Kasparov und 30 Jahre Computerschach

von Frederic Friedel
09.06.2015 – Am 6. Juni 1985 kam der 22-jährige Garry Kasparov nach Hamburg, um ein Vorbereitungsmatch für seinen zweiten WM-Kampf gegen Anatoly Karpov zu spielen. Dabei gab er dem SPIEGEL ein bemerkenswertes Interview und spielte ein Simultan gegen 32 der damals stärksten Schachcomputer. Für einen Rückblick hat der Ex-Weltmeister eine dieser Partien kommentiert. Mehr...

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Garry Kasparov und 30 Jahre Computerschach

Von Frederic Friedel

1984 spielte Garry Kasparov gegen Anatoly Karpov seinen ersten WM-Kampf. Remispartien zählten dabei nicht, Sieger sollte sein, wer zuerst sechs Partien gewann. Nach neun Partien lag Kasparov mit 0-4 im Rückstand, danach folgte eine Serie von 17 Remispartien. Dann verlor Kasparov die 27. Partie und stand so kurz vor einer 0-6 Niederlage, gegen die er sich mit einer weiteren Remisserie und einem Sieg in der 32. Partie wehrte. Nach 14 weiteren Remispartien gewann Kasparov die Partien 47 und 48 und verkürzte seinen Rückstand auf 3-5. Dann brach FIDE-Präsident Florencio Campomanes den Wettkampf ohne Endergebnis ab und verkündete, dass in sechs Monaten ein neuer Wettkampf gespielt werden würde. Der Wettkampfabbruch war umstritten und Kasparov sprach sich auf einer Pressekonferenz der FIDE am 15. Februar vehement dagegen aus.

1985, vor Beginn des zweiten Wettkampfs, lud Der SPIEGEL, Europas größtes und einflussreichstes Nachrichtenmagazin Kasparov zu einem großen Interview ein – und zu einem WM-Vorbereitungskampf gegen Deutschlands Nummer eins, GM Robert Hübner. Das Interview war eine Sensation – offen, mutig, geradeheraus - das hatten wir von einem Sowjetbürger noch nie gesehen. Ich  freue mich, dass dieses Interview immer noch online verfügbar ist.

Ich war bei der Organisation der Spiegel-Aktivitäten rund um den Besuch Kasparovs dabei und sah das Cover, das für diese Ausgabe des Spiegels vorbereitet worden war. Ein atemberaubendes Bild des jungen Schachgenies – ich habe nur ein Schwarz-Weiß-Foto (oben links). Doch unmittelbar vor Redaktionsschluss der Ausgabe kam es in Belgien zu einer Fußballkatastrophe und der Kasparov-Titel wurde zugunsten einer anderen Titelgeschichte ("Krieg im Stadium") fallengelassen.

Die obigen Fotos sind während der Vorbereitung auf den Wettkampf gegen Hübner entstanden. Im oberen Bild sehen wir Boris Spassky, der dem deutschen Großmeister sekundiert hat; Robert Hübner; Horst Metzing, Schiedsrichter und Geschäftsführer des Deutschen Schachbunds; und den 22-jährigen WM-Herausforderer Garry Kasparov. Im unteren Bild rechts sieht man Werner Harenberg, leitender Redakteur beim Spiegel, der die gesamte Veranstaltung organisiert hat. Harenberg war mir ein großartiger Mentor, der letztes Jahr leider verstorben ist.

Neben dem Wettkampf gegen Hübner, den Kasparov 4½-1½ gewann, nahm er an einer Reihe anderer Aktivitäten teil, so spielte er ein Blindsimultan an zehn Brettern und einen bemerkenswerten Simultanwettkampf gegen 32 Computer. Zusammen mit Harenberg und anderen Kollegen vom Spiegel besuchte er mich auch in meiner Wohnung in einem Hamburger Vorort. Im Bild oben sieht man wie ich (ganz rechts) ihm ein paar Programme auf einem BBC Acorn Computer zeige und ihm mit dem  Wort "Datenbank" vertraut mache, das mit seiner tatkräftigen Unterstützung bald zu einem wichtigen Instrument des Schachstudiums werden sollte. (Diese Geschichte wurde an anderer Stelle erzählt und muss nicht wiederholt werden).

In dieser Geschichte geht es um das Computer-Simultan. Damals waren die stärksten elektronischen Entitäten, die Schach spielten, nur für das Schach gemachte Schachcomputer, die von vier führenden Herstellern produziert wurden: Novag und Scisys in Hongkong, Hegener & Glaser in Deutschland und Fidelity in den USA. Diese vier Unternehmen schickten ihre Topmodelle für das Simultan gegen Kasparov nach Hamburg.

Frederic Friedel, Garry Kasparov, Werner Harenberg

Ich half dabei, das Simultan zu organisieren und als Computerschachexperte hatte ich dabei überhaupt kein gutes Gefühl. Ich warnte Garry, dass der Unterschied zu einem normalen Simultan der sein würde, dass seine Gegner in keiner Phase die geringsten Zeichen der Ermüdung zeigen würden, nie aufgeben und jede Partie mit aller Kraft bis zum Matt spielen würden.

Vorbereitung vor Beginn des Computersimultan an 32 Brettern

Wenn Garry ans Brett kam, mussten die Bediener der Computer einen Zug ausführen. Hinten sieht man den damaligen Hamburger Nachwuchs: Matthias Wahls (im blauen Hemd), Markus von Wantoch und Alexander von Gleich.

Das Interesse war groß – Schachcomputer waren neu und aufregend.
Bedient werden die Computer hier von Thomas Kastek (vorne) und Anja Dahlgrün.

Der Zuschauer im blau-weiß gestreiften Hemd ist GM Helmut Pfleger, einer der Kibitze,
hinter ihm steht der Hamburger Spieler Christoph Schröder.

An einem Brett hatte Garry Probleme, die er selbst so beschrieb:

Irgendwann erkannte ich, dass ich in einer Partie gegen eins der "Kasparov"-Modelle allmählich in Schwierigkeiten kam. Sollte diese Maschine einen Sieg oder auch nur ein Remis erzielen, dann wären die Leute schnell mit der Behauptung bei der Hand, ich hätte die Partie absichtlich verloren, um Werbung für den Hersteller zu machen, also musste ich mich noch mehr anstrengen. Schließlich fand ich eine Möglichkeit, die Maschine zu "bluffen" und zwar mit einem dubiosen Opfer, das jeder moderne Computer im Bruchteil einer Sekunde widerlegen würde. Aber in der (für mich) guten alten Zeit des Computerschachs und dank meiner damaligen jugendlichen Agilität war ich immer schnell genug am Brett und konnte die Maschine mit einem Mattangriff terrorisieren.

Die Partie, über die er spricht, ist die erste, die man im Nachspielbrett unten sieht. Garry hat sie kommentiert und zusätzlich ein paar weitere Partien ausgewählt, die er besonders interessant fand. Man konnte die Spannung spüren, die er fühlte, als er sich die alten Partien anschaute (wann hat man Garry je kichern gehört?). "Wow, ich habe die ganze Zeit angegriffen, in jeder Partie. Was für eine Energie!" Nun, Garry, du warst damals 22.

Ausgewählte Partien

 

Damals haben wir vor allem Schwarz-Weiß-Fotos gemacht - diese Bilder sind Scans der Abzüge.
Rechts: Enrique Guzman

Garry vs Mephisto: links hinter dem Desktop-Computer sieht man den Programmierer Richard Lang
(Mesphisto, Chess Genius), in der Mitte hinter Kasparov sitzt Ed Schroeder (Rebel)

Hier sind die jetzt historischen Partien, die vor 30 Jahren gespielt wurden. Das heißt zu einer Zeit, als die Eltern mancher Großmeister von heute noch Kinder waren. Es ist interessant, die Partien durchzugehen und zu versuchen, die Fortschritte zu begreifen, die die Schachprogrammierung in den letzten drei Jahrzehnten gemacht hat.

Alle Partien vom Computersimultan 1985

 

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Chefredakteur der englischen ChessBase-Seite. Hat in Hamburg und in Oxford Philosophie und Linguistik studiert und sein Studium mit einer Arbeit über Sprechakttheorie und Moralsprache abgeschlossen. Eine Karriere an der Universität gab er auf, um Wissenschaftsjournalist zu werden und Dokumentationen für das deutsche Fernsehen zu produzieren. Er ist einer der Mitbegründer von ChessBase.

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