlichen Gesellschaften sind gute Beispiele dafür, dass sich der Verhaltenskodex der Menschen in einem barbarischen Zeitalter befindet. Die familiär geprägten Nebenveranstaltungen und der sehr höfliche Stil des Organisationsteams sorgen in Hastings für ein respektvolles Miteinander. "Very British!"

Die Turniere in Hastings haben eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Kann man und was kann man daraus über die Schachgeschichte, die Geschichte oder sogar die Geschichte Europas und der Welt lernen?

Herbert Dobell zeigte durch Hartnäckigkeit und Leidenschaft, dass die Verwirklichung eines Weltklasse-Turniers (Six Masters 1922) möglich ist. Der Netzwerker Harry Golombek bewies mit diplomatischem Geschick und weltmännischem Auftreten, dass man kreative Ideen benötigt, um in politisch schwierigen Zeiten das FIDE- Motto "Wir sind eine Familie" erfolgreich umzusetzen. Mit der fabelhaften Idee des "Coronation Congress" 1953 begründete er in Zusammenarbeit mit dem russischen Verband die regelmäßige Teilnahme von zwei starken sowjetischen Großmeistern und sorgte somit für den weltweit guten Ruf des Kongresses.

Euer Buch erzählt nicht nur die Geschichte des Turniers und Geschichten vom Turnier, sondern enthält auch zahlreiche unterhaltsam und prägnant geschriebene Porträts mit Partien der vielen Spitzenspieler, die irgendwann einmal in Hastings gespielt haben, praktisch ein Who is Who der Schachgeschichte. Von Henry Atkins, Vera Menchik, Milan Vidmar über Wolfgang Uhlmann, Wolfgang Unzicker, Paul Keres, Mihail Tal, Viktor Kortschnoi, Bent Larsen bis hin zu Nigel Short, Judit Polgar und Jonathan Rowson, um nur einige zu nennen. Unabhängig von den Genannten – wer von all den Porträtierten im Buch ist für dich Mr. oder Mrs. Hastings, wer hat in Hastings besonders gut und erfolgreich gespielt?

Den Titel "Mr. Hastings" verleihe ich ohne zu zögern Sir George Thomas (1881-1972). Es waren nicht seine sportlichen Erfolge in Hastings, denn bei insgesamt 12 Teilnahmen im Premier gewann er nur einmal (1934/35). Doch aufgrund seiner besonderen Persönlichkeit gehört er zu meinem absoluten Favoriten: Das Turnier 1934 war wie die Turniere 1895 und 1922 absolute Weltklasse, doch als waschechter Schachamateur schlug Thomas 1934 mit den schwarzen Steinen sowohl die "Schachmaschine" Capablanca als auch den späteren Weltmeister Botvinnik. Und statt in der letzten Runde mit seinem Freund Mitchell, der am Tabellenende lag, schnell Remis zu spielen, um den alleinigen Turniersieg abzusichern, suchte der Sportsmann Thomas den Kampf, verlor die Partie und gewann am Ende nur nach Wertung. Der Sieg des damals 52-jährigen(!), wäre als die größte Sensation in die Geschichte von Hastings eingegangen.

Sir George Thomas beim Badminton

Das sportliche Multitalent bewies auch in anderen Sportarten vorbildlichen Fair Play Charakter. Im Badminton gewann er unzählige Male die britische Meisterschaft und galt in seiner besten Zeit als bester Badmintonspieler der Welt! Auch im Tennissport erreichte er ein hohes Niveau und stand z.B. 1911 im Viertelfinale von Wimbledon. Was die erfolgreichsten Spieler in Hastings betrifft, ist vor allem der Rekordgewinner GM Svetozar Gligoric mit fünf Siegen zu nennen.

Svetozar Gligoric beim Interzonenturnier Den Haag 1966 | Foto: Eric Koch für Anefo | Foto: Dutch National Archive, Quelle: Wikipedia

Salo Flohr schaffte das Kunststück den Traditionskongress dreimal hintereinander zu gewinnen.

Wie erklärst du dir das?

Schwer zu sagen. Der Schwede Ulf Andersson gewann den Traditionskongress zwar "nur" zweimal (1979-1980), aber er erzielte bei den Londoner Weltklasseevents Mitte der 80er, herausragende Ergebnisse, die er selbst als die größten Erfolge seiner Schachkarriere einstufte. Seine starken Leistungen auf der Insel begründete er vor allem "mit dem milden britischen Wetter"!

Die meisten der Porträtierten sind sehr bekannt, doch einer sticht heraus, der weniger bekannt sein dürfte: Reinhard Cherubim. Wer ist das und was verbindet ihn so sehr mit Hastings, dass er in dieser illustren Reihe steht?

Der Aachener Lehrer Dr. Cherubim war ein anglophiler Schachpropagandist, der sich in das Hastings- Turnier verliebt hatte und mit seinen lebendig geschriebenen Berichten, die in der Deutschen Schachzeitung und dem Schach-Echo erschienen – weite Schachkreise in Deutschland erreichte. Mir gefällt es, dass er im Zuge seiner Berichterstattung nicht nur über die lebendige britische Schachszene geschrieben hat, sondern auch für den Export englischer Kultur nach Deutschland sorgte. Der Mathematiklehrer warb für die Verbesserung der angespannten Deutsch-Englischen Beziehungen. Aufgrund seiner Verdienste gab ich ihm im Buch den passenden Titel: "Der Cherubim der Deutsch – Englischen Freundschaft!" (Cherubim bedeutet Engel).

Euer Buch ist mit vielen schönen Fotos illustriert und enthält zahlreiche Partien. Welche Partien aus der langen Geschichte des Turniers haben dir besonders gut gefallen?

Neben der berühmten Partie mit dem "schwebenden Turm" (Steinitz – von Bardeleben 1895) kommen für mich zwei andere Partien in die Olympia-Wertung.

Die Partie Vaganian-Planinc war in vieler Hinsicht bemerkenswert. Das Springermanöver Sa1 war mit einem schönen Mattfinale verbunden und die letzten drei Züge dieser Partie spielten in dem Film "Gefährliche Züge" (1985 Oscar für den besten ausländischen Film) eine große Rolle.

Live dabei war ich 1980, als Ulf Andersson in seiner Partie gegen den USA-Amerikaner Larry Christiansen mit einem noch nie da gewesen Verteidigungsmanöver die gegnerische Aggression im Stil von "Ying und Yang" abfederte. In einer Igel-Struktur griff der Amerikaner mit allen vier Bauern am Königsflügel an, und wurde vom schwedische Endspielkünstler mit dem erstaunlichen Manöver h6/Kh7 und Th8!! ausgebremst. Absolut sehenswert!

1895 bis heute – das Turnier in Hastings hat wirklich eine lange Tradition. Doch glaubst du, dass es noch einmal zu altem Glanz zurückkehren kann, und dass in Hastings einmal wieder Spitzenturniere wie jetzt in Wijk, in Dortmund, Biel oder in Prag stattfinden werden?

Mir fehlt der Glaube an eine Hastings-Renaissance. Die goldenen Zeiten für Hastings sind spätestens nach der finanziell bedingten Einstellung des Großmeister-Turniers vorbei. (2003/ 2004). Seitdem überlebt das Turnier mehr schlecht als recht durch die Unterstützung der Stadt, kleinerer Unternehmen und privaten Förderer.

Ein Silberstreif am Horizont ist allerdings das Sponsoring der Firma "Caplin". Der IT-Spezialist ist nunmehr seit fünf Jahren ein treuer Finanzpartner und hat den Kongress sogar in der schwierigen Corona-Zeit mit einem stark besetzten Online-Turnier unterstützt.

In einem Interview, das ich mit John Ashworth, dem CEO von Caplin, geführt habe, und das im Schach Magazin 64 (Februar 2023) erschienen ist, erfuhr ich, dass er bereit ist, das Turnier längerfristig zu unterstützen. Somit gibt es gute Chancen, dass die 100. Austragung im Dezember 2026 gefeiert wird. Da bin ich gerne dabei.

Und wirst du Hastings darüber hinaus treu bleiben, als Teilnehmer und als Chronist?

All das, was ich mit Liebe, Leidenschaft und Sorgfalt an Information, Anekdoten und England-Erlebnissen gespeichert habe, kann und will ich nicht einfach zum Fenster hinauswerfen. Das Buch beschreibt nicht nur die Geschichte von Hastings, sondern auch die Bedeutung Englands als Wegbereiter des modernen Turnierschachs (London 1851).

Der Autor Jürgen Brustkern (links) zusammen mit dem englischen Großmeister Stuart Conquest, der das Vorwort für die englische Ausgabe geschrieben hat.

Des Weiteren war es mir wichtig über die Geschichte der größten Erfolge des britischen Schachs zu berichten (London 1927, die Goldene Generation von 1986-1992 und Shorts Vize-Weltmeistertitel 1993). Denn erstaunlicherweise gibt es über die schachlichen Höhepunkte des Insellands keine einheitliche Literatur! Von daher könnte ich mir gut vorstellen ein zweites Buch über die englische Schachgeschichte zu schreiben.

Dann viel Glück – und vielen Dank für das Gespräch!

hastingschess.com


Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".