Das
Interview erschien in der Tageszeitung "Neues Deutschland".
Nachdruck
mit freundlicher Genehmigung
Interview mit Anne Sharevich
Kompromisslos auf Sieg
Dreimal hat sie schon die Damenmeisterschaft von Belarus (Weißrussland)
gewonnen: die 23-jährige ANNA SHAREVICH (23) aus dem weißrussischen Brest.
Die Frauengroßmeisterin, die bei der 4. Internationalen ND-Schnellschachgala
am 26.11.2009 in Berlin die schärfste Konkurrentin der Titelverteidigerin
und für Slowenien spielenden WGM Anna Muzychuk (19) aus der Ukraine sein
wird, beantwortet die Fragen von CHESSBASE-Autor DR. RENÉ GRALLA.
DR. RENÉ GRALLA: Haben Sie noch Ihren Kater, der „Chess“ heißt?
ANNA SHAREVICH: Der ist leider im vergangenen Frühjahr gestorben. An seine
Stelle getreten ist jetzt „Archi“, genannt nach dem schottischen
Schriftsteller Archibald Joseph Cronin.
DR. R.GRALLA: Cronin ist vor allem bekannt geworden durch seinen 1935
erschienenen sozialkritischen Bergarbeiterroman „Die Sterne blicken herab“.
Und wie sieht es mit Schach aus? Liebt auch „Archi“ das königliche Spiel, so
wie Vorgänger „Chess“?
ANNA SHAREVICH: Das ist doch normal. Wir sind eine Schachfamilie, und wie
Sie wissen, gleichen sich die Tiere ihren Besitzern an. Alle Bewohner dieses
Hauses lieben Schach!
DR. R.GRALLA: Haben Ihre beiden Brüder am Brett eine Chance gegen Sie?
ANNA SHAREVICH: Sie sind schwächer als ich, aber nicht schlecht.
DR. R.GRALLA: Schach haben Sie von Ihrem Vater gelernt. Trainieren Sie noch
immer mit ihm?
ANNA SHAREVICH: Ja, er ist bis heute mein Coach. Er kennt wie kein zweiter
alle kritischen Augenblicke während einer Partie, und gleichzeitig ist er
vertraut mit meinem persönlichen Stil.
DR. R.GRALLA: Viele junge Spitzensportlerinnen im Schach kommen aus
osteuropäischen Nationen, so wie Sie aus Weißrussland und Anna Muzychuk aus
der Ukraine. Können Sie uns das erklären?
ANNA SHAREVICH: Die Länder der ehemaligen Sowjetunion haben ausgezeichnete
Schachschulen aufgebaut, außerdem sind unsere Trainer sehr konsequent und
dulden keine Halbheiten. Und die Frauen hier haben stets ein klares
sportliches Ziel vor Augen – sie wollen gewinnen! Die Mädchen in Westeuropa
sind eher auf einen gut bezahlten Job fixiert.
DR. R.GRALLA: Woher dieses Interesse am Schach unter jungen Frauen in
Osteuropa?
ANNA SHAREVICH: Erfolge im Sport – und dazu zählen wir nun mal ohne
Einschränkung auch Schach! – bringen dir Respekt ein, und Medaillengewinne
sind einfach super. Und Sport gilt als legitime Berufswahl, selbst wenn die
Bezahlung leider nicht immer gut ist.
DR. R.GRALLA: Mädchen, die nicht von einer Modelkarriere träumen, sondern
Großmeisterinnen werden möchten, und die lieber komisch geformte Figuren hin
und her schieben, anstatt in die Disco zu gehen: Ist das nicht seltsam?
ANNA SHAREVICH: Natürlich haben die Teenys bei uns ähnliche Träume wie
überall auf der Welt: Ruhm und Erfolg, als Popstar gefeiert zu werden.
Trotzdem ist auch Schach eine echte Option. Wobei es allerdings gleichzeitig
sinnvoll wäre, nicht total auf das Spiel zu setzen, sondern sich neben
Schach auch andere Möglichkeiten offen zu halten. Falls du irgendwann merken
solltest, dass du sportlich an Deine Grenzen stößt.
DR. R.GRALLA: Die meisten jungen Frauen in Westeuropa haben bloß MTV und
Castingshows im Kopf, finden Schach langweilig. Warum ticken die
Osteuropäerinnen anders?
ANNA SHAREVICH: Das ist eben eine grundsätzlich andere Haltung, sich
sportlichen Herausforderungen generell – und nicht allein bezogen auf Schach
– zu stellen. Du musst wirklich hart arbeiten, um im Sport etwas zu
erreichen. Popstarfantasien von Prominenz und Geld sind da viel bequemer.
DR. R.GRALLA: Und Sie? Sind Sie ausschließlich Schachprofi? Oder basteln Sie
parallel an einer Ausbildung?
ANNA SHAREVICH: Ich stehe kurz vor meinem Diplom als Sportlehrerin.
DR. R.GRALLA: Mit Blick auf die bevorstehende ND-Damenschachgala: Wie
schätzen Sie Ihre Chancen ein?
ANNA SHAREVICH: Du musst immer versuchen, dein Bestes zu geben.
DR. R.GRALLA: Favoritin ist die Vorjahressiegerin Anna Muzychuk. Können Sie
die für Slowenien startende Ukrainerin schlagen?
ANNA SHAREVICH: Nichts ist unmöglich.