„Ohne Schach wäre ich nicht nach Bahrain
gekommen“
Interview mit Dagobert Kohlmeyer
Von Frank Hoppe
Der Berliner
Schachpublizist Dagobert Kohlmeyer wird am heutigen Montag 65 Jahre. Er ist
damit exakt fünf Jahre älter als Anatoli Karpow, den er wie alle anderen
Figurenkünstler dieser Welt seit langem sehr gut kennt. Kohlmeyer ist Reporter,
Schachchronist, Fotograf, Buchautor und Übersetzer. Auf den Spuren der
Schachstars hat er in den vergangenen zwei Jahrzehnten die ganze Welt bereist
und viel erlebt. Im folgenden Interview mit Frank Hoppe lässt der Jubilar einige
markante Ereignisse und Erkenntnisse aus Vergangenheit und Gegenwart Revue
passieren.
Frank
Hoppe: Du bist 65 geworden. Gehst Du jetzt in Rente?
Dagobert Kohlmeyer: Nein, das passt nicht zu mir. Ich wundere mich allerdings
etwas, jetzt dieses Alter erreicht zu haben. Als kreativer Mensch sollte man
nicht sofort den Hammer fallen lassen und die Hände in den Schoß legen. Ich
werde also weiterhin schachpublizistisch tätig sein - vielleicht in etwas
geringerem Maße. Ich muss nicht mehr zu allen Turnieren dieser Welt fahren, man
kann ja auch von zu Hause aus eine Menge tun. Stichwort Internet.
Bekommst Du als Freiberufler überhaupt Rente?
Natürlich. Ich war doch mehr als 20 Jahre in der Künstlersozialkasse, einer sehr
nützlichen Einrichtung für Freischaffende. Dort sind Journalisten,
Schriftsteller, Publizisten, Filmemacher, Musiker, Maler und andere kreative
Leute Mitglied. Meine Rente ist also sicher. Sie ist nicht sehr groß, aber ich
werde zurechtkommen.
Seit wann arbeitest Du als Schachjournalist?
Hauptberuflich begann das mit dem Fall der Mauer. Vorher war ich beim Rundfunk
der DDR als Journalist beschäftigt. Bevor dort alles den Bach hinunterging - von
ein paar Tausend Mitarbeitern sind vielleicht 200 übernommen worden - habe ich
mich selbständig gemacht: als Übersetzer von Schachliteratur, als
Artikelschreiber, als Fotograf sowie als Mitorganisator von Turnieren und
Simultanveranstaltungen. Meine Vielseitigkeit und die russische Sprache haben
mir beim Start in das neue Berufsleben sehr geholfen.
Hast Du eine fotografische Ausbildung?
Ich hatte keine. Aber durch meine Zusammenarbeit mit Zeitungen lernte ich gute
Pressefotografen kennen, die mir sehr viel beigebracht haben. Den Blick fürs
Motiv habe ich auf jeden Fall. Die technischen Details einer Kamera könnte die
Generation meines Sohnes besser erklären als ich. Nebenbei bemerkt: Ich
fotografiere lieber die Schachfrauen dieser Welt, denn sie sind einfach
attraktiver. Wenn man vorwiegend die gleichen Gesichter von Karpow und Kasparow,
Kramnik, Anand oder Topalow über Jahre hinweg sieht, freut man, sich über jede
schöne Abwechslung.
Hast Du früher Deine Fotos selbst entwickelt?
Nein. Ich bin sehr froh, dass die Technik inzwischen so weit fortgeschritten
ist. Die Digitalkamera nimmt einem mindestens zehn Arbeitsschritte ab: Kauf und
Einlegen des Films, Weg zum Fotoshop, Warten auf die Entwicklung, Abholen der
Papierfotos, Sortierung und Beschriftung, Eintüten in einen Briefumschlag, zur
Post laufen, an Redaktionen schicken, dort werden sie eingescannt usw. Heute
fotografiere ich Magnus Carlsen auf der Bühne, gehe ins Pressezentrum, stecke
die Speicherkarte in mein Notebook, und nach drei Minuten kann das Foto in jeder
Redaktion dieser Welt sein.
Sind Deine früheren Fotos digitalisiert?
Natürlich nicht alle. Viele sind bei dpa Zentralbild oder bei der Fotoagentur
Imago, und vielleicht 10.000 Papierfotos liegen bei mir zu Hause, ein Großteil
davon im Keller. Dazu kommen noch Unmengen an Digitalfotos in meinem Computer
und den Notebooks. - Ich hatte mal vor, eine eigene Website zu machen und die
Fotos für interessierte Redaktionen anzubieten, aber aus diesem Projekt ist
bisher nie etwas geworden.
Wird das noch was?
Schaun wir mal. Dann bräuchte ich kompetente Hilfe, zum Beispiel von Frank
Hoppe. Schreib das ruhig mit rein!
Du hast also jetzt schon eine fast sechsstellige Anzahl Fotos gemacht?
Ganz bestimmt. Aber nicht nur Schachspieler. Ich habe früher auch andere
Sportarten, wie Leichtathletik fotografiert. Wie Du weißt, komme ich aus Jena.
Ich kannte Heike Drechsler sehr gut, auch Sergej Bubka oder Carl Lewis bin ich
häufig begegnet. Ich habe alle Großen dieser schönen Disziplin gern fotografiert
und interviewt. Das sind bleibende Erinnerungen.
Welche anderen prominenten Persönlichkeiten hast du noch
„abgeschossen“?
Viele
Politiker, darunter Willi Brandt, Egon Bahr, Richard von Weizsäcker oder Michail
Gorbatschow. Voriges Jahr traf ich die Nobelpreisträger Günter Grass und Robert
Mundell (kanadischer Ökonom - Vater des Euro). Vom Schriftsteller Tschingis
Aitmatow habe ich auch viele Fotos.
Durftest Du zu DDR-Zeiten ins westliche Ausland reisen?
Ich war kein „Reisekader“, durfte nur in die Sowjetunion, nach Polen, Ungarn und
ins restliche sozialistische Ausland. Währenddessen kannte mein Cousin, der in
Dortmund lebt, Rom, Paris, Wien und viele andere westliche Hauptstädte. Ich
konnte es mir nicht vorstellen, auch mal dorthin zu fahren. Inzwischen kenne ich
alle diese Städte. In Wien organisierte ich das Millennium Turnier 1996. Ich war
seit 1990 in fünfzig Ländern dieser Erde in Sachen Schach oder privat, und diese
Erlebnisse kann einem niemand mehr nehmen. Ohne Schach wäre ich wahrscheinlich
nicht nach Argentinien, Indien oder Bahrain (Kramniks Computermatch 2002)
gekommen. Da ich im
arabischen Raum viele Schachfreunde habe, verfolge ich die politischen
Veränderungen dort mit großem Interesse. Erst vor ein paar Tagen erkundigte ich
mich über Skype bei Slim Bouaziz in Tunesien, wie es ihm geht. Der erste
Großmeister Afrikas und seine Familie sind wohlauf.
Du hattest aber vor der Wende 1989/90 schon für den Düsseldorfer
Rau-Verlag gearbeitet?
Als Übersetzer des Sportverlages in Berlin, damals noch in meiner Freizeit,
hatte ich mir schon einen Namen gemacht. Der Rau-Verlag suchte dringend einen
Übersetzer für eine vierbändige Karpow-Eröffnungsreihe, und sie kamen auf mich.
Das war mein Sprungbrett auch für die anderen Verlage. Das Honorar vom
Rau-Verlag kassierte übrigens zum Großteil der Staat. Ich bekam nur ein Drittel
in D-Mark und den Rest in DDR-Mark. Das änderte sich erst mit dem Mauerfall.
Wollten sie dich im Westen mal abwerben?
In der Tat
gab es einmal so einen Versuch! Ich war vor dem Mauerfall zum Geburtstag meiner
Tante in Dortmund. Einer der Verleger rief an und fragte mich "Herr Kohlmeyer,
wollen Sie denn nicht hierbleiben?!" Nach fünf Sekunden Nachdenken antwortete
ich "Nein. Ich habe meine Familie, meine Verwandten in der DDR. Ich fahre wieder
zurück. Ich arbeite gern als Übersetzer für Sie, aber ich bleibe in der DDR."
Ein paar Wochen oder Monate später hatte sich die Sache durch den Mauerfall
erledigt. Dann stand die Frage nicht mehr.
Der Rau-Verlag hatte persönlich mit Dir Kontakt aufgenommen?
Nein, der Rau-Verlag fragte offiziell über den Sportverlag der DDR an. Der
Beyer-Verlag und andere Verlage bekamen das mit und haben mich dann ausfindig
gemacht.
Wie lange brauchst Du für die Übersetzung eines Buches?
Gute Frage. Es kommt natürlich auf den Umfang an. An einem guten Tag schaffe ich
etwa 10-12 Seiten. Manche Manuskripte sind ja nicht so schwierig zu übersetzen,
z.B. Eröffnungsbücher. Viel komplizierter war natürlich die Übersetzung der
Biographie von Kortschnoi für die Edition Olms. Das war wie ein Roman, richtige
Prosa, mitunter eine Quälerei. Zumal die Zusammenarbeit mit „Viktor dem
Schrecklichen“ und seiner sich gern einmischenden Gattin nicht so einfach war.
Als Schachspieler schätze ich Kortschnoi sehr, seine anderen Seiten möchte ich
nicht kommentieren…
Sicher benötigt man zum Übersetzen viel Geduld.
Du sagst es.
Und man bekommt Rückenschmerzen. Ein großes Problem waren früher die technischen
Gegebenheiten. Die ersten Manuskripte habe ich in die Reiseschreibmaschine
meines Großvaters getippt - mit drei Durchschlägen! Das Deckblatt für den
Verlag, das zweite für den Lektor, das dritte für den Autor, das vierte für die
Druckerei. Wenn man dann einen Fehler machte, musste der auf vier Seiten
korrigiert werden! Heute undenkbar. Später hatte ich dann eine elektronische
Schreibmaschine. Die konnte die Fehler ausixen, so wie mit Tipp-Ex. Die Krönung
war dann natürlich der Computer, wo die Arbeitsproduktivität nochmal um hundert
Prozent stieg.
Kannst Du vom Schachjournalismus leben?
Ja, wie man sieht. Reich bin ich aber nicht geworden, denn Schach ist nicht der
Nabel der Welt. Da halfen mir nur Vielseitigkeit und Flexibilität: Schreiben,
Interviews, Übersetzen, Fotos machen, Mitwirkung bei Schachveranstaltungen. Ich
bin zum Beispiel seit nunmehr 21 Jahren jedes Jahr bei den Dortmunder
Schachtagen als „Presseoffizier“. Das zeugt von Kontinuität. Ich weiß nicht, ob
es einen Schachjournalisten gibt, der so lange jedes Jahr, ohne Pause, bei einem
Event mitgewirkt hat. Leider gibt es nun viele Turniere gar nicht mehr, zum
Beispiel in Tilburg, Linares, Monte Carlo oder Mainz. Das Aeroflot Open in
Moskau steht auch auf der Kippe.
Musst Du Deine Reisen zu den Turnieren selbst bezahlen?
Im Prinzip ja – Flug oder Bahn, Hotel und so weiter. In seltenen Fällen tragen
die Veranstalter die Übernachtung, wie beispielsweise in Dortmund, wo ich zum
Turnierstab gehöre. Das Meiste muß man aber selbst bezahlen, und am Ende bleibt
nach Abzug aller Unkosten oft nur sehr wenig vom Honorar übrig. Schach ist nur
eine Randsportart. Wir sind halt nicht in Russland, wo das Spiel Nationalsport
ist und die Zeitungen voll davon sind. Hierzulande muß man mit den
Tageszeitungen kämpfen, um Schach überhaupt unterzubringen. Die
Nachrichtenagentur dpa fährt ihre Schach-Berichterstattung auch zurück. Größere
Meldungen oder Berichte gibt es dort jetzt nur noch von Superturnieren,
WM-Finales oder Olympiaden. Früher war das anders. Allerdings wollten sie für
den heutigen 60. Geburtstag Karpows eine längere Würdigung des 12. Weltmeisters.
Was ist mit den Tageszeitungen?
Eine Zeitung
muß ich lobend erwähnen - das Neue Deutschland. Sie bringen immer sehr viel über
unseren Sport und haben eine samstägliche Schachecke. Aktuell berichte ich dort
gerade vom WM-Kandidatenturnier in Kasan. Jedes Jahr zu ihrem Pressefest laden
sie renommierte Schachmeister zum Simultan ein. In diesem Jahr, am 28. Mai, wird
es dank meiner Initiative Artur Jussupow sein. Ich finde, es gehört zur Kultur
einer Redaktion, Schach im Blatt zu haben. Es gibt leider nur ganz wenige
Redaktionen, die das tun: Helmut Pflegers Schachkolumne in der Zeit, die Welt am
Sonntag, die Berliner Zeitung, wo Paul Werner Wagner jeden zweiten Samstag etwas
schreibt. Man kann sie an einer Hand abzählen, und das finde ich schade, denn
Schach ist ein Teil des Weltkulturerbes. Jede Redaktion die etwas auf sich hält,
sollte Schach den ihm gebührenden Raum einräumen.
Dein erster Schachartikel erschien 1981?!
Als Erwachsener. Vorher habe ich schon als Oberschüler Artikel geschrieben,
damals im Thüringischen. Aber richtig begann es 1981. Nach dem 1.
Kurt-Richter-Gedenkturnier in Berlin verfasste ich einen Bericht für die
Zeitschrift „Schach“.
Da warst Du 35 Jahre alt. Was hast Du vorher gemacht?
Ich war im Rundfunk der DDR als Journalist beschäftigt, und vorher war ich zwei
Jahre lang Dozent für Russisch und Deutsch.
Welche Sprachen sprichst Du?
Ich spreche Deutsch am besten (lacht), Russisch fließend. Englisch habe ich mir
im Laufe der Jahre mehr oder weniger angeeignet. Durch die vielen Reisen ergab
sich das fast von allein, ohne es speziell studiert zu haben. Etwas Spanisch
spreche ich auch, weil ich sehr gern in diesem Land bin. Ich mache dort sehr oft
Urlaub und werde das jetzt auch verstärkt tun. Kurz nach meinem Geburtstag
breche ich auf und verbringe drei Wochen an der Costa Blanca.
Ohne Schach?!
Nein. Auch dort gibt es einen Schachklub, den ich regelmäßig besuche. Ein paar
Wochen ohne Schach kann und möchte ich auch nicht sein. Und dann steht ja schon
das Chess Meeting in Dortmund vor der Tür.
Anderes Thema. Du warst 1992 bei der inoffiziellen Weltmeisterschaft
zwischen Spasski und Fischer und hast auch ein Buch darüber geschrieben...
Das war ein Re-Match der beiden zur Erinnerung an die Weltmeisterschaft 1972 in
Reykjavik. Bobby sah das natürlich als offizielle Weltmeisterschaft an. Es
waren viele Journalisten da. Allerdings befand sich Jugoslawien im
Kriegszustand, und ich war aus Deutschland der einzige Journalist an beiden
Schauplätzen! Die erste Hälfte fand in Sveti Stefan an der Adria statt, die
zweite in Belgrad. Fünfzig Kilometer weiter in Bosnien fielen die Bomben. Meiner
Mutter hätte ich das nicht erzählen dürfen. Die wäre in Ohnmacht gefallen.
Zumal Du verhaftet wurdest...
An einem Ruhetag spazierte ich am Adria-Strand entlang und wollte die Insel
fotografieren. Plötzlich sprangen ein paar Männer aus dem Gebüsch und nahmen
mich mit der Begründung fest, ich wollte Bobby fotografieren. Ich fragte "Wo ist
Bobby?" Es waren Hunderte Leute am Strand, und er muß wohl da mit seiner
Freundin Zita gebadet haben. Ich habe ihn aber nicht gesehen.
Die Männer hielten mich einen Nachmittag lang auf der Insel Sveti Stefan fest,
forderten den Film aus meiner Kamera und drohten, mir alle Knochen zu brechen.
Ich verlangte, den Hauptschiedsrichter Lothar Schmid anzurufen, der aber nicht
erreichbar war. Ich überlegte, was es bringt, wenn ich den Film nicht herausgebe
und öffnete dann meine Kamera.
Wie ging die Sache aus?
Die
Zweimeter-Hünen mit riesigen Muskelpaketen aber wenig im Gehirn, garantiert
keine Schachspieler (lacht) - haben vor meinen Augen triumphierend den Film aus
der Kassette gezogen und belichtet. Danach durfte ich mit meiner Kamera wieder
die Insel verlassen. An einem der nächsten Tage bin ich nochmal dorthin und habe
die Insel aus sicherer Entfernung fotografiert. Turnierdirektor Janos Kubat
entschuldigte sich später bei mir, und sein Statement wurde auch im
Turnierbulletin veröffentlicht. Damit war für mich die Sache erledigt.
Es waren also nicht die Behörden, die Dich da festgesetzt haben?!
Nein, es waren die gelangweilten Bodyguards von Bobby Fischer, die sich
wahrscheinlich gefreut haben, ein Opfer und etwas Abwechslung zu finden.
Konntest Du Fischer persönlich auf dieses Vorkommnis ansprechen?
Nein. Seine Auftritte bzw. die Pressekonferenzen verliefen immer nach dem
gleichen Strickmuster. Man musste Fragen an den Amerikaner vorher schriftlich
einreichen. Fischer hat nicht genehme Fragen in den Papierkorb geworfen bzw.
beiseite gelegt. Spasski dagegen war ganz normal. Er hat frei gesprochen und
auch spontane Fragen zugelassen. Einmal stand ich nur etwa anderthalb Meter von
Fischer entfernt. Ich habe ein Foto machen können, auf dem sein Gesicht ganz
groß zu sehen ist. Ich hätte ihn auch anfassen können, aber warum sollte ich das
tun. Er war kein Halbgott für mich. Ein genialer Schachspieler, ja, ansonsten
jedoch ein merkwürdiger, sehr einsamer Mann.
Mit wem hast Du Deine interessantesten Interviews gemacht?
Mit Boris
Spasski. Er antwortet immer sehr originell und hat ganz viel Humor, auch wenn es
ihm gesundheitlich nicht besonders geht. Sehr gute Gesprächspartner waren und
sind auch Andrej Lilienthal, Wassili Smyslow, Wolfgang Uhlmann, Anatoli Karpow,
Artur Jussupow, Wladimir Kramnik oder Peter Leko.
Besuch bei Andor Lilienthal
Im Flugzeug nach Elista, mit Wassily Smylow und Gattin
Interview mit Kramnik
Und das verrückteste Gespräch…?
Nicht zu
toppen ist in dieser Beziehung ein Interview aus dem Jahre 1996, das ich in
Paris mit Kirsan Iljumschinow führte. Der FIDE-Chef wollte damals allen Ernstes
das WM-Finale Karpow-Kamsky in Bagdad unter der Schirmherrschaft von Saddam
Hussein durchführen! Ich fragte ihn, ob er dem Teufel seine Seele verkaufen
möchte. Seine Antwort: „Ich wollte den Skandal, um auf Schach aufmerksam zu
machen.“ Zum Glück wurde nichts aus der Sache, die Amerikaner hätten Kamsky den
Aufenthalt im Irak nicht erlaubt. Man landete schließlich … in Elista.
Du hast jetzt vielleicht mehr Zeit zum Verfassen von
Schachbüchern. Was können wir in naher Zukunft erwarten?
Gerade habe ich
mit dem Dortmunder Jerzy Konikowski ein Manuskript mit dem Titel „Von
Schachgiganten lernen“ beendet. In dem Buch, das im Sommer im Beyer Verlag
erscheint, werden die Karrieren der stärksten Spieler der Gegenwart von Anand
bis Carlsen sowie ihre besten Partien vorgestellt. Artur Jussupow hat auch ein
Kapitel dazu beigesteuert.
Zu
Deinem 60. Geburtstag hast Du in einem Interview gesagt, dass Du mal
Schlagzeuger in einer Rockgruppe warst.
Das stimmt. Es war im thüringischen Kahla bei Jena. Die Stadt ist durch ihr
Porzellan und die Leuchtenburg bekannt. Wir nannten uns "Die Hirten", weil mein
Bruder Schäfer von Beruf war. Er ist dann später ins Musikgeschäft eingestiegen,
war etliche Jahre Tonmeister bei Karat, bei Veronika Fischer und anderen
bekannten Bands. Er hat auch selbst komponiert und Schallplatten gemacht. Wir
sind etwas musikalisch, unsere ganze Familie, denn der Vater war Geigenbauer.
Daher die Liebe zur Musik. Als die Beatles aufkamen, legten wir die Geige
beiseite und griffen lieber zur Gitarre. Vor einigen Monaten, als Paul McCartney
in Berlin gastierte, war ich natürlich in dem Konzert.
Du spielst ja auch selbst Schach. Deine größten Erfolge?
Ach du meine Güte! Die sind mehr als bescheiden. Beim 3.
Kurt-Richter-Gedenkturnier 1983 in Berlin-Marzahn war ich geteilter Zweiter.
Peter Welz gewann. Da sind mir einige schöne Partien gelungen. Zum Glück muss
ich ja mit Schach nicht SPIELEND mein Geld verdienen. Das ginge gar nicht.
Mit Miguel Najdorf, 1996
Aber
Du warst auch Journalistenmeister.
Ja, richtig. Das hätte ich fast vergessen. Ich wurde zweimal Journalistenmeister
in Berlin, 1983 und 1987. In Königs Wusterhausen habe ich auch mal ein kleines
DDR-offenes Turnier gewonnen. In meinem Verein, SC Rochade, wurde ich einmal
Pokalsieger. Aber das sind doch alles Peanuts.
2008 gab es in Dresden die Schacholympiade. Warst du damals beim Deutschen
Schachbund fest angestellt?!
Fest angestellt? Nein, wie kommst du darauf? Es gab eine Bitte von DSB-Präsident
Robert von Weizsäcker, Schach mehr in die Printmedien zu bringen. Das habe ich
auch getan, und es gab eine Aufwandsentschädigung dafür, mehr nicht. Durch eine
Indiskretion haben mich dann Leute, die mir noch nie gesonnen waren, öffentlich
vehement angegriffen. Sie hätten wohl den Job selbst gern bekommen. Nach der
Olympiade war die Sache dann erledigt, und ich hatte wieder meine Ruhe. Ich habe
dann innerhalb weniger Wochen auch das Olympiabuch gemacht. Es war eine ganz
schöne Plage, weil dort viele hineingeredet haben, die von der Materie keine
Ahnung hatten. Frag meinen engagierten Lektor und Schachfreund Dr. Herbert
Mayer, der könnte dir Geschichten erzählen. Aber das ist alles Historie. Das
Buch ist letztlich ganz gut geworden und hat Anklang gefunden. Das ist die
Hauptsache.
Dein Spanienurlaub steht jetzt erst einmal an. Welche
Schachturniere besuchst Du als nächstes?
In Dortmund, bei den Schachtagen vom 21. bis 31. Juli, bin ich wieder dabei. Das
Feld in diesem Jahr ist sehr interessant: Kramnik als Seriensieger, aber nicht
die Dauergäste Leko und Naiditsch. Dafür Titelverteidiger Ponomarjow, der
Aeroflot Opensieger und Vorjahreszweite Le Quang Liem aus Vietnam, dazu Nakamura
und Giri - eine ganz interessante Mischung aus Erfahrung und Jugend. Von
deutscher Seite nimmt Georg Meier erstmalig teil. Das ist mein nächstes größeres
Projekt.
Und Turniere im Ausland?
Im Moment steht nichts an, es gibt ja viele Traditionsturniere nicht mehr. Sonst
wäre ich im Sommer natürlich auch wieder nach Mainz gefahren. Ich bin aber
gespannt, wohin die nächste Weltmeisterschaft vergeben wird. Die FIDE hat ja
London leider sausen lassen. Man konnte sich nicht einigen, was ich sehr
bedaure. London ist eine Weltstadt und wäre ein attraktiver Spielort gewesen im
nächsten Jahr. Der finanzielle Background war sicher vorhanden. 2012 sind
Olympische Sommerspiele in London, und zusätzliche Gelder wären mit Sicherheit
geflossen. Aus irgendeinem Grund hat die FIDE den fast fertigen
Ausrichtervertrag abgelehnt. Ich vermute, dass sich einige Funktionäre wieder
mal die Taschen füllen wollten und London da nicht mitgespielt hat.
Eine andere Frage an den Kenner der internationalen
Schachszene. Was ist mit den Russen los? Warum haben sie ihre führende Rolle im
Weltschach fast gänzlich eingebüßt?
Die Antwort
darauf ist nicht einfach. Aber ich denke, dass die Hauptursache in den
politischen Veränderungen zu suchen ist. Diese führten dazu, dass die Russen
ihre frühere Vormachtstellung verloren haben. Nach dem Zerfall der UdSSR gab es
bei ihnen so etwas wie eine Stunde null. Das ist ungefähr so, als wenn die USA
von heute auf morgen 20 Bundesstaaten verlieren würden. Welches Land, und sei es
noch so riesig, kann das denn ohne weiteres verkraften?
Jede
ehemalige Sowjetrepublik schickte auf einmal ihre eigenen Spieler zu
Schacholympiaden. Usbekistan holte 1992 in Manila Silber - unglaublich! Die
Ukraine und Armenien waren in den letzten Jahren je zweimal Olympiasieger.
Russland kam bei den Männern in Turin und Dresden nicht mal in die
Medaillenränge. Den Einzelweltmeister 2005 stellte Bulgarien, und seit 2007
sitzt mit Vishy Anand ein Inder auf dem Thron.
Sind es nur die politischen Veränderungen gewesen?
Vor allem,
aber sicher nicht allein. Andere Länder, besonders in Asien - wenn wir nur an
China und Indien denken - haben mächtig aufgeholt und sind in der Weltspitze
angekommen. Ich habe mich mit Karpow 2006 in Mexiko lange über dieses Thema
unterhalten. Wir fuhren an einem turnierfreien Tag zu den Pyramiden in der Nähe
von Mexiko-City, und er sagte damals: „Nach dem Zerfall der Sowjetunion kriselte
unser Schach. Wir haben viele Jahre verloren, was
das Trainingssystem und die Wettbewerbe für junge Talente angeht.
Das Interesse am Schach in der
russischen Bevölkerung ist nach wie vor riesig, aber im Spitzensport fehlt eine
richtige Konzeption. Dazu gibt es auch noch Kompetenzgerangel.“
Ein trauriger Höhepunkt dessen war ja die Besetzung des Zentralen
Schachklubs in Moskau im Mai 2010…
Das war
Ausdruck erbitterter Matchkämpfe im russischen Verband, wo man sich einfach
nicht auf einen Kandidaten (Iljumschinow oder Karpow) für die Wahlen zum
FIDE-Präsidenten einigen konnte. Das alles war auch nicht förderlich für den
Spitzensport. Mit Wladimir Kramnik ist vor ein paar Tagen der letzte
Botwinnik-Schüler aus dem laufenden WM-Kandidatenturnier ausgeschieden. Michail
Moisejewitsch wäre ganz sicher sehr zornig gewesen, wenn er noch erlebt hätte,
dass sein Schützling in zwei Partien schon nach acht bzw. 16 Zügen Remis gemacht
hat. So kann man natürlich nicht wieder Weltmeister werden. Ich werde Wladimir
in Dortmund fragen, was ihn in Kasan gehindert hat, so engagiert wie in
jüngeren Jahren zu spielen.
Letzte Frage: Wie siehst du denn heute die Arbeit des Deutschen
Schachbundes?
Ganz sicher
gibt es sehr viele engagierte Funktionäre, deren Tätigkeit zu würdigen ist. Aber
es wurde nicht geschafft, den Schwung der WM 2008 in Bonn und der Olympiade in
Dresden zu nutzen. An einem Tag wie heute mag ich nichts mehr über die Fehler
mit der Herren-Nationalmannschaft bei der Olympiade 2010 sagen. Die
Schachöffentlichkeit hierzulande, aber auch die Verbände unserer europäischen
Nachbarstaaten (kleinere als wir, denen es ökonomisch viel schlechter geht)
haben das nicht verstanden. Viele fragten mich, wie es möglich ist, dass eine so
wohlhabende Nation wie Deutschland nicht ihre besten Schachspieler zu einer
Olympiade schicken kann. Ich hatte keine gute Antwort darauf.
Vielen Dank für das Gespräch, Dagobert!